Über einige anthropologische Motive bei Walter Benjamin
In den Aufzeichnungen und Materialien zum Passagen-Werk trifft der Leser auf ein „Konvolut P“, das den Titel „Anthropologischer Materialismus, Sektengeschichte“[1] trägt. Auffällig mögen ihm darin zunächst Zitate und Anmerkungen zu den Pariser Physiologien der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts erscheinen, die durch Balzac und seine Roman-Figuren literarische Berühmtheit erlangten. Neben weniger bekannten Namen – Toussenel, Ganeau, Démar – und sozialen Gruppierungen – den Vésuviennes oder den Sekten des Fusionismus – stößt der Leser aber auch auf die berühmten frühsozialistischen Utopien von Saint-Simon und Charles Fourier, die Benjamins Interesse an der kollektiven Ausrichtung des französischen „anthropologischen Materialismus“ zur Zeit der industriellen Revolution bezeugen: Dessen „materialistische“ Wahrnehmung der Welt, die überall den polaren Kräften von Anziehung und Abstoßung sowie den energetischen Strömen und Sinnen nachspürt, wendet diesen Pandynamismus auch auf den anthropos, den Menschen selbst an.
Demgegenüber erscheint ein vergleichbarer „anthropologischer Materialismus“ in Deutschland (etwa bei Jean Paul, Georg Büchner) im Schatten des philosophischen Idealismus eher auf das Individuum und seine Psychologie konzentriert. Die deutsche Philosophiegeschichte bezieht den Begriff “anthropologischer Materialismus“ [2] denn auch im Kontext von Junghegelianismus und Vormärz vor allem auf Ludwig Feuerbach, um so eine Gegenströmung zum historisch-dialektischen Materialismus zu bezeichnen, der mit Marx und Engels in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts dominant wurde. Weit entfernt, nur eine bestimmte Denktradition französischer und deutscher Autoren des 19.Jahrhunderts zur Zeit der Industrialisierung historisch bezeichnen zu wollen, erscheint „anthropologischer Materialismus“ bei Walter Benjamin als Paradigma im Fokus einer aktualisierenden Verwendung. Der Schlußteil des zuerst in der Literarischen Welt publizierten Essays Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz führt 1929 den Terminus „anthropologischer Materialismus“ in einem erweiterten Sinne ein, um für die deutsche Leserschaft eine verborgene Genealogie des Surrealismus namhaft zu machen: Johann Peter Hebel, Georg Büchner, Friedrich Nietzsche, Arthur Rimbaud hätten mit den Surrealisten die „profane“ Intention auf „die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung“[3] gemein.
Will man nun bei Benjamin selbst von „anthropologischem Materialismus“ sprechen, so kann man mit größtem Gewinn zweifellos die Anfang 1933 kurz vor der Flucht ins Exil mit programmatischem Anspruch skizzierte Lehre vom Ähnlichen bzw. ihre Monate später auf Ibiza hergestellte zweite Fassung Über das mimetische Vermögen[4] heranziehen. Dazu gehört auch das Sammelreferat über Probleme der Sprachsoziologie[5], das im Herbst 1934 als Auftragsarbeit entstand und 1935 in der Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung veröffentlicht wurde. Diese spätere anthropologische Sprachphilosophie Benjamins hat jedoch noch kaum vermocht, aus dem theologischen Schatten der gefeierten frühen Theorien zur Sprachmagie herauszutreten. Auch deshalb gilt im Anschluß an Bolz und van Reijen nach wie vor der Befund, daß der anthropologische Kernbestand seiner späteren Erkenntnis- und Sprachtheorie „von der Kritischen Theorie nicht rezipiert worden und deshalb noch nicht deutlich genug ins Bewußtsein der Nachwelt getreten“[6] ist. Das Zurücktreten der leidigen Frage „Messianismus oder Materialismus?“[7], welche die Rezeptionsgeschichte Benjamins zwischen Theologie, Judentum, Marxismus und Materialismus bis in die 1980er Jahre bestimmte, kann endlich den Blick auf Anthropologisches in seinen Schriften freigeben. Was es nun mit dem Paradigma „anthropologischer Materialismus“ bei Benjamin selbst auf sich hat, soll nachfolgend gezeigt werden, indem einige zentrale anthropologische Motive in Benjamins Denken und Schreiben aufgesucht und befragt werden: „Name“, „Erinnern“, „Lesen“, „Mimesis“, „Mythos“, „Aktualität“ und „Technik“.
Walter Benjamins berühmte Thesen über den Begriff der Geschichte aus dem Todesjahr 1940 zeigen das „nihilistische“ Ausmaß seiner Illusionslosigkeit über den (Kriegs-)Zustand des Zeitalters wie auch die „messianische“ Hoffnung, deutlicher vielleicht: die „barbarische“ Entschiedenheit seines rückhaltlosen Bekenntnisses zu ihm: „Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‚noch’ möglich sind“(I/2, S.697), kritisierte er als geschichtsblinde weil fortschrittsgläubige Naivität eines gestrigen Historismus, der die Gegenwart des 20.Jahrhunderts nicht als „Jetztzeit“ wahrnehmen konnte. Seit der gesamteuropäischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs galt ihm die Konjunktion von Nationalismus, Faschismus, Technik, Krieg und „Vernichtung“(I/2, S.508) als aktuelle Gefahr; ihre historischen Ursprünge im 19.Jahrhundert wollte seine Urgeschichte der Moderne aufdecken, von der heute vor allem die in den 1930er Jahren zusammengetragenen „Archive“[8] der Passagen-Arbeit zeugen.
Benjamins Widerstand gegen Nationalismus, Faschismus, Krieg und hochtechnische Vernichtung blieb weitgehend wirkungslos, war er doch zu Lebzeiten, vor allem während der 1930er Jahre im Pariser Exil, nur einem sehr begrenzten Kreis von Freunden und Lesern bekannt. Erst posthum und Jahre nach den weiteren Katastrophen des Zweiten Weltkrieges wurden die meisten seiner Werke gedruckt: Die Mitte der 1960er Jahre auf breiter Front einsetzende Rezeption hat Benjamin bis heute zu einem der international bekanntesten Theoretiker des 20.Jahrhunderts werden lassen. Schöttkers Ausgangsthesen mögen überspitzt formuliert sein, ihren argumentativen Gehalt wird man nicht bestreiten können: „Benjamins Werk ist deshalb nur als rezeptionsgeschichtliches Phänomen zu verstehen. Die Rezeption schließt hier nicht an das Werk an, sondern stellt es im Prozeß der Wirkungsgeschichte her.“[9] Der textuelle Zustand seines Werkes, das gedankliche Potential seiner Schriften, die Originalität seiner Arbeitsgebiete und nicht zuletzt die zur Legendenbildung reizenden Umstände seines Lebens und Sterbens haben zusammen dazu geführt, daß Benjamins Name durch multiple Adaptionen mit vielfältigen aktuellen Debatten verknüpft werden konnte. „Benjamins Gedächtnis“[10] scheint durch anhaltenden Nachruhm bestimmt, von dem nicht zuletzt auch die 2008 begonnene „Kritische Gesamtausgabe“[11] zeugt, die nach dem Editionsplan 21 Bände umfassen und schon 2018 abgeschlossen vorliegen soll. Diese „posthume Präsenz“[12] gibt sich genauer betrachtet als symbolische Repräsentanz zu erkennen: Benjamins Eigenname wird von seiner Referenz auf die Person mehr und mehr entbunden, um zum strategischen Zeichen in aktuellen Diskurskämpfen zu taugen. „Benjamin“ als Name wird in dem Maße symbolisch besetzbar und also in variablen Kontexten einsetzbar, indem er sich von demjenigen Menschen entfernt, der ihn einst trug und dem er einst „gehörte“. Benjamins „posthume Präsenz“ und symbolische Repräsentanz sind – das lehren Rezeptionsgeschichte und Rezeptionstheorie - durch die Entfernung von der individuellen Person und die Enteignung des Eigennamens erkauft.
Benjamin gehört nun allerdings selbst zu den Namen, auf die sich neben Vertretern von Formalismus, Strukturalismus, „New Criticism“, Phänomenologie und Hermeneutik die heutige Rezeptionsästhetik gerne beruft. Als Literaturkritiker arbeitete er besonders in den 1920er Jahren daran, die geisteswissenschaftliche Fixierung auf die Produktion des Werks zugunsten der Aufmerksamkeit für seine Vor- und Nachgeschichte aufzubrechen. Anders als der nachträglichen Literaturgeschichte der Werke und Autoren ging es ihm darum, den jeweiligen Ort des Werkes in den historischen Strudeln der literarischen Tradition zu bestimmen. Kaum ein Wunder deshalb, daß Benjamin auch ein sehr bewußtes Verhältnis zum eigenen Namen zeigte, das dabei Vor- und Nachgeschichte in die Reflexion einbezog. In einer autobiographischen Skizze vom 12./13.August 1934 hat er sich den rätselhaften Namen „Agesilaus Santander“(VI, S.520ff.) zugewiesen, während er in einer Notiz seines Passagen-Archivs wiederum nur noch die Initialen „W.B.“ zur Selbstbezeichnung verwendet, indem er über den eigenen Namen nachdenkt: „Bin ich der, der W.B. heißt, oder heiße ich bloß W.B.? Das sind zwei Seiten einer Medaille, aber die zweite ist abgegriffen, die erste hat Stempelglanz. Die erste Fassung macht es einsichtig, daß der Name Gegenstand einer Mimesis ist. Freilich ist es deren besondere Natur, sich nicht am Kommenden, sondern immer nur am Gewesnen, das will sagen: am Gelebten, zu zeigen. Der Habitus eines gelebten Lebens: das ist es, was der Name aufbewahrt aber auch vorzeichnet.“ (V/2, S.1038) Der Eigenname, indem er auf einzigartige Weise die anthropologische Bindung des Individuums an die Sprache verkörpert, ist gerade dadurch auch der Ausweis, daß das Verhältnis zum eigenen unverfügbaren Selbst wesentlich durch Sprache vermittelt ist. Die mimetische Beziehung zum eigenen Namen scheint zuerst auf Vergangenheit aus, um Gedächtnis und Erinnerung zu eröffnen: Es ist die Erinnerungskraft des Namens, welche die Konjunktion von Gegenwart und Vergangenheit stiftet. Zugleich aber stellt der Eigenname immer schon die sprachliche Form bereit, in der das Individuum überlebt, indem der Name den Namensträger überlebt. Die älteste Form der dauerhaften Verbindung von Sprache und Tod bzw. Überleben ist nicht zufällig die Grabinschrift, die im Epigramm ein literarisches Nachleben feiert. Das Zusammentreffen des Überlebens des Namens mit der Aufgabe der Identität des Namenträgers erscheint schon zu Lebzeiten – durchaus im Anschluß an Benjamins Aufgabe des Übersetzers - als Anfang und Ausgang von Schrift und Text, denen die Trauerarbeit der zerstreuten Namen „nach Babel“ aufgegeben ist. Benjamins Initialen „W.B.“ zeigen an, daß (Eigen-) Namen der Sprache angehören, ohne ihr zu gehören. Indem der überlebende Name als Spur ohne Sein die Gegensätze von Leben und Tod, Anwesenheit und Abwesenheit aufhebt, verweist er die in ihm vermeintlich garantierte Identität und Individualität ans „Gewesne“ und „Gelebte“ zurück. Immer schon vor dem Ableben des Namensträgers und dem Nachleben im Namen wird das Gedächtnis zur Aufgabe, die das im „Habitus eines gelebten Lebens“ zerstreute und unverfügbare Selbst angeht.
Ausgraben und Erinnern[13] heißt ein kurzer Prosatext Benjamins aus der Sammlung Denkbilder, dessen erste, kürzere Fassung sich als methodische Reflexion des eigenen exzentrischen Autobiographie-Projekts, das die Berliner Kindheit um neunzehnhundert werden sollte, in der Berliner Chronik von 1932 findet. „Erinnern“ wird als archäologisches Verfahren beschrieben, dessen „Schauplatz“(VI, S.486) das „Gedächtnis“ ist: „Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangenen ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.“ (IV/1, S.400) Benjamin bricht entschieden mit den metaphysischen und rationalistischen Lehren von Präsenz und Vergegenwärtigung des Vergangenen. Das menschliche „Gedächtnis“ ist kein Speicher, kein vorhandener Containerraum, in dem Vergangenheit aufbewahrt wäre oder aufbewahrt werden könnte. Es ist auch kein „Instrument“, kein Organon, das einen zweckorientierten Bezug von Gegenwart und Vergangenheit bewußt, damit äußerlich herstellte. Es ist vielmehr „das Medium des Erlebten“, eine abgeschiedene, zu erforschende Region, wo sich Erinnern und Vergessen, je ineinander verdichtet, verschoben, entstellt, zerstreut, Schicht um Schicht überlagern. Nicht interessierte Erzählung und Geschichtsschreibung, vielmehr interesseloses „Ausgraben“ deckt im Gedächtnis, indem es diesen Ab-Ort zum „Schauplatz“ macht, das dort verschüttete Vergangene auf: Das Vergangene taucht niemals so auf, „wie es eigentlich gewesen ist“, vielmehr eben verschoben, entstellt, zerstreut, zerstört, gerade darum jedoch aufbewahrt und gerettet.
Benjamins Übertragung des archäologischen Modells auf das Erinnern wird gestützt von Überlegungen Freuds zum Gegensatz von Bewußtsein und Gedächtnis: Aus der primären Bestimmung des Bewußtseins als „Reizschutz“ und der Annahme, „das Bewußtsein entstehe an der Stelle der Erinnerungsspur“, wird in Jenseits des Lustprinzips die Behauptung abgeleitet, „daß Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur“[14] für dasselbe psychische System unvereinbar seien. Die Aufgabe von Benjamins „Archäologie“ ist es, Bruchstücke der „unbewußten“, verschütteten Vergangenheit aus den Schichten des Vergessens ans Licht des Bewußtseins zu heben. Nicht das Bewußtsein selbst aber, vielmehr das Gedächtnis, auf dem das Bewußtsein als Oberfläche gegen die Außenwelt nur aufruht, ist das „Medium“ der Überlieferung, das „die Bilder“ birgt, um derentwillen „sich die Grabung lohnt“: „Die Bilder nämlich, welche, losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht - wie Torsi in der Galerie des Sammlers - stehen.“(IV/1, S.400)
Einem aufmerksamen Leser kann nicht entgehen, daß in Benjamins Schriften weniger Begriffe und ihre Deduktionen als vielmehr mimetische Darstellungen von Namen, Ideen und Bildern das Textgeflecht verknüpfen. Die frühen Modelle von „Idee“ und „Name“, die seine physiognomische Theorie und Praxis von Sprache und Sprachmagie bestimmen, und die späteren von „Bild“ und „Dialektik im Stillstand“, welche die Sprache seiner Urgeschichte der Moderne organisieren, kommen ohne vorab finalisierte Erkenntnis aus. „Wahrheit“ existiert für den Menschen nur als inkognitives „Sein“ im Medium der Sprache, welches keinem „Haben“ oder instrumentellen Verfügen zugänglich ist. Sprache im Sinne des „anthropologischen Materialismus“ kann keineswegs auf phonische Sprache reduziert werden, sondern schließt auch „stumme“, d.h. gerade spezifisch expressive Körpersprache ein. Menschliche Gestik und Mimik, aber auch menschlicher Schreib-Duktus und Lebens-Habitus verdienen komplementäre Aufmerksamkeit. Kreatürliche Mimesis unterläuft die Zwänge des Systemdenkens, seien sie philosophischer oder theologischer Provenienz. Sie wirkt im Sinne einer kritischen Revision der „leichtfertigen Erledigungen“ neuzeitlicher Wissenschaftsrationalität und Vernunft-Aufklärung, die mit der Illusion vom einmaligen „Gang der Dinge vom Mythos zum Logos“[15] den Ausschluß von Mythos, Magie und Mystik begründen. Kritik am Optimismus des rationalistischen Fortschrittdenkens und rettende Kritik der phantasmagorischen Entstellungen in Mythos, Magie und Mystik verschränken sich deshalb im lebenslangen Revisionsbemühen Benjamins, das zuerst auf eine „kommende Philosophie“ (II/1, S.157 ff.), später auf eine so noch nicht dagewesene „materialistische Geschichtsschreibung“ (I/2, S.702) setzt.
Dieser „materialistischen Geschichtsschreibung“ der 1930er Jahre dient im Pariser Exil Benjamins philologische Umfunktionierung der Idee der „Lesbarkeit der Welt“, wie sie der rhetorische Topos vom „Buch als Symbol“[16] in Mittelalter und Humanismus versprochen hatte. Im Zitat seiner Pathosformel riskiert eine erkenntnistheoretische Überlegung im Passagen-Archiv den programmatischen Anspruch, nochmals „das Buch des Geschehenen“ aufzuschlagen: „Die Rede vom Buch der Natur weist darauf hin, daß man das Wirkliche wie einen Text lesen kann. So soll es hier mit der Wirklichkeit des neunzehnten Jahrhunderts gehalten werden.“ (V/1, S.580) Eine aus wissenschaftlichen Methodenzwängen befreite historische Erkenntnis kann durch dieses „Lesen“ im „Buch des Geschehenen“ noch immer rezeptive Offenheit für mimetische, d.h. mimische, gestische, habituelle, Ähnlichkeiten und Analogien zurückgewinnen: „Was nie geschrieben wurde, lesen.“ (II/1, S.213) Benjamins „materialistische Geschichtsschreibung“ beruft sich in nuce auf ein „Lesen“, das selber wiederum auf die magischen und analogischen Rezeptionsvermögen eines richtig verstandenen „anthropologischen Materialismus“ im Sinne seiner späteren mimetischen Sprachphilosophie angewiesen scheint.
Die rezeptive Offenheit des „Lesens“ in individuellen und kollektiven Überlieferungen bezeichnet für Benjamins „Urgeschichte“ das methodisch unmethodische Äquivalent jener „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“, die Freuds „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“[17] von 1912 als die besondere Art und Weise bestimmten, wie der Analytiker komplementär zur gewünschten freien Assoziation auf der Seite des Patienten diesem zuhören sollte, um die vorschnelle Reduktion der psychischen Komplexität des Einzelfalls durch selektive Aufmerksamkeit zu verhindern. Wie der Aufmerksamkeit von Freuds psychoanalytischem Zuhörer ergeht es derjenigen von Benjamins mimetischem Leser: Durch die methodische Zerstreuung hindurch wird sie erst offen für sinnliche Details und prägnante Einzelheiten, für die „Teleskopagen“[18] unvereinbarer Bilder, die ihr von Fall zu Fall zustoßen. Als „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ wird sie gerade von einer intermittierenden Rhythmik getragen, die ihrer äußeren Interesselosigkeit zugleich äußerste Binnenintensität verleiht. Das unvermittelte Nebeneinander von Traumversunkenheit und gesteigertem Wachbewußtsein zeigt sie nicht zuletzt auch jener „Aufmerksamkeit“ verwandt, die Benjamins Essay Franz Kafka „das natürliche Gebet der Seele“ (II/2, S.432) genannt hat.
Profanes so zu betrachten als wäre es ein Heiliges, macht ein wichtiges anthropologisches Charakteristikum von Benjamins Habitus des „Lesens“ im „Buch des Geschehenen“ aus. Gegenwärtig muß dabei bleiben, daß er dieses „Lesen“ in den individuellen und kollektiven Überlieferungen als Beitrag zu einer „materialistischen Geschichtsschreibung“ verstanden hat. An den pathologischen Entstellungen und Phantasmagorien der Moderne nimmt Benjamin eine Art von kollektiver Psychoanalyse in Angriff: Der „Traumkitsch“ (II/1, S.620) der anonymen großstädtischen Alltagskultur soll durch den „philologischen“ Blick auf die ephemere Dingwelt der eigenen Lebenswelt als Palimpsest bzw. als Schrift des kollektiven Unbewußten lesbar werden. Solche Philologie macht riskante anthropologische Anleihen nicht nur bei der Archäologie, sondern auch bei der Ethnologie. Benjamin entdeckt die „dialektische Struktur des Erwachens“, indem er sich in der kritischen Auseinandersetzung mit Avantgarde und Surrealismus dem Großstadtgetriebe und der massenhaften Warenwelt der Moderne aussetzt: „Und Erwachen ist der exemplarische Fall des Erinnerns.“ (V/2, S.1057) Er überspitzt den surrealistischen Zusammenstoß von Traum und Erwachen zur List des Erwachens: „Wir konstruieren hier einen Wecker, der den Kitsch des vorigen Jahrhunderts zur Versammlung aufstört. Diese echte Ablösung von einer Epoche hat die Struktur des Erwachens auch darin, daß sie durchaus von der List regiert wird. Denn das Erwachen operiert mit der List. Mit List, nicht ohne sie, lösen wir uns vom Traumbereich los.“ (V/2, S.1058)
Schon für Freuds metapsychologische Schrift Das Unbewußte von 1915 war die rettende Bewußtwerdung als (Wieder-)Auftauchen der „bewußten Objektvorstellung“ nur durch die Verknüpfung der „Sachvorstellungen“ mit den Resten der entsprechenden Wortwahrnehmungen möglich: „die bewußte Vorstellung umfaßt die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewußte ist die Sachvorstellung allein.“[19] Auch Benjamins Urgeschichte der Moderne bindet die „List“ des Erwachens an das (Wieder-)Auflesen semantischer Überreste zurück, die entstellt und unerkannt auf den grau gewordenen Dingen in Vergessenheit schlummern. Die „bewußte Vorstellung“ von Benjamins „geschichtlicher Anschauung“ erfaßt im Medium von Bild und Sprache weniger das Neue der Warenwerbung und Leuchtreklame als vielmehr das grau verdrängte „Veraltete“, das auch einmal neu war, jene aus der Mode gekommenen „Gegenstände, die anfangen auszusterben“ (II/1, S.299). Es ist die Mode, die der Moderne ihr profanes Maß und Tempo vorgibt: Mit jeder neuen Schöpfung und siegreichen Kreation schafft sie neue Vergangenheiten, die verdrängt, entstellt und vergessen sich im kollektiven Gedächtnis Schicht um Schicht ansammeln. In der Solidarität mit dem Vergangenen und Toten sind für Benjamin Dingwelt und Menschenwelt gegen das Vergessen vereint. Dies stiftet die abgründige Ambivalenz von „Andenken“ und „Sammler“: „Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der Nähe die bündigste. Jeder kleinste Akt der politischen Besinnung macht also gewissermaßen im Antiquitätenhandel Epoche.“(V/1, S.271) Solidarität von Mensch und Ding macht auch „die Zweideutigkeit der Passagen“ aus: „Blickwispern füllt die Passagen.“(V/2, S.672) Das (un)heimliche Leben der toten Dinge, die in der „Spiegelwelt“ der Passagen „den Kaspar-Hauser-Blick mit dem Nichts“(V/2, S.672) tauschen, ist nur einer Wahrnehmung zugänglich, die sich wie in Traum und Poesie auf auratische Blickerwiderung einläßt: „Nur was uns anschaut sehen wir. Wir können nur -, wofür wir nichts können.“ (III, S.198)
Benjamins Kritik trifft dagegen alle monumentalen oder nostalgischen Formen historistischer Vergegenwärtigung, die durch „Einfühlung in den Sieger“ (I/2, S.696) die erbauliche Fernstellung des Vergangenen als Aufgehobenem betreiben, indem sie sich auf den Schein ungebrochener Kontinuität zwischen einem Einst und dem Heute verlassen. Demgegenüber soll die List des Erwachens ein „noch nicht bewußtes Wissen vom Gewesenen“ (V/2, S.1058) zutage fördern, das solidarisch über „die Tradition der Unterdrückten“ (I/2, S.697) belehrt. „Lesen“ im „Buch des Geschehenen“, das selbst im Traumbild des „Jüngstvergangenen“ (V/1, S.47) doch immer zugleich als das „Von-jeher-Gewesene“ (V/1, S.580) und „Urvergangene“ (V/1, S.47) erscheint, übernimmt als historisches Erwachen „die Aufgabe der Traumdeutung“ (V/1, S.580). Es gilt, eine Prophetie auf die Wachwelt der Gegenwart zu enträtseln, die erst hier und jetzt mit dem zeitlichen Abstand sichtbar werden konnte.
Benjamin geht von prozessualen Konstellationen und Konfigurationen in einem gemeinsamen Gedächtnis- und Traditionsraum aus, der zugleich als Denk-, Bild- und „Leibraum“ (II/1, S.309) angenommen wird. Dieser mediale Raum erscheint in allen Momenten veränderbar, weil durch Zeit und Geschichte jeweils und allseitig bestimmt. Sein Modell liefert die Medialität der Sprache, welche nicht nur der frühen Sprachphilosophie, sondern auch der 1933 skizzierten, anthropologischen Lehre vom Ähnlichen das eigentliche Thema vorgibt. Letztere gipfelt - folgt man dem Schluß der zweiten Fassung Über das mimetische Vermögen - in der Auffassung, daß „die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit“ darstellt: „ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie so weit gelangten, die der Magie zu liquidieren.“ (II/1, S.213) Diese Lehre verweist deutlich auf jenen „anthropologischen Materialismus“, von dem im Sürrealismus-Essay von 1929 die Rede ist: „In einer profanen Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration“, die zugleich „die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung“ (II/1, S.297) darstelle, so lautet die Kernthese, hätten „Bild und Sprache“ (II/1, S.296) den Vortritt vor den idealistischen Tröstungen von „Sinn“ und „Ich“ (II/1, S.297) gewonnen.
Verständlicher kann hier nochmals das paradoxe, weil interesselose Interesse jener - mit Freuds glücklichem Ausdruck - „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ werden: Als sprachanamnetische Absicht organisiert sie auch die textuelle Darstellung von Benjamins Schriften. Indem sein Denken auf dem labyrinthischen Irrgang durch die Metaphernruinen und Trümmerlandschaften von Theologie und Metaphysik sich der Führung der inkognitiven Sprachbewegung selber überläßt, soll in actu von der konkreten Denkerfahrung der physiognomische Abdruck in Schrift zurückbleiben. Der sprachspielerische Umgang mit kollektiven und individuellen Mythen, worin sich seit dem Produktionskreis der Einbahnstraße Verzauberung und Entzauberung je unversehens verschränken, mag bei Lesern gelegentlich den Verdacht subjektiver Mystifikation provozieren. Die physiologische Aufmerksamkeit für unhintergehbare Wahrnehmungsweisen in Verbindung mit dem vielfach unbewußten Ausdrucks- und Ereignischarakter der - kollektiven - Sprache kann in diesem Kontext nicht als fragwürdiges Ideal mimetischer Unmittelbarkeit abgetan werden. Menschliche Sprache ist nicht auf phonische Sprache zu reduzieren, sie schließt „stumme“ Mimik und Gestik, Rhythmik und Motorik als performative Momente ein. Daß sich Benjamin der Risiken seiner anthropologischen Sprachauffassung durchaus bewußt war, zeigen seine Briefe, insbesondere die Briefwechsel der 1930er Jahre mit Adorno und Scholem.[20] Kaum weniger ist seine „archäologische“ Rücksicht auf die inkognitive Medialität der Sprache, auf ihr „Ausdrucksloses“, mit privater Sprachmystik zu verwechseln: Die Erneuerungen solcherart Sprachmystik, etwa im George-Kreis oder in der Münchener Kosmiker-Runde (z.B. L.Klages), kritisierte er selber als pseudo-auratische Veranstaltungen.[21]
Was sich im Umgang mit Benjamins Schriften als sprachmagische Unbestimmtheit und polymorphe Vieldeutigkeit mitteilt, kann am ehesten im Kontext seines besonderen „anthropologischen Materialismus“ aufgeklärt werden, der im Projekt der Urgeschichte der Moderne als eine Art kollektive Psychoanalyse antritt, nicht nur „Leib“ und „physische Kreatur“ (II/1, S.309), sondern auch Bild und Sprache aus der Herrschaft der „moralischen Metapher“ (II/1, S.309) und der bewußtlosen Metaphysik zu befreien. Um das mimetische Denken und Schreiben Benjamins im Sinne seines Sürrealismus-Essays „als profane Erleuchtung, als materialistische, anthropologische Inspiration“ zu erfassen, empfiehlt es sich zugleich, von seiner späteren Lehre vom Ähnlichen zu dem sprachphilosophischen „Urproblem“ (II/1, S.142) zurückzugehen, das schon Benjamins frühe Sprachtheorie in Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen[22] von 1916 thematisiert: Sprache bringt als Mimesis über ihre Mitteilungsfunktion hinaus etwas performativ zum Ausdruck, das sie selbst gar nicht aussagt und deshalb auch nicht in die logische Form einer Aussage übersetzt werden kann. Diesem Problem, das „nicht mehr kontemplativ zu bewältigen ist“ (II/1, S.309), stellen sich Benjamins „Sprachfiguren“[23] gerade in ihrem rhetorisch-diskursiven Vollzug. Einerseits gewinnen sie erst mit ihrer textuellen Darstellung aktuelle Bedeutung als dialektische Denkbilder, Ideenkonstellationen, Namenkonfigurationen; andererseits stellen sie in ihrem semantisch-lexikalischen Bestand keine terminologischen Neuschöpfungen dar, sondern erscheinen als Zitate der wissenschaftlichen, philosophischen, theologischen oder mystischen Tradition. „Sprachfiguren“ lassen sich als kritische Umfunktionierungen verstehen, die von bekannten Bildideen und verblaßten Metaphern, aber auch von etablierten Begriffen der Humanwissenschaften ausgehen. Sie sind nach Semantik und Semiotik jeweils auf kollektive Tradition und kulturelle Überlieferung bezogen.
Benjamins Zitation überlieferter Bild- und Sprachtraditionen steht nicht nur für eine zitierende Begriffsbildung, sondern darüber hinaus für einen philologisch gebrochenen, indirekten „Stil“. Die Pragmatik des Zitats hat anderes als die bloße Wiederholung einer vergangenen und vergehenden Tradition im Sinn. Retten geht nicht im Bewahren von Vergangenem auf, setzt vielmehr eine entschiedene Traditionswahl voraus: Tempo, Beschleunigung, Zeitnot und Zeitdruck bewirken im 20.Jahrhundert, daß es wertvoller erscheint, aus der Überlieferung weniges zu retten als vieles nur zu bewahren. Zwar kommt Benjamins Pragmatik des Zitats ohne Anleihen bei der Philologie des 19.Jahrhunderts nicht aus. Zugleich aber ist die beharrliche Suche im Labyrinth der „alten“ Bedeutungen, Verweisungen, Metaphern und Ähnlichkeiten schon Teil des Vorhabens, „mit der geschliffenen Axt der Vernunft“ reiche „Gebiete urbar“ zu machen, „auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert“ (V/1, S.570). Philologische Aufklärung durch das Zitat heißt bei Benjamin, auf dem Wege strategischer Eingriffe das Labyrinth der sprachlichen Tradition „vom Gestrüpp des Wahns und des Mythos“ (V/1, S.571) zu reinigen.
Es kann nicht verwundern, daß Benjamin weder eine neue Terminologie geschaffen noch (im deutlichen Unterschied zu Adorno und zur Frankfurter Schule) einen bestimmten philosophischen Jargon entwickelt hat. Im Streit um das Projekt der „Urgeschichte des 19. Jahrhunderts“ behauptet er in den 1930er Jahren gerade gegenüber Adorno mit Nachdruck die Auffassung, daß „die Philosophie einer Arbeit nicht sowohl an die Terminologie als an ihren Standort gebunden ist“[24]. Standort- und leibgebunden setzt Benjamins „Philosophie“ bei der medialen Seite der tradierten Sprache an. Ihr Augenmerk gilt dem gestischen und physiognomischen Ausdruckscharakter des Tradierten, welcher der falschen Überlieferungskontinuität abzuringen ist . Indem Benjamins Denk- und Schreibstil mimetisch indirekt mit und in der „alten“ Sprache verfährt, nimmt er - „mit der geschliffenen Axt der Vernunft“ (V/1, S.570) - vielerlei rhetorische Umwege durch das Dickicht der Überlieferung in Kauf. Seine Sprache hält der über die Schwelle des 19.Jahrhunderts tradierten Bildungssprache des deutschen Bürgertums die Treue. Solche melancholische Treue geht aber keineswegs mit einer antiquarischen Absicht restaurativer Bestandspflege zusammen, sondern schlägt gerade um in kritisches Denken und Schreiben, um die Bildungssprache „gegen den Strich zu bürsten“ (I/2, S.697). Nietzsche-Rezeption und Sprachkritik der Wiener Jahrhundertwende, expressionistische, dadaistische, surrealistische Sprachexperimente und Phänomene der Massenmedien und Massenkultur sind Benjamin historische Voraussetzungen der eigenen Kritik. Die Katastrophe des Bürgertums im Ersten Weltkrieg markiert den „Standort“, um im zerstörenden und rettenden Zitat von Ideen, Bildern, Namen, Begriffen einen nicht zuletzt dem Anti-Journalismus von Karl Kraus verpflichteten, indirekten philosophischen Stil auszubilden. Als historische Leistung von Karl Kraus’ satirischer Sprachkritik sah Benjamin, dass sie vermochte, die Zeitung als modernes Massenmedium zitierbar zu machen. Kraus gelang die Befreiung des Zitierens aus der Esoterik von Büchern und Bibliotheken, indem er das Zitat zum alltäglichen Kampf gegen die journalistische „Phrase“ aufrüstete, die nach Benjamins Kraus-Essay von 1931 als „Warenzeichen, das den Gedanken verkehrsfähig macht“(II/1, S.337), zugleich „eine Ausgeburt der Technik“(II/1, S.336) darstellt.
Benjamins Auseinandersetzung mit Überlieferung und Tradition läßt sich im Pariser Exil auch am Briefwechsel mit Gershom Scholem verfolgen. Dabei gewinnt vor allem Kafkas Werk - „eine Ellipse, deren weit auseinander liegende Brennpunkte von der mystischen Erfahrung (die vor allem die Erfahrung von der Tradition ist) einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen andererseits, bestimmt sind“[25] - für Benjamins geschichtsphilosophische Standortbestimmung symptomatischen Charakter. Im Brief vom 12.6.1938 wagt er schließlich die These: „Kafkas Werk stellt eine Erkrankung der Tradition dar.“[26] Während Scholems negative Mystik von einem „Nichts“[27] der Offenbarung ausgeht, das gerade in seiner Unenträtselbarkeit auf die theologische Wahrheit des Judentums verweise, geht es Benjamin um den Nachweis, daß die moderne Welt unumkehrbar säkularisiert und das theologische Original unwiderruflich verloren ist.
Erinnern an Lücken des Erinnerns hält Leerstellen offen und verhindert spurloses Vergessen. „Das Bucklichte Männlein“, im letzten Stück der Berliner Kindheit um neunzehnhundert (VII/1, S.429f.) aus einem alten Kindergedicht herbeizitiert, ist als stummer Anwalt des seit Kindertagen Vergessenen noch abwesend anwesend in der modernen Welt. Im Kontrast zu Scholems negativer Theologie aber, die noch einen originären Inhalt anvisiert, ist Benjamins anamnetischer Traditionsbezug vor jeder Suche nach dem verlorenen Ursprung gerade den Formen der Überlieferung selbst auf der Spur. Es gilt, die „erkrankte“ Tradition, die nur noch den Modus ihrer eigenen Überlieferung meint, metaphorisch oder metonymisch, emblematisch oder ironisch-metaleptisch, immer aber experimentell-pragmatisch in aktuellen Texten und Kontexten zu „verwenden“. Rettung verspricht nicht das umständliche, angestrengte Referat, sondern die prägnante, spielerische Anwendung. Oder das überraschende Zitat, das nicht Werk des musealen Bewahrens und Pflegens ist, vielmehr den Gestus des strategischen Eingriffs zeigt: „Werk leibhafter Geistesgegenwart“ (IV/1, S.142). Für diese performative Rhetorik von Erinnerung und Zitat können nicht schon die Begriffe mit ihren eingesammelten Etymologien den Ausschlag geben, nicht schon die überlieferten Namen, Bilder und Ideen. Wo „soziale Beschleunigung“[28] im großstädtischen Lebensraum mit Massenmedien und moderner Zerstreuungskultur die esoterische Gemächlichkeit von Museen, Bibliotheken und Hörsälen hinter sich gelassen hat, soll auch semantische Intension – exemplarisch wie extrem im überraschenden Zitat - in den Dienst pragmatischer Extension gestellt werden. Gestik, Mimik, Rhythmik, Duktus und Habitus stehen vor aller Semantik im Fokus der Aufmerksamkeit „leibhafter Geistesgegenwart“. So feiert Benjamins „anthropologischer Materialismus“ in der Konjunktion von Archaik und Moderne kreatürliche Urstände, welche die bei Büchner, Nietzsche, Rimbaud und den Surrealisten erprobte, „profane“ Intention auf „die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung“ ermöglicht.
Zum Ende der Weimarer Republik lässt Benjamins Bekenntnis zu einem „neuen, positiven Begriff des Barbarentums“(II/1,S.215) im Aufsatz Erfahrung und Armut von 1933 nichts an avantgardistischer Deutlichkeit vermissen: Mit Paul Klee, Adolf Loos, Paul Scheerbart, Bertolt Brecht und anderen „Männern, die das von Grund auf Neue zu ihrer Sache gemacht“, will er ein „Stück des Menschheitserbes nach dem anderen“ dahingeben, „um die kleine Münze des ‚Aktuellen’ dafür vorgestreckt zu bekommen“, bereite sich angesichts von Faschismus und neuerlicher Kriegsdrohung „die Menschheit“ doch darauf vor, „die Kultur, wenn es sein muß, zu überleben“(II/1, S.219). Ob der rettende Umschlag der rezeptiven Offenheit in rhetorische Aktualisierung gelingt, entscheidet sich je und je an der strategischen Verwendung der Zitate. Die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges und die diese begleitenden, vor- und nachbereitenden Propagandakämpfe in den neuen Massenmedien hatten Benjamin schon gezeigt: Das 20.Jahrhundert erscheint durch die techno-romantische Allianz von Krieg, Technik und Mythos bestimmt. „Die Zukunftsdrohung ins erfüllte Jetzt zu wandeln, dies einzig wünschenswerte telepathische Wunder“ (IV/1, S.142) soll es auch einzig mit diesem hochgerüsteten Mythos aufnehmen können. Zugleich liegt darin die dem 20.Jahrhundert adäquate Herausforderung des Intellektuellen als Hüter der „erkrankten“ Tradition, der sich Benjamin im Vollzug des Denkens, Lesens, Schreibens, Zitierens auf seine Weise gestellt hat.
Für den Gestus von Benjamins Zitierverfahren und seine rhetorische Kunst der Umfunktionierung gilt: Mystisches Vertrauen in die inkognitive Medialität der Sprache und profane Intention auf „die Welt allseitiger und integraler Aktualität“ (II/1, S.309; I/3, S.1238) sind zwei Seiten einer einzigen, unteilbaren Haltung gegenüber Tradition und Sprache, Überlieferung und Erkenntnis. Diese „Welt allseitiger und integraler Aktualität“ benennt Benjamin um 1930 materialistisch und anthropologisch durch den im Sürrealismus-Essay evozierten, „hundertprozentigen Bildraum“ bzw. „Leibraum“ (II/1, S.309), um sie 1940 nur noch durch die „messianische Idee der Universalgeschichte“ (I/3, S.1238) zu bezeichnen, der „Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden“ (I/2, S.694) ist.
Benjamins Haltung gegenüber wahrer Sprache und Tradition baut auf die anthropologische Annahme eines „mimetischen Vermögens“, welche die Sprache als „die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit“(II/1, S.213) auffaßt. Menschliche Sprache erscheint letztlich als Medium einer „allseitigen und integralen“ Kommunikationsgemeinschaft, zu der nicht nur alle lebenden Menschen, sondern auch alle, die je gesprochen und geschrieben haben, also die Gemeinschaft der Toten, gehören. Freilich kann dieser „messianischen Welt“ der unbegrenzten Sprachgemeinschaft nichts entsprechen, „eh die Verwirrung, die vom Turmbau zu Babel herrührt, geschlichtet ist“ (I/3, S.1239). Aus der Virtualität jener unbegrenzten messianischen Sprachgemeinschaft hat Benjamins früher Essay von 1921 als Aufgabe des Übersetzers gefolgert: „Integration der vielen Sprachen zur einen wahren“ (IV/1, S.16) durch die Übertragung des alten Textes in einen neuen, welche als aktualisierendes Fortschreiben nicht nur des alten Textes, sondern aller früheren Texte zu verstehen ist. Diese „Aufgabe“ des Übersetzers, verstanden als sein Auftrag und seine Verantwortung, verlangt aber zugleich seine „Aufgabe“ als Selbst-Aufgabe, d.h. sein verantwortungsvolles Aufgehen und Verschwinden im Überlieferungsgeschehen. Sie schließt in letzter Konsequenz das solidarische Opfer des eigenen Todes ein, will er der „messianischen Welt“ der unbegrenzten Sprachgemeinschaft nahekommen, die Benjamin im stetigen Vergehen von Zeit und Geschichte eben als die stetig wachsende Gemeinschaft der Toten sieht. „In der Übersetzung den Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen“ (IV/1, S.17), scheint so nur als „Aufgabe“ im paradoxen Doppelsinn des Wortes möglich. Die Aufgabe der Aufgabe aber schafft zugleich das Gedächtnis der Aufgabe, die eben der Text, wiederum im doppelten Sinne, darstellt. Im einzelnen Text ist Wahres niemals wirklich gegenwärtig, bleibt immer ein unnahbar Entferntes, das sich erst am Ende der Geschichte, nach dem labyrinthischen Durchgang durch alle Sprachen und alle Texte aller Zeiten, d.h. am Jüngsten Tag und seinem Weltgericht, zeigen kann.
Ist aber jener theologisch versprochene „Jüngste Tag“ des Weltgerichts, wiederum anthropologisch gewendet, nicht doch auch einfach der je immer jeweils „jüngste“ Tag? Unnahbar als Positivum, weder im Ursprung noch im Ziel, weder am Anfang noch am Ende, scheint Wahrheit im Negativ der Überlieferungskritik der „erkrankten Tradition“ doch hier und da auf. Für Benjamins anthropologische Sprachauffassung kann deshalb jeder profane Tag jederzeit zum „jüngsten“ des Weltgerichts über die Entstellungen von Tradition und Geschichte werden. Zur regulativen Idee hic et nunc operationalisiert, ermöglicht sie die Ausbildung jenes profanen Verfahrens der rettenden Kritik, das durch Zitat, Übersetzung und Kommentar die reinigende Zerstörung der entstellten Überlieferung betreibt, um ihren wesentlich „stummen“, d.h. physiognomischen Ausdruckscharakter freizulegen, der auf die „Welt allseitiger und integraler Aktualität“ verweist. Dieser „stumme“ Ausdruckscharakter lässt die verdrängte Überlieferung der Besiegten und Unterdrückten gerade dort durchscheinen, wo den leibgebundenen Expressionen von Gestik und Mimik, Rhythmik und Motorik, Duktus und Habitus „Aktualität“ zugestanden wird. Ihre ersten Gegner findet Benjamins rettende Traditionskritik in romantischen und nationalistischen Konzeptionen, die exklusive Tradition durch willkürliche Operationen des Einschließens und Ausschließens je selber konstruieren: Auf dem Wege bestimmter, inhaltlicher Setzungen wollen sie eine jeweils eigene Identität von Volk und Kultur aus einer je vorgeblich reinen und nahen Tradition ableiten, gegen alle fremden und fernen Überlieferungen abschließen und nur zu häufig auch mit kriegerischer Konsequenz zur Anerkennung durch andere bringen. Dem falschen Singular, dem Phantasma fundamentalistisch entstellter Tradition, begegnet Benjamin mit dem Plural der Zitate, Übersetzungen und Kommentare, um den labyrinthischen Bau jenes sprachlichen „Archivs der unsinnlichen Ähnlichkeit“ voranzubringen, das zugleich rettende Arche sein kann. Dieses Bauen als kritische Spracharbeit ist Therapie für die im fiebernden Fortschritt des modernen Lebens „erkrankte“ Tradition, um im Fortschritt der babylonischen Sprachverwirrung des 20.Jahrhunderts die künftigen Möglichkeiten von Tradierbarkeit und Lesbarkeit vor dem spurlosen Vergessen zu retten.
Nicht nur auf das Schöne und das darin gemeinte auratische Motiv der Blickerwiderung trifft zu, was Benjamin im Gedenken an Baudelaires ästhetischen Totenkult durch ein lateinisches Zitat kennzeichnet: „Das Ergriffenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten.“ (I/2, S.639) Alles Schreiben und Lesen ist schließlich performatives Gedächtnis als ein „ad plures ire“: Zitieren, Übersetzen, Kommentieren von Bruchstücken der entstellten Tradition sind der Irrgang hinab zu jener „allseitigen und integralen“ Sprachgemeinschaft, die in ihrer ausgeschlossenen Exklusivität eben nur durch das Gedächtnis der toten und lebenden und kommenden Geschlechter bestimmbar ist.
Wahre Erkenntnis steht dabei für Benjamin schließlich nicht nur außerhalb der onto-theologisch gerechtfertigten Schöpfungsordnung, sie läßt auch den durch bloße Vernunft-Aufklärung symbolisch geordneten, instrumentellen Herrschaftsbereich des Natürlichen hinter sich: Natur wird als Ursprung und Referent von Wahrheit im kollektiven Bewußtsein destruiert, muß diese privilegierte Position der vielfach entstellten menschlichen Erfahrung selber überlassen, die mit dem überlieferten „Leidschatz der Menschheit“[29] im sozialen Gedächtnis „die Tradition der Unterdrückten“ (I/2, S.697) bewahrt. Wahre Erkenntnis kann als praktische Erinnerung im Medium der Sprache von anderem Wissen unterschieden werden, insofern sie möglichst viele frühere Menschheitserfahrungen samt ihren kreatürlichen Ursprungskontexten und Überlieferungssituationen in ihrem performativen Vollzug miterinnert: Sonst stumme, leibgebundene Expressionen - Gestik und Mimik, Rhythmik und Motorik, Duktus und Habitus - dürfen nicht länger vergessen werden, sollen vielmehr Eingang ins sprachliche „Archiv unsinnlicher Ähnlichkeit“ finden. Entscheidendes Kriterium ist, ob und in welchem Ausmaß historischer Erkenntnis so gelingt, frühere Sprach- und Sinnschichten zu zitieren und durch Übersetzung und Kommentar hier und heute zu aktualisieren. Je dichter das Netz der Zitate geknüpft ist, je intensiver es mit Aktualität verspannt erscheint, desto gründlicher kann den Toten und Vergessenen hier und heute Gerechtigkeit zuteil werden. Diese Absicht des Historikers Benjamins steht öffentlich im Verborgenen auch hinter den Archiven der Urgeschichte der Moderne. Anthropologische Solidarität mit der sterblichen Kreatur ist Ursprung wie Ziel solcher Aktualisierung des Vergangenen, welche mit den geschichtlichen Versäumnissen eben die entstellte „Tradition der Unterdrückten“ im Auge hat. In radikaler Weise liegt Benjamins messianischer Sprachauffassung gerade ein anthropologischer, zugleich pluralistischer und performativer Begriff von Wahrheit bzw. Erkenntnis zugrunde: Unzweifelhaftes Produkt des Menschen, wird Sprache nicht als göttliches oder geniales Werk eines einzelnen Subjekts, sondern als vielfach entstellter, labyrinthischer Gemeinschaftsbau angenommen, dem Leib und Hand und Kopf, d.h. das kreatürliche Tun, die Spracharbeit und Geistesbeschäftigung aller Menschen zu allen Zeiten gegolten haben und weiterhin gelten.
Wenn Wahrheit und Erkenntnis nicht anders als nachträglich gedacht werden können, weil sie für die Lebenden immer erst in die Nachgeschichte fallen, so erscheinen sie doch zugleich in der Vorgeschichte immer schon angelegt. In einer Gesprächsnotiz von Ende 1929 schreibt Benjamin: „Fremdwörter sind kleine linguistische Grabkammern.“(VI, S.418) Das Zitat, das die Zäsur im eigenen, gegenwärtigen Text zugleich mit dem Einbruch des fremden Wortes markiert, kann als exemplarischer Modus des Nachlebens des Vergangenen verstanden werden. Im Schock des Kurzschlusses von Vor- und Nachgeschichte öffnet es zugleich die Gegenwart auf die Zukunft hin, läßt jene schon im Licht dieser erscheinen: „Vergangen, nicht mehr zu sein arbeitet leidenschaftlich in den Dingen. Dem vertraut der Historiker seine Sache. Er hält sich an diese Kraft und erkennt die Dinge wie sie einem Augenblick des Nicht-mehr-Seins sind.“(V/2, S.1001) Erinnerung an die Zukunft kann die paradoxe „Sache“ von Benjamins anthropologisch-materialistischem „Historiker“ in der Tat genannt werden. Indem er Dinge wie Worte zitiert, dabei dem zitierten „fremden“ Wort den Charakter des (Eigen-)Namens zuweist, gibt er ihnen eine paradoxe zweite Gegenwart: die für die Zukunft verewigte, weil mortifizierte, damit dauerhaft posthume Gegenwart des Abgestorbenen und Toten. Die Erinnerungsmacht der Namen, die Dinge wie Personen überdauern, macht jene zu Monumenten von diesen. Der im Zitat her- und ausgestellte Name wird zum Grabmal, das stumm um seinen verschwundenen Träger trauert, zum Denkmal, das als rätselhaftes Zeichen auf seine verlorene Bedeutung verweist.
Für Benjamins anthropologische Sprach- und Erkenntnistheorie gilt: Der im Zitat ausgestellte Name streift seinen Wortcharakter ab, wird als Eigenname für Dinge und Personen zugleich gestische Chiffre für die Paradoxie einer möglichen Erfahrung des Unmöglichen. Der zitierte Name ist deshalb der Modus der Sprache, wie sie im Augenblick des Erwachens begriffen wird: „Sprachfigur“ einer leibgebundenen, performativen Rhetorik, die auf die messianische „Welt allseitiger und integraler Aktualität“ (II/1, S.309) im Hier und Jetzt der menschlichen Wahrnehmung abzielt und im Erwachen aus dem kollektiven Traumschlaf ihr „materialistisches“, anthropologisches Modell eines unvordenklichen, geschichtlichen „Eingedenkens“ (V/1, S.490) reklamiert.
Das Erwachen als Modell des geschichtlichen „Eingedenkens“ vermittelt Benjamins Sprach- und Erkenntnistheorie mit der Pragmatik seines „anthropologischen Materialismus“, die den Zusammenhang von Technik, Politik, Kunst und Mythos im Auge hat. Im Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/1939) zielt die Frage nach dem kollektiven Unbewußten in menschlicher Wahrnehmung und Daseinsweise praktisch auf eine „Politisierung der Kunst“ als Antidoton zur faschistischen „Ästhetisierung der Politik“ (I/2, S.508), theoretisch aber auf die mediale Materialität „einer echten Überlieferung“. Es gehe in seinen kunst- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen darum, so Benjamins Selbstanzeige in einem Bericht über die Arbeit des Instituts für Sozialforschung Ein deutsches Institut freier Forschung (1938), „den technischen Bedingungen kulturellen Schaffens, seiner Aufnahme und seines Überdauerns nachzugehen“. (III, S.525)
Sollen die „technischen Bedingungen“, welche die mediale Materialität „einer echten Überlieferung“ erst garantieren, versammelt sein, wäre nach Benjamin eine ganz andere Technik nicht nur wünschenswert, sondern als conditio sine qua non mehr noch unabdingbar. Die schon im Sürrealismus-Essay geforderte „leibliche kollektive Innervation“ (II/1, S.310) der Technik impliziert das Modell einer „zweiten Technik“ (VII/1, S.359), nach dem Maschinen, Instrumente und Apparaturen nicht länger als tote, dem Menschen äußerliche Dinge, sondern als Organe seines künftigen Gemeinschaftslebens aufzufassen sind. „Diese zweite Technik ist ein System, in welchem die Bewältigung der gesellschaftlichen Elementarkräfte die Voraussetzung für das Spiel mit den natürlichen darstellt.“ (VII/1, S.360) Die überkommene Technikkonzeption des Abendlandes wird dominiert durch die aus der Opfernot geborene, instrumentelle Absicht der Naturbeherrschung, die nach Hannah Arendt der Neuzeit zuerst den „Sieg von Homo faber“ bescherte, welchem mit dem „Sieg des Animal laborans“[30] dann die heutige Reduktion tätigen Lebens auf Arbeit und Konsum folgen sollte. Dieser „ersten Technik“ gegenüber verlangt Benjamins „zweite Technik“ als Bedingung ihrer Möglichkeit das Komplement eines anderen Begriffs von Natur: „Natur“ soll nicht länger teleologisch auf Descartes’ res extensa, auf Materie, Rohstoff, nackten Körper, d.h. auf bloße, damit in ihrem Eigensinn immer schon verdrängte Physis, reduziert werden. In der Zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes wird die noch in Kult und Ritual befangene „erste“ von einer „zweiten Technik“ unterschieden, die es „mit dem Experiment und seiner unermüdlichen Variierung der Versuchsanordnung“ zu tun hat: „Die erste hat es wirklich auf Beherrschung der Natur abgesehen; die zweite viel mehr auf ein Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit. Die gesellschaftlich entscheidende Funktion der heutigen Kunst ist Einübung in dieses Zusammenspiel.“ (VII/1, S.359)
Jene einem erfinderischen Experimentieren und einem freien „Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit“ überantwortete „zweite Technik“ erscheint ihrerseits als vorauseilende Strategie einer Technisierung, die der nicht mehr schönen „heutigen Kunst“ immerhin den Weg zu wahrhaft demokratischer Massenkultur weisen wollte. Benjamins Hoffnung auf jene „zweite Natur“ ist nicht teleologisch, sondern hypothetisch zu verstehen: ein anthropologisches Postulat der Notwehr, das die „Zertrümmerung der Aura“(I/2, S.653) als die der Menschheit einzig verbliebene Möglichkeit unterstellte. Dieses Postulat der Notwehr verweist dabei zurück auf das Theologisch-politische Fragment (1920), das schon kurz nach der gesamteuropäischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs den radikal profanen Ausweg des „anthropologischen Materialismus“ nicht ohne Anspielung auf Nietzsche vorzeichnete, indem es „Nihilismus“ als „Methode“ von „Weltpolitik“ und Geschichte ins Spiel brachte: „Der geistlichen restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Unterganges führt und der Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur, ist Glück.“ (II/1, S.204)
[1] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. 7 Bände, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main 1972-1989, Bd.V/2, S.971-981. Nachfolgend wird Benjamin hiernach zitiert durch Angabe von Band- und Seitenzahl im Text.
[2] Vgl. Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1973.- Schmidt revidiert Marx’ wirkungsmächtige Feuerbach-Kritik, die den anthropologischen Materialismus – ähnlich dem mechanischen Materialismus der Aufklärung - lediglich als Vorstufe zum historisch-dialektischen Materialismus betrachten wollte.
[3] Benjamin, Bd.II/1, S.296f. sowie den Schlußteil S.309f.
[4] Vgl. Benjamin, II/1, S.204-213.- Vgl. hierzu Jägers wichtigen Versuch, Benjamins anthropologische Sprachtheorie von 1933 auf seine Kafka-Interpretation zu beziehen: Lorenz Jäger, „Primat des Gestus“. Überlegungen zu Benjamins Kafka-Essay, in: „Was nie geschrieben wurde lesen“. Frankfurter Benjamin-Vorträge, hg. v. Lorenz Jäger/Thomas Regehly, Bielefeld 1992, S.96-111.
[5] Vgl. Benjamin, III, S.452-480.- Fragen nach dem historischen Ursprung menschlicher Sprache und dem Zusammenhang von Sprechen, Denken und Handeln leiten Benjamins Referat von Sprachtheorien der 1920er und 1930er Jahre aus Linguistik, Soziologie, Psychologie und Ethnologie (u.a. von Karl Bühler, Charles Callet, Rudolf Leonhard, Olivier Leroy, Lucien Lévy-Bruhl, Niklaus Marr, Heinz Werner). Deutlich wird dabei, dass Benjamin über Semantik, Semiotik, Onomatopoesie und Mimesis diskutiert, um Anschlüsse an die eigene Theorie des „mimetischen Vermögens“ herzustellen. (Vgl.: Günter Karl Pressler, Vom mimetischen Ursprung der Sprache. Walter Benjamins Sammelreferat „Probleme der Sprachsoziologie“ im Kontext seiner Sprachtheorie, Frankfurt a. Main 1992).
[6] Norbert Bolz/Willem van Reijen, Walter Benjamin, Frankfurt a. Main 1991, S.87.
[7] Vgl. Thomas Küpper und Timo Skrandies, Rezeptionsgeschichte, in: Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Burkhardt Lindner, Stuttgart/Weimar 2006, S.35 ff.
[8] Vgl. Walter Benjamins Archive. Bilder Texte und Zeichen, hg. v. Walter Benjamin Archiv, Frankfurt a. Main 2006, bes. S.196ff.
[9] Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, Frankfurt a. Main 1999, S.8.
[10] Vgl. Josef Fürnkäs, Benjamins Gedächtnis, in: Doitsu Bungaku. Die Japanische Gesellschaft für Germanistik, Tokyo. N° 106 (2001), S. 24-40.
[11] Walter Benjamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter-Benjamin-Archiv in Berlin, Frankfurt a. Main 2008 ff.- Erschienen sind bislang die Bände N° 3 („Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, 2008, hg. v. Uwe Steiner), N° 8 („Einbahnstraße“, 2009, hg. v. Detlev Schöttker), N° 10 („Deutsche Menschen“, 2008, hg. v. Momme Brodersen), N° 13 („Kritiken und Rezensionen“, 2011, hg. v. Heinrich Kaulen) und N° 19 („Über den Begriff der Geschichte“, 2010, hg. v. Gérard Raulet).
[12] Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, S.119.
[13] Vgl. zum Folgenden: Josef Fürnkäs, Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen, Stuttgart 1988, S.117-148 („Ausgraben und Erinnern als Arbeit am Unbewußten“).
[14] Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, 3.Aufl., Frankfurt a. Main 1989, Bd.III, S.234ff. – Vgl. Auch Freuds spätere „Notiz über den Wunderblock“ (1925), in: Studienausgabe Bd.III, S.363-369.
[15] Trotz einer gewissen Nachbarschaft zu Benjamins Konzept der rettenden Kritik von semantischen Potentialen in Theologie und Mythos zielt Blumenbergs phänomenologisch beschreibende Metaphorologie zuerst auf begriffsgeschichtliche Zusammenhänge, die den ambivalenten Umgang des neuzeitlichen Denkens mit Mythen betreffen: „Daß der Gang der Dinge vom Mythos zum Logos vorangeschritten sei, ist deshalb eine gefährliche Verkennung, weil man sich damit zu versichern meint, irgendwo in der Ferne der Vergangenheit sei der irreversible Fortsprung getan worden, der etwas weit hinter sich gebracht zu haben und fortan nur noch Fortschritte tun zu müssen entschieden hätte.“ (Hans Blumenberg, Die Arbeit am Mythos, Frankfurt a. Main 1979, S.34).
[16] Vgl. das Kapitel „Das Buch als Symbol“ in: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 8.Aufl., Bern/München 1973, S.306-352; ebenso: Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. Main 1981.
[17] Vgl. Sigmund Freud, Schriften zur Behandlungstechnik, in: Studienausgabe, Ergänzungsband, S.169-180.
[18] Vgl. Rita Bischof, Teleskopagen, wahlweise. Der literarische Surrealismus und das Bild, Frankfurt a. Main 2001, bes. S. 321ff.
[19] Sigmund Freud, Das Unbewußte (1915), in: Studienausgabe Bd. III, S.160.
[20] Vgl. Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, hg. v. G.Scholem, Frankfurt a. Main 1980; Theodor W.Adorno/Walter Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. Main 1994.
[21] Vgl. Josef Fürnkäs, Aura, in: Benjamins Begriffe, hg. v. Michael Opitz u. Erdmut Wizisla, Frankfurt a. Main 2000, Bd.1, S.95-146.
[22] Vgl. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a. Main 1980. Indem Menninghaus „Sprachmagie“ in der romantischen Tradition als gleiches Thema von Benjamins früher und späterer Sprachphilosophie darstellt und dabei zugleich jedoch ihre unterschiedlichen Begriffe vernachlässigt, entgeht ihm die anthropologische Besonderheit der späteren Sprachtheorie.
[23] Vgl. Bettine Menke, Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin, München 1991.
[24] Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S.119.
[25] Benjamin/Scholem, Briefwechsel, S.269.
[26] Ebd., S.272.
[27] Ebd., S.198f.: „Die Welt Kafkas ist die Welt der Offenbarung, freilich in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird.“
[28] Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a. Main 2005, S.50.
[29] Zu Aby Warburgs trefflichem Ausdruck vgl.: Martin Warnke, „Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz“, in: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, hg. v. Werner Hofmann (u.a.), Frankfurt a. Main 1980, S.113-186.
[30] Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 2002, S. 375 ff. und S.407 ff.