Zähmen, Ziehen, Züchten - Zur Rhetorik von Peter Sloterdijks Regeln für den Menschenpark
"Die Philosophen haben den Gesellschaften nur verschieden
geschmeichelt; es kommt darauf an, sie zu provozieren." (1)
1.
Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus (2) - Mit Vokabeln wie "Anthropotechnik“, "Menschenproduktion", "pränatale Selektion", "Menschenzucht“ konnte Peter Sloterdijk im Sommer 1999 eine kontroverse Debatte über die Chancen und Risiken der Gentechnik entfachen, die das deutsche Feuilleton wochenlang beschäftigte. DIE ZEIT, DER SPIEGEL, FRANKFURTER RUNDSCHAU, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG bis hin zum MERKUR stellten Spalten und Seiten zur Verfügung, Jürgen Habermas, Manfred Frank, Ernst Tugendhat, Robert Spaemann und andere Experten zwischen Wissenschaft und Publizistik bis hin zu Karl Heinz Bohrer (3) meldeten sich zu Wort. Unterwegs auf Vortragsreisen scheint der Karlsruher Ästhetik-Professor in seinem Element. Nicht zufällig sind Sloterdijks Regeln für den Menschenpark aus zwei Vorträgen entstanden: einem ersten vom Juli 1997 in Basel vor gemischtem Publikum, der ohne massenmediale Wirkungen blieb, und einem weiteren vom Juli 1999 in Elmau in Oberbayern. Erst dieser zweite Vortrag auf einer internationalen Fachtagung über Heidegger und Lévinas hat in den Wochen und Monaten danach die sogenannte Sloterdijk-Debatte ausgelöst, die noch vor Jahresende zum Sonderdruck der Regeln für den Menschenpark in Sloterdijks angestammtem Suhrkamp-Verlag und zur Dokumentation der Debatte durch die Wochenzeitschrift DIE ZEIT führte. Mein Beitrag ist weniger an einer inhaltlichen oder chronologischen Dokumentation dieser Debatte interessiert als vielmehr an Sloterdijks radikaler Rhetorik, die sich selber allem Anschein nach als "neues" Denken, als „neue“ Philosophie ausgibt. Auch die Antwort auf die Frage, warum gerade Sloterdijks Elmauer Rede in den einschlägigen Medien des kulturellen Wortes eine Debatte als öffentliche auslösen konnte, die fachlich-sachlich, wenn auch diskreter in der Scientific Community und in Ethikkommissionen längst geführt wurde, soll in Sloterdijks extremistischer Rede selbst gesucht werden. Schon im heißen Herbst der Debatte wurde gelegentlich reflexiv angemerkt, daß die Bedeutung von Sloterdijks Menschenpark-Rede nicht etwa in der Idee der "Menschenzüchtung" liege, sondern in ihrer "massenmedialen Funktion" (4). Für Sloterdijks vorgeblich "neue" Philosophie, wie sie sich wort-, bild- und metaphernreich besonders in seiner großangelegten "Sphärologie" der "Blasen", "Globen" und "Schäume" (5) als "neue" Erzählung der Menschheitsgeschichte ausspricht, scheint mir insgesamt zu gelten: Ernst und Analyse verdient diese "geschwätzige" Philosophie weniger als „neue“ Philosophie denn vielmehr als „neue“ Rhetorik. Im großen Stil betreibt Sloterdijk seine metaphorische Reanthropologisierung der Geschichte, indem er nicht über Bilder und Metaphern spricht, sondern nachgerade durch sie: Bild und Rhetorik ersetzen Begriff und Analyse. Sein Diskursverfahren läuft so genau der "Metaphorologie" (6) von Hans Blumenberg entgegengesetzt, die im begriffsgeschichtlichen Kontext Aufklärung über Bilder und Metaphern, d.h. die in ihnen kristallisierten Substrukturen des Denkens, zumindest anstrebt. Folglich geht es in meiner Untersuchung von Sloterdijks Regeln für den Menschenpark auch weniger um die inhaltliche Aussage, die sich zum präskriptiven Satz zuspitzen läßt: Weil der Humanismus als Projekt der „Menschenzähmung“ durch Erziehung versagt hat, soll man fortan die gentechnischen Möglichkeiten der „Menschenzüchtung“ aktiv aufgreifen. Sloterdijk selbst hat in einer defensiven "Nachbemerkung" von einem zum öffentlichen Dokument gewordenen "unabgeschlossenen Essay" (S.57) gesprochen und dessen "Präskriptionen" kategorial zu "Fragesätzen" umzudeuten versucht, aus denen erst "einzelne Publizisten Präskriptionen gemacht" (S.60) hätten. Im Fokus meiner Untersuchung der Regeln für den Menschenpark steht der Wortstreit um Menschenbilder, den Sloterdijks Rhetorik im eklektischen Bestimmungs- und Erlösungshorizont eines wahrhaft surrealistischen Nebeneinanders von antiker Maieutik, New Age-Rebirthing und futuristischer Gen-Technologie anzetteln konnte. Die erlesenen Plato-, Nietzsche- und Heidegger-Zitate, die den philologischen Schein alt-humanistischer Buchgelehrsamkeit inszenieren, dürfen nicht täuschen. Indem Sloterdijk im gegenwärtigen (Wort- und Bilder-) Streit um den Menschen vergangene Philosophen und Philosopheme in den imaginären Zeugenstand ruft, um sie für sich sprechen zu lassen, zeigen sich sein "neues" Denken, Reden, Schreiben gerade nicht als Philosophie, sondern als postmodern generalisierte Rhetorik: souveräne "Provokationsübungen" Aug' in Aug' mit der "totalitären Mitte" (7), die nach Sloterdijks heroischer (Selbst-) Einschätzung auch die "Kulturkämpfe" über die Legitimität und Herkunft von Unterschieden überhaupt in unserer "sozialdemokratischen Ära, in der wir als Bürger ohne Alternative leben"(8), beherrscht. Rhetorik in kalkuliert "massenmedialer Funktion" also - oder auch, wie Bohrer über das "Phänomen Sloterdijk" als intellektuelle Mode am Rande von akademischem Hörsaal, Presse-Büro und Fernseh-Studio befindet: „Mythologie, nicht Philosophie“ (9).
2.
Ausgangspunkt der Regeln für den Menschenpark ist die medientheoretisch gestützte Annahme, daß angesichts der indirekten Bildungsgewalt der neuen Medien und der zunehmenden Ubiquität der globalen Telekommunikation die Ära des neuzeitlichen Humanismus als Schul- und Bildungsmodell abgelaufen ist. Sloterdijks Prämisse lautet: „moderne Großgesellschaften können ihre politische und kulturelle Synthesis nur noch marginal über literarische, briefliche, humanistische Medien produzieren.“ (S.14) Kommunikations- und Medientheorien haben in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts die aus der hohen Zeit (1789-1945) der "lesefreudigen Nationalhumanismen" (S.12) überlieferten Vorstellungen von Brief und Buch als Leitmedien der Schriftkultur erschüttert, indem sie die Aufmerksamkeit sowohl auf die kulturanthropologische Materialität der Kommunikation als auch auf die technologische Empirizität der Medien lenkten. Vor allem Marshall McLuhan, "der größte Mediendenker des 20.Jahrhunderts" (10), ist mit seinen Büchern The Gutenberg Galaxy (1962) und Understanding Media (1964) Sloterdijks prophetischer Gewährsmann: Das humanistische Leitbild vom aufgeschlagenen Buch unter dem gesenkten Kopf des einsamen Lesers verblaßt im Licht von McLuhans Medienutopie, die das Ende der "Gutenberg Galaxy" im "Global Village" prognostiziert. Durch sukzessive Vernetzung des Globus sollen demnach nicht nur Zeit und Raum, sondern auch humanistischer Individualismus und Nationalismus verschwinden, allesamt Erscheinungsformen der Buchdruck-Kultur und ihrer atomisierten westlichen Zivilisation, die Sloterdijk mit McLuhan "am Ende" wähnt. Die globalisierte Massengesellschaft ist "entschieden post-literarisch, post-epistolographisch und folglich post-humanistisch" (S.14). Tatsächlich hat sich durch lokale und globale Computervernetzung in den neunziger Jahren der multifunktionale Medienverbund des Internet konstituiert, als dessen medientheoretische und kulturanthropologische Tendenzen je nach Interessenstandorten gefeiert, kritisiert oder auch nur konstatiert werden: von der Schrift zum Bild, vom Buch zum Bildschirm, von Semantik und Symbol zu Emergenz und Zahl. Nicht zufällig sucht Sloterdijks "trilogische" Raum-Bilder-Geschichte der Menschheit unter dem Titel Sphären die "wahre Geschichte" der Globalisierung als "Makrosphärologie" der "Globen" zu erzählen: "von der Geometrisierung des Himmels bei Platon und Aristoteles bis zur Umrundung der letzten Kugel, der Erde, durch Schiffe, Kapitale und Signale" (11). Wie die "metaphysische Globalisierung" (12) der antiken Physik nach rund zweitausend Jahren in der "terrestrischen Globalisierung" (13) der Neuzeit scheitert, so diese ( wie schon bei McLuhan die "Gutenberg Galaxy"! ) wiederum nach gerade fünfhundert Jahren in jener dritten "virtuellen Globalisierung" durch "Global Village" und Internet, als deren "amorphologische" Metaphern in Sloterdijks Sphären III angekündigt werden: "Schäume, Haufen, Schwämme, Wolken und Wirbel" (14). Sloterdijks Auffassung vom Humanismus, der in der "polysphärischen Welt" der heutigen Massengesellschaften als Schul- und Bildungsmodell ausgedient hat, geht jedoch nicht in der von McLuhan und der Medientheorie verabschiedeten Buchdruck-Kultur der Gutenberg-Galaxie auf. Zwar bestimmt er zu Beginn seiner Regeln für den Menschenpark Wesen und Funktion des Humanismus als "freundschaftstiftende Telekommunikation im Medium der Schrift" (S.7); doch nur, um dahinter als latentes Thema und Programm "die Entwilderung des Menschen" aufzuspüren: "Richtige Lektüre macht zahm." (S.17) Von den Tagen der Römer über den frühneuzeitlichen Reformationshumanismus bis in die Ära der modernen bürgerlichen Nationalstaaten mit ihren Erziehungs- und Bildungsanstalten faßt Sloterdijk Wort und Sache des Humanismus als "ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei" (S.16). Was die gebildeten Römer "humanitas" nannten, war schon gegen den rohen Militarismus im Felde und die blutigen Spiele in Arenen und Amphitheatern gerichtet. "Humanismus" versteht Sloterdijk als Etikett für das Ringen um den Menschen "angesichts seiner biologischen Offenheit und seiner moralischen Ambivalenz" (S.19), das sich zwischen bestialisierenden und domestizierenden Beeinflussungen bzw. "Medien" vollzieht.
3.
Sloterdijks Regeln für den Menschenpark sind im Untertitel als "Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus" ausgewiesen, den dieser im Herbst des Jahres 1946 zunächst an Jean Beaufret in Paris gerichtet hatte. Heideggers Kritik des Humanismus hatte diesen als Doppelagenten in der unheilvollen Aufrüstungsgeschichte der menschlichen Subjektivität dekuvriert und die Richtung einer über alle humanistischen Erziehungsziele hinausweisenden Askese der Besinnung gewiesen. Sloterdijks fiktives "Antwortschreiben" von 1999 radikalisiert Heideggers Humanismuskritik von 1946 dahingehend, daß er die herrschende Tradition des abendländischen Menschenbildes unwiderruflich verabschieden möchte. Sloterdijk entgeht nicht, daß Heideggers Askese der Besinnung, indem sie vom Menschen als dem Hirten des Seins spricht, sich im europäischen Motivkreis der Pastorale und Idylle ansiedelt: "Ek-sistenz" heißt vom Sein selbst angesprochen sein, zu seiner Hütung bestellt sein. Sloterdijk bemüht sich denn auch, den guten Hirten als metaphorische Leitfigur ins rechte Licht seiner Heidegger-Anknüpfung zu stellen. Die ekstatische Lichtung, wo sich Heideggers Hirte vom Sein ansprechen läßt: die Sprache als das Haus des Seins, bestimmt ihn als häuslich seßhaften, agrarischen Hirten. Ihm konfrontiert Sloterdijk die archaischere Figur des nomadischen Hirten, der für das von Heidegger ignorierte "Heraustreten des Menschen in die Lichtung" (S.32) steht. Gleichzeitig verschiebt Sloterdijk die Akzente von der "häuslichen" Ekstase des In-der-Welt-Seins zum "ekstatischen Zur-Welt-Kommen", von der Ontologie zur Anthropologie, genauer zur Anthropogenese : "Wenn der Mensch in-der-Welt ist, dann weil er einer Bewegung gehört, die ihn zur Welt bringt und ihn der Welt aussetzt. Er ist das Produkt einer Hyper-Geburt, die aus dem Säugling einen Weltling macht." (S.34) Weil der Mensch als Tier schon im Säugling gescheitert ist, muß sein Zur Welt-Kommen als "Weltling" schon früh die Züge eines "Zur-Sprache-Kommens" und "Ins-Bild-Kommens" annehmen, denen Sloterdijks opus maximum der Sphären phylogenetisch und ontogenetisch nachspürt. (15) Heideggers "ontologische Hirtenspiele" (S.31), das Sein zu hüten und dem Sein zu entsprechen, mögen ihm durch ihre existenzialistische Poesie anachronistisch erscheinen, Sloterdijk übernimmt doch aus ihnen die epochale Fragestellung: "Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende geführt haben?" (S.31 f.) Was für Heidegger die Erfahrung von Weltkrieg und Kampf um Weltherrschaft zwischen Faschismus, Bolschewismus und Amerikanismus gewesen sein mag, ist für Sloterdijk die gegenwärtige Wahrnehmung einer ungeheuren Wiederkehr von römischer Arena und Circus-Spielen in den Massenmedien einer ebenso global agierenden wie bestialisierenden Unterhaltungsindustrie. Die enthemmte wie enthemmende Vergnügungskultur der heutigen Massen zeigt Sloterdijk, daß der Humanismus als Projekt der Domestikation der Bestie Mensch, d.h. der „Menschenzähmung“ durch Erziehung, versagt hat. Sloterdijk ruft das Scheitern aller bisherigen Programme und Experimente einer Erziehung des Menschengeschlechts aus, um im Gegenzug zu seiner eigentlichen, augenzwinkernd nur noch rhetorisch gemeinten Frage vorzustoßen: "Oder läßt sich die Frage nach der Hegung und Formung der Menschen im Rahmen bloßer Zähmungs- und Erziehungstheorien gar nicht mehr auf kompetente Weise stellen?“ (S.32)
4.
Indem Heidegger die "Lichtung" aus Bildern und Metaphern der gesicherten Häuslichkeit des agrarischen Hirten herleitet, macht sich seine Humanismuskritik in sturer Blindheit selber einer anachronistischen Verharmlosung des "Zur-Welt-Kommens" bzw. der Menschwerdung schuldig. Für Sloterdijk bleibt sie im Festhalten der Leitidee der Domestikation des Menschen in der europäischen Tradition der Repräsentationen des Idyllischen und Pastoralen befangen. Die kulturanthropologische Aufmerksamkeit für die aus Europa verdrängte Figur des nomadischen Hirten sowie die epistemologische Aufwertung des nomadischen Denkens durch Deleuze/Guattari ("Mille Plateaux"), Lévi-Strauss ("La Pensée sauvage") und den französischen Poststrukturalismus allgemein dienen Sloterdijk als epistemologische Wegweiser ins Freie. Ihnen folgt die transzendentale Richtung seines eigenen Denkens, die ihn - und den aufmerksamen Leser und Hörer mit ihm - vom Interieur primitiver Symbiosen zum Exterieur welthistorischer Taten geleitet. Hannelore Schlaffer hat in Sloterdijks obsessiver, theoretischer Wiederholung der - männlichen - Anthropogenese aus dem Mutterschoß in die weite Welt hinaus ein - erfolgversprechendes - "Erlösungsmodell" (16) für die urgeschichtlichen Traumata von Geburt und Trennung erkennen können. Nicht zufällig erzählt seine Sphärentheorie die Menschheitsgeschichte als heroische "Extraversionsgeschichte", die in der Intimität dualer "Blasen" ihren Ausgang nimmt, um dann zu imperialen "Globen" und schließlich ins Außen polysphärischer, amorphologischer "Schäume" vorzustoßen. Indem Sloterdijk die Weltgeschichte metaphorisch zur "Liebesgeschichte" umschreibt, wo "Philosophie und Pornographie" sich vereinigen, erfüllt er in der Tat den "Typus des Gurus auf dem Lehrstuhl" (17). Bei der Selbstbefreiung aus der noch bei Heidegger anrüchigen, dumpfen Häuslichkeit des abendländischen Denkhorizontes kommt er jedoch nicht ohne die Hilfe dessen aus, den er den "Meister des gefährlichen Denkens" (S.37) nennt. Erst Nietzsches Denken eines - poststrukturalistisch dann bezeichneten - Außen erlaubt Sloterdijk wahrzunehmen, daß die "Lichtung" des "Zur-Welt-Kommens" des Menschen, das sein "Zur-Sprache-Kommen" und "Ins-Bild-Kommen" einschließt, zugleich "ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion" (S.37) ist. Im dritten Teil von Also sprach Zarathustra entdeckt Sloterdijk hinter der pastoralen Domestikation des Menschen durch moralische Lektionen die Zukunftsperspektive der Menschenzucht durch Selektion. Die "Verhaustierung des Menschen", die im Zarathustra ironisch als Züchtungserfolg der Menschen am Menschen herausgestellt wird, konnte nicht nur mit humanistischen Mitteln: Zähmen, Abrichten, Erziehen geschehen. Sloterdijk sieht darin Nietzsches theoretischen Diskurs über den Menschen als zähmende und züchtende Gewalt verborgen, der den Blick in die richtige Richtung, auf die „Lichtung“ als Kampfplatz der Entscheidung zwischen „Kleinzüchtern und Großzüchtern des Menschen“, zwischen Humanisten und typusverändernden „Superhumanisten“, "Menschenfreunden und Übermenschenfreunden" (S.40) freigibt. Mit Nietzsches Zarathustra an bzw. in der Hand zieht Sloterdijk zu jener Kampfplatz-"Lichtung" an Humanismus und Heidegger vorbei, läßt beide entschieden hinter sich: „Mit der These vom Menschen als Züchter des Menschen wird der humanistische Horizont gesprengt, sofern der Humanismus niemals weiter denken kann und darf als bis zur Zähmungs- und Erziehungsfrage: Der Humanist läßt sich den Menschen vorgeben und wendet dann auf ihn seine zähmenden, dressierenden, bildenden Mittel an - überzeugt, wie er ist, vom notwendigen Zusammenhang zwischen Lesen, Sitzen und Besänftigen.“ (S.39) Nach dem Versagen des Humanismus kann die Biologie des Menschen nicht mehr sich selbst bzw. einer humanistisch hypostasierten, theologischen oder anthropologischen "Natur" überlassen bleiben, kann der Mensch nicht mehr als gegeben bzw. vorgegeben betrachtet werden. Die Frage von Mensch und Humanismus ist über Heidegger hinaus nicht mehr kontemplativ zu bewältigen, verlangt vielmehr das Pathos der Entscheidung und den Kairos des gezielten Eingriffs. Am Horizont der menschlichen Evolution entziffert Sloterdijk die Signatur des kommenden anthropotechnischen Zeitalters darin, daß der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt, genauer: die „Selektionsmacht“ bei der souveränen Zuchtwahl, darstellt. Statt auf „Gott oder den Zufall oder die Anderen“ zu hoffen, bleibt nur übrig, die gentechnischen Möglichkeiten aktiv aufzugreifen und einen „Codex der Anthropotechniken“ (S.45) zu formulieren. Mit prophetischem Pathos beschreibt Sloterdijk denn auch den gegenwärtigen Stand der Dinge, der nach einer menschheitsgeschichtlich beispiellosen Entscheidung verlange: „Auch in der Gegenwartskultur vollzieht sich der Titanenkampf zwischen den zähmenden und bestialisierenden Impulsen und ihren jeweiligen Medien. Schon größere Zähmungserfolge wären Überraschungen angesichts eines Zivilisationsprozesses, in dem eine beispiellose Enthemmungswelle anscheinend unaufhaltsam rollt. Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.“ (S.46 f.) Sloterdijks Pathos der Erweckung und Entscheidung, das diese Sätze rhetorisch trägt, widerspricht ihrer grammatikalischen Frageform, die in der Lebenswelt wie in der Wissenschaft gewöhnlich Antwort und besseres Wissen beim Angesprochenen unterstellt. Doch alle Fragen sind für den Propheten, dessen Fundamentalismus per definitionem weiter sieht als die im Profanen befangene Wahrnehmung seiner Mitmenschen, je immer schon nur rhetorische Fragen. Dem Propheten halbiert sich die Menschheit entsprechend seiner dualistischen Diskurstheorie und -praxis in die Wenigen, die zur - notwendig elitären - Gemeinde der "Erleuchteten" gehören, und in die Vielen Allzuvielen, welche die Masse der "Ungläubigen" ausmachen, denen Augen und Ohren verstopft sind. Wer also zur Gemeinde des Propheten gehören will, muß immer schon ins geheime Wissen eingeweiht scheinen, und zwar egal, ob er wirklich weiß oder solches nur vorgibt. In der Hypnose des andächtigen Starrens auf jenen "evolutionären Horizont" in der Ferne muß er "die Lichtung" zumindest ahnen, auch wenn es dort nichts oder weniger als nichts zu sehen gäbe. Wenn jener "evolutionäre Horizont", von dem Sloterdijk in einem buchstäblich und metaphorisch spricht, auch beginnen mag, sich vor ihm "zu lichten", so doch nicht "vor uns", sofern wir eben nicht seiner Gemeinde angehören. Was "uns" bleibt, ist die äußerlich sichtbare, d.h. eben rhetorische Gebärde, mit deren - geborgter - Pathosformel er ihn uns zu zeigen sucht.
5.
Wer sucht der findet - Zeugen nämlich für die eigene noble Sache im Wortstreit um Menschenbilder, den Sloterdijk zum Kulturkampf der Gegenwart zwischen "high and low culture" hochstilisiert. Mag sein, daß diese Zeugen heute nur noch eine gespenstische Bibliotheksexistenz fristen. Gleichviel, nicht nur bei Nietzsche, auch beim "alten" Plato entdeckt Sloterdijk einen gefährlichen Sinn für gefährliche Themen: "die aktuelle Ungleichheit der Menschen vor dem Wissen, das Macht gibt" (S.49). Solche Ungleichheit trifft den blinden Fleck aller sozialdemokratischen Politik und Pädagogik. Platos Dialog Politikos liest Sloterdijk als Urkunde einer unerhörten europäischen Pastoralpolitologie, aus der er einen Diskurs über Menschenhütung und Menschenzucht extrapoliert. „Was sich als Nachdenken über Politik präsentiert, ist in Wahrheit eine Grundlagenreflexion über Regeln für den Betrieb von Menschenparks.“ (S.48) Von Plato borgt sich Sloterdijk die Lizenz, von der Menschengemeinschaft in Polis, Stadt und Staat zu sprechen (bereits im Titel!) wie von einem zoologischen Park, in dem die "Menschenhaltung" als "eine zoopolitische Aufgabe" (S.48) erscheint. Weil bei Plato eine Optimierung des Menschen durch das Ziehen und Züchten von urbildnäheren Menschenexemplaren beabsichtigt sei, muß zwischen der Population und der Direktion, "zwischen Zooleitern und Zoobewohnern eine spezifische Differenz" (S.49) herrschen. Für das souveräne Amt der Direktion aus Einsicht kommt bei Plato strenggenommen nur der Weise als Staatsmann in Frage. Für den eingeweihten modernen Leser, der einerseits auf das humanistische Gymnasium der Bürgerzeit sowie die faschistische Eugenik des Dritten Reiches zurückblickt, andererseits schon erwartungsvoll ins biotechnologische Zeitalter vorausschaut, deutet Sloterdijk pro domo et mundo am "evolutionären Horizont" der Menschheit die heutige Parallele zu Platos Weisem an: "Die Aufgabe dieses Über-Humanisten wäre keine andere als die Eigenschaftsplanung bei einer Elite, die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muß." (S.54) Platos Regeln für die Politik als „Stadt-Hirtenkunst“ taugen zum elitären Modell, wie Gentechnik als Biopolitik geregelt werden könnte. Auch nach 2500 Jahren, nach dem Aussterben von Göttern und Weisen, leuchtet Sloterdijk an jenem "evolutionären Horizont" der Menschheit der übermenschliche Glanz eines von Plato verheißenen, „züchterischen Königswissens" (S.52) ein und heim: ein außerordentliches Expertenwissen, das im divinatorischen Glauben an die eigene Einsicht zur Führungsmacht aus Einsicht verführt. Gleichzeitig weiß Sloterdijk, daß jede "spezifische Differenz" zwischen dem erleuchteten Weisen und der profanen Menge seit gut zweihundert Jahren in Europa und Nordamerika durch Aufklärung und Anthropologie ausgelöscht worden ist. Der bürgerliche Diskurs über die gleiche Geburt und das angeborene Recht aller ebnet sukzessive alle "anthropologischen Differenzen" (18) ein, stürzt alle vertikalen, d.h. substantiellen Unterschiede, um nur noch horizontale, d.h. funktionale Unterscheidungen im demokratischen Raum anzuerkennen. Nicht nur die einst unantastbaren, substantiellen Differenzen zwischen Gott und Mensch, zwischen Heiligem und Profanem werden als nur noch selbstfabrizierte, soziale Konstrukte vielfältig interpretiert und kritisiert, auch vor dem Weisen, dem Urbild des elitären Philosophen, macht der szientistische Egalitarismus nicht Halt. Die Figur des Intellektuellen, die Sloterdijk seit seiner Kritik der zynischen Vernunft - ein umfangreiches Epitaph auf den Intellektuellen - zunehmend verachtet und bekämpft, nimmt seinen Platz der demokratisierten Masse gegenüber ein, um "das Konzept des evidenzbasierten, souverän machenden, positiven Wissens überhaupt" (19) zu Fall zu bringen. Demokratie soll allenthalben Vorrang haben, auch vor Wissen und Weisheit! Doch gerade damit handelt sich die egalitäre Gesellschaft nach Sloterdijks neuer Kulturkampftheorie ihr eigenstes Problem ein: "Wie die religiöse Metaphysik von der Frage beunruhigt wurde, woher das Böse stamme, so die säkulare Gesellschaft von der Frage, woher sie ihre Unterschiede nehmen soll." (20)
6.
Unter dem Titel Der operable Mensch hat sich Sloterdijk während einer Vortragsreise in den USA im Mai 2000 mit der ethischen Situation der Gen-Technologie auseinandergesetzt, um allzu anstößige Ambivalenzen und Zweideutigkeiten seiner im Denk- und Bildraum von Heidegger, Nietzsche und Plato gewonnenen Regeln für den Menschenpark auszuräumen, die die deutsche Debatte im Herbst 1999 zutage gefördert hatte. Dem wiederholten Vorwurf, seinen Menschenzüchtungsphantasien mangele es gänzlich an ethischen und moralischen Bedenken, begegnet er mit dem Argument, daß dem modernen Denken keine Ethik gelingen könne, solange ihm seine Logik und seine Ontologie unklar bleiben. Aufklärung hierüber ist weder bei humanistischer Selbstreflexion noch bei kritischer Theorie zu haben, die je nur das imaginäre Feld von Subjekt und Person bearbeiten. Sie sollte vielmehr bei der Kybernetik als Theorie und Praxis intelligenter, Information verarbeitender Maschinen und bei der modernen Biologie eingeholt werden, die ihrerseits System-Umwelt-Einheiten erforscht. Indem dort das Konzept objektiver Geist zu dem Prinzip Information gewandelt erscheint, tritt zwischen Gedanke und Sache als tertium datur informierte Materie, die in Autopoiesis-Systemen die philosophische Unterscheidung zwischen Natur und Kultur hinfällig macht. Durch solcherart Anleihen bei Kybernetik und Systemtheorie suchen Sloterdijks Überlegungen zu einem veränderten Technik-Begriff nachträglich zu suggerieren, was schon in den Regeln für den Menschenpark unter „Anthropotechnik“ intendiert gewesen sein soll: „Auf der Stufe des Satzes ‚es gibt Information‘ verliert das alte Bild von Technik als Heteronomie und Versklavung von Materien und Personen seine Plausibilität. Wir werden Zeugen dessen, daß mit den intelligenten Technologien eine nicht-herrische Form von Operativität im Entstehen ist, für die wir den Namen Homöotechnik vorschlagen.“ (21) Solcher „Homöotechnik“ traut Sloterdijk zu, zugleich eine profunde Transformation des philosophischen Selbst zu bewirken. Nach Maßgabe des "operablen Menschen", der seinerseits einem Klon gleich an den strukturalistischen "bricoleur" erinnert, zieht sie ein verfeinertes, spielfreudiges Subjekt heran, das sich allererst an komplexen Kontexten formt. Vom Subjekt zu System und Spiel: Die Subjektkritik von Poststrukturalismus und Systemtheorie hat bei Sloterdijks Skizze der veränderten Technik-Vorstellung sichtlich Geburtshilfe geleistet. Während das durch herkömmliche Technik bestimmte dualistische Weltbild einer unterdrückten Objekt-Knecht-Rohmaterial-Seite die herrschende Subjekt-Herr-Arbeiter-Seite gegenüber stellte, zeichnet sich nach Sloterdijk die vernetzte, inter-intelligent verdichtete Welt des homöotechnischen Zeitalters dadurch aus, daß sie vielfältige, experimentelle Kooperation und spielerischen Umgang mit Komplexitäten fördere. Zu kurz gegriffen wäre wohl, Sloterdijks optimistischen Entwurf einer "nicht-herrischen Form" von Anthropotechnik unter dem ökologischen Warenzeichen "Homöotechnik" schlicht als Anbiederung an die Macher in Gen-Technologie und Mikroelektronik zu disqualifizieren. Eher trägt er Züge einer Flucht nach vorn, um sich dort Zuspruch und Argumente zu holen, wo nicht nur die neue Praxis sich mehr oder weniger selbst reguliert, sondern wohin auch kein - deutscher - Schatten faschistischer Eugenik fällt. In der Tat kann sich Sloterdijk auf - amerikanische - Genforscher und ihr Umfeld berufen, die ethische Bedenken im Verein mit Technologie-Feindlichkeit nicht nur als zeitraubend, sondern als gefährlich zurückweisen. Rückzug von den Möglichkeiten des technisch Machbaren gleiche einer unverantwortlichen Feigheit vor dem Unbekannten. Schließlich ist nicht nur die Gentechnik von der Ethik her zu beurteilen; vielmehr sind auch die herrschenden Moralvorstellungen dort zu hinterfragen, wo sie die Gentechnik ablehnen. Kein Genforscher, sondern der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin hat dieses Argument formuliert und in die Sloterdijk-Debatte eingeworfen. Unter dem Titel "Die falsche Angst, Gott zu spielen" gibt er zu bedenken: „Es ist jedoch unklar, was es eigentlich bedeutet, ‚Gott zu spielen‘, und was daran falsch sein soll.“ (22) Was Dworkins analytische Skepsis in der Tradition des angelsächsischen Empirismus durchaus pragmatisch versteht, nimmt bei Sloterdijk in der Konjunktion von "Anthropotechnik" und "Lichtung" fundamentalistische Züge an: Die Angst vor den Risiken, zwischen Zufall (der Geburt) und freier (Zucht-) Wahl die Grenze zu verschieben, welche im Dualismus von Natur und Kultur die ethischen Wertmaßstäbe des abendländischen Menschenbildes bestimmt, muß im heroischen Blick auf den "evolutionären Horizont" der Menschheit ausgestanden werden.
7.
„Aber wenn die Gesellschaft sich entdifferenziert, im Skandal, in der Affäre, dann springt die Arenafunktion auf die Massenmedien über, die bei der Menschenjagd auch im Realen bekanntlich nicht zimperlich sind.“ (23) Die Arena als Medium der antiken Massenkultur sieht Sloterdijk nicht nur in den Sportarenen und in den Unterhaltungsmedien der Gegenwart, sondern auch im neurömischen Feuilletonzirkus wiedergekehrt. Nicht die Boulevard-Presse, die Pop-Stars, Sportler, Schauspieler, Politiker ins Bild nimmt, ohne von Intellektuellen Notiz zu nehmen, sondern seriöse Blätter nimmt Sloterdijk seinerseits kritisch ins Visier: DER SPIEGEL, DIE ZEIT und andere, in denen nicht zuletzt im Sommer und Herbst 1999 die sogenannte Sloterdijk-Debatte ausgetragen wurde. Die öffentliche Empörung, die seine Elmauer Rede im Wortstreit um Menschenbilder auslöste, kann er als spektakuläre Bestätigung seiner Medien-Schelte deuten. In seinem jüngsten "Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft" kann man die Intention erkennen, massenpsychologische Schlüsse auch aus dem eigenen Medien-Fall zu gewinnen: "Blickt man auf die Entwicklung des modernen mépris und sein gelegentliches Aufblitzen in philosophischen, publizistischen und poetischen Reden zusammenfassend zurück, so ist unverkennbar, daß die generalisierten Kämpfe um Anerkennung die mobilisierten Massengesellschaften in permanente Prozesse wilder Gruppendynamik verstricken."(24) Weil Verachtung im egalitären Zeitalter der Massen stets gedoppelt, nämlich von "oben" und von "unten" als verachtende und verachtete Verachtung in Erscheinung tritt, ohne daß sie sich auf eine verläßliche Hierarchie oder einen autorisierten Schiedsspruch berufen könnte, scheinen die Kurswerte von Konsens, Moderation und Katharsis in den Diskurskämpfen der Gegenwart auf ihren denkbar tiefsten Stand gefallen. Markt, Zirkus und Arena sind die Raummetaphern, die Sloterdijk dem Schauplatz solcher Diskurskämpfe zuweist. Bescheidenheit mag einst eine Zier gewesen sein, heute kommt man weiter ohne sie: Sich selbst teilt er dort die Hauptrolle eines - deutschen - Vorkämpfers "neuer Aufklärungsspiele" zu, der für "eine neue Generation von Öffentlichkeitstechnikern, von Provokationstherapeuten, von politischen Künstlern der Konfrontation und des Ausgleichs" (25) einsteht. Wo sozialdemokratisches Mittelmaß und intoleranter Durchschnitt herrschen, ist Mut zur Differenz gefragt, wo egalitäre Einheitskultur vorrückt, soll für "Kultur in dem normativen Sinn" (26) gestritten werden. Herausforderungen, im defensiven wie aggressiven Sinne, liefern Themen. Als Leser von Carl Schmitt weiß Sloterdijk, daß "souverän" in der modernen Politik nur ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Für den heutigen "Provokationstherapeuten" heißt das aber: „Souverän ist, wer über das neue Thema entscheidet.“ (27) Auch Themen bilden eine Börse und werden nach dem Prinzip des freien Marktes wie Wertpapiere gehandelt. Die Themen-Börse als Schauplatz und paradoxe Institution des permanenten Ausnahmezustandes? - so könnte man sich - und Sloterdijk - fragen. Gerade der freie Aktienmarkt kann angesichts immer neuer, immer unberechenbarer Kursschwankungen heute als privilegierter Ort des Glücksspiels und Inbegriff unverfügbarer, kontingenter Wirklichkeit gelten. "Die Börse als Metapher?" - so hat Gumbrecht schon 1997 gefragt und daran erinnert, daß früher die Quellen der Kontingenz, egal ob Gott, Schicksal oder Fortuna, "regelmäßig in den Himmel oder in andere Räume der Transzendenz projiziert" (28) wurden. Wer hingegen unter heutigen Bedingungen der - durch Niklas Luhmanns Systemtheorie beispielhaft beschriebenen - Weltkontingenz nicht lediglich unter ein paar vordiktierten Möglichkeiten wählen, sondern selber souverän entscheiden will, erkennt - paradox genug - nur die Macht des Zufalls als ebenbürtigen Mit- und Gegenspieler an: den Ausnahmezustand eben oder den Kairos der günstigen Gelegenheit. Dessen integrale Transzendenz-Metapher aber ist gerade der "freie" Aktienmarkt. Sloterdijk wußte wohl, was seinen Kritikern im heißen Herbst 1999 vielleicht weniger bewußt war: Die kulturelle Themen-Börse als selbstregulativer Auswahlmechanismus, nicht das Volk noch das Parlament, nicht die Presse noch die Medien, entscheidet über Konjunktur und Kurswert des einen oder des anderen Themas. Dies trifft auf die moralische Empörungsware der Kritiker, die im Namen der verletzten Norm den Skandal ausrufen und zur "Menschenjagd" blasen, ebenso zu wie auf die ästhetische Faszinationsware der intellektuellen Gurus und kreativen Trendsetter, die "neue" Themen und Diskurse erst in Umlauf bzw. in Mode bringen. Das Zuviel der Informationen auf dem heutigen Medienmarkt macht Aufmerksamkeit im Gegenzug zur äußerst knappen Ressource, um deren Verteilung gekämpft werden will. Im allgemeinen Wettbewerb um Aufmerksamkeit brauchen die Diskurskämpfer weder Polemik noch Mißverständnisse zu scheuen, müssen jedoch den Wiedererkennungswert ihres Themas und ihres Diskurses beachten. Lieber eine schlechte Kritik als gar keine Kritik, so lautet nicht umsonst ein Grundsatz des Feuilletons. Selbst böse Kritiker können gerade als solche zu guten Mitspielern bzw. nützlichen Idioten beim Steigern des Kurswertes des eigenen Themas und Diskurses werden. Als "Provokationstherapeut", der sich auch als "Theorieperformer und massentherapeutischer Rhetor" (29) auf den "größten Mediendenker" McLuhan bezieht, bekennt sich Sloterdijk gleichzeitig zur intransitiven Schriftsteller-Rede, die Narzissmus fürs Publikum auf der Ebene der Zeichen produziert. „Lügen kann jeder“ (30) - so spricht in Elias Canettis frühem Roman „Die Blendung“ die wahnwitzig gewordene Weisheit des Volksmunds durch den der habgierigen Haushälterin Therese Krumbholz zum hochgelehrten Professor Dr. Kien - und danach sich herausreden. Plato gelang es einst, die im damaligen Athen vorherrschende Schule der Sophisten als Lügner zu verleumden, um die Philosophie vor der Rhetorik zur ersten antiken Bildungsmacht im Abendland zu machen. Trotz der Menschenpark-Anleihen beim elitären Philosophen von Wahrheit und Urbild ist Sloterdijks metaphorischer Diskurs nicht Philosophie, sondern Rhetorik, die zudem Pathos mit Ethos verwechselt. In der rhetorischen Tradition ist "Pathos" den Hörern bzw. der Wirkung der Rede auf sie zugeordnet, nicht unmittelbar den Rednern selbst, die ihrerseits im Versuch des Überzeugens und Überredens "Ethos" leitet. Verfehltes, damit hohles Pathos ist die größte Gefahr für die Redner: sie sind verzückt, nur ihr Publikum nicht. In der Sloterdijk-Debatte finden sich in bedenkenswerter Verkehrung "Ethos" und Ethik auf der Seite der Kritiker, denen umgekehrt Sloterdijks Pathos unvermittelt gegenübersteht. Ein kaltes Pathos außerdem, das im blicklosen Auge der eigenen Bilderwirbel und Wortschäume vor allem an den eigenen Wiedererkennungswert an der deutschen (und internationalen) Themen- und Titel-Börse denkt.
Anmerkungen: