"So denken, als hätte man noch nie gedacht" - Elias Canettis Aufzeichnungen
Aufzeichnungen hat Elias Canetti seine eigentümliche Kurzprosa genannt, deren Niederschrift über mehr als ein halbes Jahrhundert hin zwischen 1942 und seinem Tod 1994 nachgewiesen werden kann. Niederschrift und Publikation dieser Kurzprosa stehen zunächst im Schatten von Canettis Hauptwerk Masse und Macht, das nach mehr als zwanzigjähriger Arbeit 1960 zuerst veröffentlicht wurde. Der kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von Wien über Paris nach London emigrierte Canetti hatte sich dort um der Konzentration auf die große Abhandlung willen "eine Art Verbot" rein literarischer Arbeit auferlegt. Nur ein bis zwei Stunden will er sich täglich genehmigt haben, "ein Ventil dagegen zu schaffen", das er in der "Freiheit und Spontaneität" (1) seiner Aufzeichnungen ab 1942 gefunden habe, wie Canetti rückblickend erläutert. Sie sind jedoch nicht mit privaten Notizen zu verwechseln noch mit kontinuierlichen Tagebüchern, die etwa vom Fluß des Lebens mit seinen konkreten Ereignissen und Begegnungen handelten. Diskontinuität, Aussparung, Überraschung, Prägnanz, Gegensätzlichkeit als Qualitäten von gedanklichem Einfall und sprachlicher Fassung zugleich rücken Canettis Aufzeichnungen vielmehr in die Nähe von Aphorismen, die sich in entsprechenden Sammlungen von Aphoristikern des 20.Jahrhunderts zumeist ohnehin mit variablen Formen von Kurzprosa abwechseln; zu nennen sind Aperçus, Thesen, Reiseskizzen, Denkbilder, Zitatmontagen, Essaytorsi, Traumnotate, Phantasiefragmente. Erst in den Jahren nach der Publikation von Masse und Macht entschloß sich Canetti, seine Aufzeichnungen in den Druck zu geben. Als deren fernes Vorbild werden enthusiastisch Lichtenberg - "ein Floh mit dem Geist eines Menschen" (PdM, S.312) - und seine Sudelbücher aus dem 18.Jahrhundert anerkannt:
"Er ist nicht mit sich unzufrieden, weil ihm zuviel einfällt. Ein wimmelnder Geist, aber im Gewimmel ist immer Platz. Daß er nichts abrunden mag, daß er nichts zu Ende führt, ist sein und unser Glück: so hat er das reichste Buch der Weltliteratur geschrieben. Man möchte ihn immerzu für diese Enthaltsamkeit umarmen. (...) Er weicht Theorien nicht aus, aber jede Theorie ist ihm Anlaß zu Einfällen." (PdM, S.312)
Lichtenbergs Aphorismen mögen Canetti vielleicht auch deshalb als Muster der menschlichen Geistigkeit und Aufrichtigkeit erschienen sein, weil sie zu Lebzeiten des deutschen Provinzlers und Göttinger Experimentalphysik-Professors überhaupt nicht an Leser gerichtet waren und auch kaum als Ersatz für versäumte Anerkennung bei Hof oder im Salon erfunden gelten können. Erst nach dem Tode ihres Autors wurden sie in einer Auswahl bekannt gemacht, annähernd vollständig erst im 20.Jahrhundert veröffentlicht. Auch der Publikationsmodus von Canettis Aufzeichnungen erinnert fern an Lichtenbergs Vorbild. Über zwanzig Jahre nach der ersten Niederschrift erscheinen im Carl Hanser-Verlag in München, der seit der Neuausgabe des Romans Die Blendung ( zuerst 1935, dann 1948 ) von 1963 Canettis Werke betreut, 1965 zuerst Aufzeichnungen 1942-1948, denen 1970 der Fortsetzungsband Alle vergeudete Verehrung. Aufzeichnungen 1949-1960 nachfolgt. Mit geringfügigen Modifizierungen werden diese Aufzeichnungen dann 1973, ergänzt durch neue Aufzeichnungen aus den Jahren 1961 bis 1972, in den ersten, von der deutschen Literaturkritik einhellig gelobten Sammelband aufgenommen: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972 (=PdM). Bis zum Tode 1994 läßt Canetti drei weitere Bände folgen: 1987 Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985 (=GdU), 1992 Die Fliegenpein. Aufzeichnungen (=FP) und 1994 Nachträge aus Hampstead. Aus den Aufzeichnungen 1954-1971 (=NH). Hinzugekommen sind mittlerweile als postume Veröffentlichungen noch zwei weitere Sammlungen: 1996 Aufzeichnungen 1992-1993 (=AZ 92-93), herausgegeben von der Tochter Johanna Canetti, und 1999 Aufzeichnungen 1973-1984 (=AZ 73-84). Eines der am meisten gelesenen Werke Canettis behauptet hingegen eine Sonderstellung und kann trotz des generischen Untertitels kaum der eigentümlichen Kurzprosaform zugerechnet werden, wie sie durch die erwähnten Sammelbände als Aufzeichnungen angekündigt werden: Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise, zuerst 1968 erschienen, weichen als Reisebericht in Gehalt und Gestalt deutlich von Canettis sonstigen Aufzeichnungen ab, die sich niemals einem spezifischen Anlaß zuordnen lassen, indem sie sich dem alltäglichen Leben, Lesen, Schreiben, Denken ihres Autors verbunden zeigen.
Die literaturwissenschaftliche Frage nach der Gattungszugehörigkeit seiner Aufzeichnungen hat Canetti kaum beschäftigt, wohl aber die mit ihnen verbundenen Autoransprüche, wie der folgende selbstkritische Satz erkennen läßt:
"Er will zerstreute Aufzeichnungen hinterlassen als Korrektur zum geschlossenen System seiner Ansprüche." (FP, S.30)
Schon beim "einzigartigen" (PdM, S.312) Vater des deutschen Aphorismus, wenn auch unter ganz anderen gattungspoetischen Gegebenheiten und aus wohl unterschiedlichen Gründen, findet sich der Gattungsname nirgends. Wie Lichtenberg seine "Bemerkungen" hat Canetti seine Aufzeichnungen selber nicht Aphorismen genannt - was Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler nicht daran gehindert hat, ihm schon zu Lebzeiten (und mehr noch danach) einen Ehrenplatz, in gebührendem Abstand zu Lichtenberg freilich, in der deutschen Gattungsgeschichte einzuräumen. (2) Obgleich avantgardistische Formspielereien und Sprachexperimente Canetti wenig lockten, hat er sich als Romancier, Erzähler, Dramatiker, Essayist und auch Aphoristiker von vielfältigen Prosaformen doch herausfordern lassen. Seine schlichten Untertitel zur Werkbeschreibung, z.B. "Geschichte einer Jugend", "Lebensgeschichte", "Aufzeichnungen" , kündigen kaum klassifizierende Gattungsbezeichnungen an, vielmehr je individuelle Grenzüberschreitungen zum allgemeinen "Prozeß des Schreibens" hin, der jenseits aller Abstraktionen und konventionellen Einteilungen gerade das denkbar konkreteste "Tun" von Literatur und Werk meint: Erzählen, Aufzeichnen sind zugleich Formen des Lebens und der Literatur. "Der Prozeß des Schreibens hat etwas Unendliches." (GdU, S.9) - so lautet der erste Satz in Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985, und die eigene Beanspruchung durch "die Substanz des Lebens" wird als "Grund dafür" genannt, daß die Niederschrift "am wahrsten erscheint", "wenn sie sich durch keinerlei wie immer geartete Kunstmittel in Szene setzt" (GdU, S.9). Selbst der logische "Beweis", der seit Descartes im Verein mit dem methodischen Zweifel das Basisverfahren für das neuzeitliche, an Mathematik und Geometrie orientierte Denken und Schreiben bereitstellt, erscheint Canetti als rhetorische Inszenierung, die das, was sie beweisen möchte, erst herstellt, indem sie zugleich das "zerstört", dem der "Beweis" eigentlich gelten sollte:
"Der Beweis zerstört. Selbst das Wahrste zerstört der Beweis." (PdM, S.334)
Der verworfenen Artistik und Virtuosität rhetorischer Inszenierungen setzt Canetti gerade in seinen Aufzeichnungen das Ideal sprachlicher Schlichtheit entgegen, das sich aus einer trotzigen "Verantwortung" speist, die im "Beruf des Dichters" (3) ein hohes Pathos des originären Denkens und ein unbeirrbares Ethos des Schreibens mit einem tiefen Ernst für das "Weitertragen des Gelesenen" (GdU, S.96), für das "Wahrste" und gegen den Mißbrauch von Sprache und Tradition vereint. Die "Aufgabe des Dichters", die klein und bescheiden scheint, ist "am Ende vielleicht die wichtigste" (GdU, S.96): die immer wieder neue Sprachbemühung am einzelnen Gedanken, am einzelnen Satz, am einzelnen Wort, welche Canettis Kurzprosa von Anfang bis Ende, von der Provinz des Menschen bis zu den Aufzeichnungen 1992-1993 bestimmt. Sie macht Canetti zum Sprachdenker, der sich im Traditionsraum der Bibliothek der Literaturen und Mythen ebenso zurechtfindet wie im Theaterraum des modernen Alltagslebens mit seinen "akustischen Zitaten" (GdW, S.45):
"Wieviel Worte macht ein Mensch und wie wenig sind von ihm." (FP, S.49)
"Gedanken, die sich in den falschen Schwanz beißen. Gute Gedanken enden wie ein offener Mund." (AZ 73-84, S.62)
Stellt man diese peinlich genaue Beobachtung und Selbstbeobachtung, diese Selbstreflexivität des Sprachbewußtseins gerade beim Schreiben in Rechnung, so kann nicht verwundern, daß man in allen Bänden der Aufzeichnungen immer wieder auf Sätze trifft, in denen Canetti die kleinsten Einheiten der Sprache, nämlich Wörter, Worte und Sätze selbst thematisiert:
"Ein Satz allein ist sauber. Schon der nächste nimmt ihm etwas weg." (PdM, S.73)
"Sätze finden, so einfach, daß sie nie mehr die eigenen sind." (PdM, S.334)
"Das Fett der Werke wird verfaulen. Übrig bleiben ein paar Sätze. Aber welche werden es sein?" (NH, S.117)
"Das Deuten eines Satzes - das Einzige, was uns von der Beschäftigung mit Orakeln geblieben ist. Da es nicht in der Dimension der Angst vor sich geht, ist uns nicht einmal das geblieben." (NH, S.65)
"Zu den Wörtern, die ihre Unschuld behalten haben, die er ohne Scheu sagen kann, gehört Unschuld selbst." (GdU, S.121)
"Alles Wissen hat etwas Puritanisches; es gibt den Worten eine Moral." (PdM, S.98)
"Kannst du Worte finden, die einfach genug sind, ohne zu verheißen?" (GdU, S.100)
"Große Worte sollten plötzlich zu pfeifen beginnen, wie Teekessel, in denen Wasser erhitzt wird, als Warnung." (PdM, S.320)
Sprachliche Schlichtheit und Authentizität als Ideal kann das verfahrenstechnische Sparsamkeitsprinzip der Neuzeit respektieren, indem es den Formalismus des kartesianischen "clare et distincte" zugleich unterläuft. Canettis universalistische Abneigung gegen Definitionen und Disziplinen, Systeme und formale Spielereien schränkt Schlichtheit nicht auf ein wie immer logisches oder rhetorisches Beweisverfahren ein, sondern zielt darauf ab, dies Ideal im Medium der überlieferten Sprache durch die dramatische Momentdarstellung des produktiven Denk-Einfalls performativ zu realisieren.
"So denken, als hätte man noch nie gedacht. Das Ungebärdige des Anfangs, ich kann nicht darauf verzichten." (AZ 73-84, S.95)
Wachsame Selbstkontrolle und Selbstkritik des Autors an den Schnittstellen von Sprache und Gedanke bestimmen noch in solchen "Wortanfällen" jenes "Gewissen der Worte" (4) , das Canetti im doppelsinnigen Titel (genitivus subjectivus und genitivus objectivus) seiner Sammlung von Essays zu Sprache, Literatur und Geschichte als unhintergehbare Instanz in Sprachdingen vorangestellt hat.
"Durchsichtigkeit und Klarheit sind bei dir zu mißbrauchten Wörtern geworden. Du hast sie zu oft gebraucht. Du mußt neue Wörter für sie finden.
Mit Klarheit meinst du Unablenkbarkeit.
Mit Durchsichtigkeit meinst du Verzicht auf Wolken." (GdU, S.109)
Canettis Scheu, die eigenen Aufzeichnungen als Aphorismen zu benennen, hängt so gewiß mit seinem Ideal von sprachlicher Schlichtheit und seinem Widerwillen gegen jede Programmatik und jeden vorab verabredeten Bezugsrahmen zusammen, welche die Spontaneität des Denkens und Schreibens zu beeinträchtigen drohen. Im "Prozeß des Schreibens" setzt Canetti unvordenklich alles aufs Spiel, genauer: alles mit dem "Bleistift" auf ein Blatt:
"Es denkt nichts. Es ist glücklich. Es sieht meinem Bleistift zu und lächelt." (GdU, S.134)
Lehnt er die auf Artistik setzende Sprachvirtuosität zumal der Wiener Aphorismenschreiber im Gefolge der ästhetizistischen Nietzsche-Begeisterung rundweg ab, so blockiert spezifischer wohl noch der Name Karl Kraus, dessen berühmte Sprachkritik für ein brillantes Spiel mit den Worten steht, den Zugang zum Gattungsnamen "Aphorismus".
"Noch jetzt, noch immer empfindet er Karl Kraus als seinen Privat-Machthaber." (AZ 92-93, S.44)
Im Essay Karl Kraus, Schule des Widerstands hat Canetti Rechenschaft von der mühsam errungenen Loslösung vom einstigen Idol seiner Wiener Studienjahre abgelegt. Karl Kraus, der "Meister des Entsetzens" und der "Wörtlichkeit" (GdW, S.45), ist für Canettis Werk überhaupt und für seine Aufzeichnungen ganz besonders und wortwörtlich "Schule des Widerstands". Gerade der schroffe Dualismus von heilem Ursprung und heilloser Zeit, deren Grad der Heillosigkeit sich ihm am Umgang mit der überlieferten Literatur und Sprache der Deutschen zeigte, trieb Kraus zur schonungslosen Anklage und machte so versteckt ihren Produktivgehalt aus. Diese täglich neu in Angriff zu nehmende Reinigung der Mutter-Sprache durch Essay, Satire, Zitat und Kritik konnte Kraus nur als destruktives Werk sehen, nicht aber als "reines" Werk im Sinne des verehrten Klassikers Goethe. Der vermeinten Reinheit der Mutter-Sprache im Ursprung suchten seine epigonalen Worte in Versen zumeist vergebens zu genügen. Weniger in poetischen Versen, vielmehr in Prosasätzen und ihren Kontrafakturen von Sprichwörtern, Redensarten, Maximen, Devisen, Propagandasprüchen zeigt sich Kraus als Sprachvirtuose. Der Titel seiner ersten Sammlung Sprüche und Widersprüche (1909) macht schon deutlich, daß Aphorismen weniger Sprüche als vielmehr Widersprüche darstellen. Sie sind Widersprüche zu Sprüchen, die ihnen logisch und zeitlich vorausgehen und deren Kenntnis beim Leser vorausgesetzt ist:
"Der Übermensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Menschen voraussetzt."
"Wer andern keine Grube gräbt, fällt selbst hinein."
"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Denn: Jeder ist sich selbst der Nächste." (5)
Gleichgültig, ob die zum Gemeinplatz gewordene These eines großen Philosophen (z.B. Nietzsche) oder das abgegriffene, anonyme Sprichwort, gleichgültig ob der Bibelspruch oder die christliche Verhaltensregel oder auch die Kontamination aus zweien von ihnen den vorgängigen Spruch bildet, auf den sich Kraus' Widerspruch bezieht: Zu jedem scharfsinnigen Aphorismus läßt sich eine stumpfsinnige oder durch gedankenlosen Gebrauch verschlissene Redensart angeben, gegen die jener sich kehrt, über deren Fetzen er sich erhebt. Kraus' "Widersprüche" bevorzugen das Paradox als rhetorische Figur, weil sie im wörtlichen wie figurativen Sinn paradox sind. Indem sie sich gegen die übliche Meinung in der Öffentlichkeit richten und die sprachwitzige Opposition gegen die Banalität des alltäglichen Geredes zur eigenen formsemantischen Voraussetzung der Perfektion machen, setzen sie sich selbst dem seriellen Zwang aus, immer wieder neu bei heillosen Redensarten anzusetzen.
Die Qualitäten der Krausschen Aphorismen, die sich mit Adjektiven wie scharf, spitz, brillant, polemisch, satirisch angeben lassen, sucht der Leser in Canettis Aufzeichnungen vergebens. Der sprachlichen Pointe durch Witz und Wortspiel bei Kraus setzt Canetti die keusche sachliche Pointe gegenüber, die den Leser nicht hinreißen, sondern ihm nur zu denken geben will. "Es ist das Erblaster des Intellektuellen, daß die Welt für ihn aus Intellektuellen besteht." (GdW, S. 45) Canettis Einwand gegen den modernen Intellektuellen schließt auch den apokalyptischen Satiriker Karl Kraus ein, dem das Kritisieren der anderen und das eigene Rechtsprechen und Rechtschreiben zum zyklopischen Selbstzweck geworden sind.
"Ich habe es satt, die Menschen zu durchschauen; es ist so leicht und es führt zu nichts." (PdM, S.70)
Der Verachtung des Menschen, wie er eben ist, die beim satirischen Aphoristiker mit dem Stolz der jeweils besseren Einsicht dem Durchschauen auf den Fuß folgt, setzt Canetti die zunächst paradox erscheinende Konjunktion von "durchschauen" und "lieben" entgegen:
"Daß einer das Leben durchschaut und es doch so lieben kann! Vielleicht hat er eine Ahnung davon, wie wenig sein Durchschauen bedeutet." (PdM, S.227)
Canettis "Widerstand" gegen Kraus' Sprachsatire, welche durch das Zerstören der Phrasen nur immer wieder die die Sprache malträtierenden Menschen bloßstellt, um sich selbst zugleich im höchsten Sprachrichteramt zu bestätigen, bleibt dessen Sprachmanie in der peniblen Aufmerksamkeit auf "Wörtlichkeit" gleichwohl lebenslang verpflichtet. Karl Kraus hat ihm "das Ohr aufgetan" (GdW, S.48) für die deutsche Sprache im allgemeinen und für die "sprachliche Gestalt" (GdW, S.48) im besonderen, die darin unverwechselbar ein einzelner Mensch annehmen kann.
Obzwar selber in gewissem Sinne unerbittlicher Moralist, wendet sich Canetti nicht nur von Kraus ab, sondern darüber hinaus von der gesamten moralistischen Tradition des Aphorismus von La Rochefoucauld bis Nietzsche. Weder den Triumph, den das Entlarven des falschen Guten als des wahren Schlechten feiert, noch die Genugtuung, die der Alleinbesitz der besseren Einsicht vor der nur guten Gesellschaft einbringt, kann Canetti als "humane" Haltung beim Aphoristiker akzeptieren. Sie degradiert den Leser zum akklamierenden Vollzugsgehilfen - oder läßt ihn arrogant abblitzen. Canettis Aufzeichnungen wollen dagegen dem Leser "nicht das fertige Resultat eines Denkaktes, sondern das dramatische Zeugnis des Denkprozesses selbst" (6) zeigen. Weder Spruch noch Widerspruch ergeht an den Leser, sondern die Einladung, in den kleinen Bühnenraum einzutreten, wo das Denken in actu vor sich geht und noch nicht zum "akustischen Zitat", zur kommunikativen Redensart oder zur gelehrten Sentenz erstarrt erscheint.
"Eine Welt, in der kein Mensch den andern erkennt. Das Hauptgeschäft dieser Menschen bestünde darin, einander davon zu überzeugen, daß sie es sind." (PdM, S.192)
Indem der Leser aber selber in den magischen Raum des Denkvorganges eintritt, geschieht diesem und jenem zugleich eine jener "Verwandlungen", die Canetti in seiner Münchener Rede von 1976 Der Beruf des Dichters (GdW, S.276) ins Zentrum seiner poetischen Anthropologie gerückt hat. Anverwandlung des fremden und Lockerung des eigenen Zustandes, probeweise vereint im mimetischen Mitvollzug des Denkens, der den kritischen Nachvollzug hinter sich läßt, kann den Zugang zu den ontogenetisch und phylogenetisch verschütteten Erinnerungen "unserer prähistorischen Seele" (7) auftun.
"Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe." (PdM, S.278)
Hinter der Sprache und ihrer mimetischen Metaphorik gilt Canettis Augenmerk für "Verwandlungen" speziell dem Eingebildeten, ja dem Einverleibten, den verwischten Spuren und vernarbten Verkrüppelungen, die Einbildung und Einverleibung an Leib und Seele hinterließen.
"Ein Stück, das der Weltsituation heute entspricht. Wovon müßte es handeln?
Vom verstörten Atem." (AZ 73-84, S.52)
"Hole jeden hervor, wirklich jeden. Blas ihm Atem ein. Gib ihm seine Worte." (AZ 73-84, S.59)
"Auge", "Ohr", "Zunge", "Stimme", "Atem": für Canettis Anthropologie des sinnlich-übersinnlichen Leibes ist der Mensch "keine Einheit; was er vergewaltigt hat, enthält er alles in sich." (PdM, S.66) Nicht moralistische Kritik und Satire folgt daraus als Einstellung zum Menschen, mag dieser auch als zum Schlimmsten fähig erkannt sein. Es ist vielmehr gerade die solidarische Zeugenschaft des Dichter-Anthropologen für die durch Leid und Todesdrohung entstellte menschliche Kreatur, die gegen Bibel und schöpfungsgeschichtlichen Sündenfall das erste und letzte Wort behält.
"Die Bibel ist dem Unglück des Menschen angemessen." (PdM, S.55)
"Bei der Verwirrung zu Babel hat Gott sich verrechnet. Sie sprechen jetzt alle dieselbe Technik." (FP, S.14)
"Die Auferstandenen klagen plötzlich in allen Sprachen Gott an: das wahre Jüngste Gericht." (PdM, S.139)
Sind "Bibel", "Babel", "Jüngstes Gericht", "Gott" für Canetti allesamt nur unterschiedliche Namen für das durch nichts zu rechtfertigende "Unglück" des Menschen, so hat Gerhard Neumann ganz richtig Canettis Aufzeichnungen überhaupt als "Widerrufe des Sündenfalls"(8)
gedeutet. Susanna Engelmann geht in der von Neumann eröffneten Deutungsrichtung weiter, indem sie im Anschluß an Canettis "verkehrte" Lesart der biblischen Sprachmythen der Genesis unter dem Titel "Babel - Bibel - Bibliothek" jeweils gegensätzliche Schlüsselmotive seines Sprachdenkens in den Aufzeichnungen interpretiert: "Wort und Name", "Satz und Buch", "Lektüre und Verzeichnung" (9). Canettis Aufzeichnungen bieten gegen "Gott" und "Technik" gleichermaßen je unvordenkliche Versuchsanordnungen auf, die die unverfügbaren Vermögen - Geist, Phantasie, mimetische Verwandlungskraft - und die "vergewaltigten" und "vergessenen" Erinnerungen des Menschen - Träume, Ängste, Traumata - aufrufen, sich als Widerrufe, genauer vielleicht: Hilferufe in ihre Gedankenexperimente einzumischen. Voranstehen könnte solchen Aufzeichnungen jeweils die hypothetische Eingangsformel, die den Möglichkeitssinn des Sprachdenkens anzeigt, indem sie zugleich den routinierten Realismus der modernen Lebenswelt durchbricht: Was wäre wenn...
"Jeder müßte sich selbst beim Essen zusehen." (PdM., S.239)
"Vielleicht ist jeder Atemzug von dir der letzte Hauch eines anderen. (PdM, S.164)
Die Provinz des Menschen: der Titel der vielleicht bedeutendsten, sicher aber wirkungsmächtigsten Sammlung Canettis könnte das besondere geistige Territorium für alle seine Aufzeichnungen anzeigen. Canettis Buch-Fiktion einer kleinen humanen Provinz inmitten des Großreichs der Unmenschlichkeit steht für ein Irgendwo nirgendwo, für ein geistiges Asyl jenseits von Macht, Masse, Maschine, wo Mensch, Sprache, Denken, die sonst vertrieben sind, bei sich selbst sein können. Zugleich ruft sie einen Traditionsstrang der europäischen Aufklärung auf, die auch das hohe Zeitalter der Anthropologie gewesen ist: The proper study of Mankind is Man (Alexander Pope). Reiseberichte aus exotischen Ländern, zumeist fingierte aus entfernten Provinzen sagenhafter Reiche, erregten damals die Neugier der Lesenden. Durch die erbaulichen Darstellungen fremder Sozietäten und ihre allegorisierenden Auslegungen sollten zugleich nützliche Aufklärungen über die Natur der eigenen Gesellschaft vermittelt werden. Canettis aphoristische Provinz des 20.Jahrhunderts bietet uns keine exotischen Aufschlüsse über fremde Menschenkreaturen, es sei denn, wir wären diese heimatlosen neuen Nomaden, wir wären diese fremden, d.h. sich selber und den andern fremden, Kreaturen selbst. Sie öffnet sich uns als eine andere "Schule des Widerstands" gegen mythische Schuld, gegen Massenmachtrausch und billigen Warentraum, wo anders als in der urteilenden und verurteilenden Moralistik Menschenbeobachtung und Menschenprüfung geübt wird, ohne daß Selbstfremdheit - im grotesken Sinne Kafkas - aufhörte, fremd zu sein.
"Ein Heimkehrer in viele Länder." (GdU, S.118)
Wie entlegen auch immer, jede Provinz ist nach den kopernikanischen Wenden der Welt- und Icherkenntnis, die auch Theorie und Praxis, Form und Geschichte der neuzeitlichen Kurzprosaform des Aphorismus bestimmen, der Mittelpunkt der Welt - aber eben jede.
"Es gibt nur auserwählte Völker: alle, die noch bestehen." (PdM, S.289)
Was wäre wenn... In jeder Provinz mag, trotzig oder spielerisch, gegen alles Unglück eine "Vorstellung von Glück" gedeihen - womöglich eine andere vielleicht als die paradoxe des Autors in seiner Provinz des Menschen:
"Seine Vorstellung von Glück: ein ganzes Leben lang ruhig zu lesen und zu schreiben, ohne jemandem je ein Wort davon zu zeigen, ohne je ein Wort davon zu veröffentlichen. Alles was man sich aufgeschrieben hat, in Bleistift zu belassen, nichts daran zu ändern, als wäre es für gar nichts da: wie der natürliche Ablauf eines Lebens, das keinen verengenden Zwecken dient, aber ganz es selbst ist und sich so verzeichnet, wie man geht und atmet, von selber." (PdM, S.225)
Wie Karl Kraus, das Idol seiner Wiener Studienjahre, hat Elias Canetti mehrere Aphorismen-Bücher geschrieben, die er bei gleichzeitiger Abkehr von Moral, Kritik und Satire jedoch schlicht Aufzeichnungen nannte. Daß sie deshalb nicht schon mit Tagebuchnotizen oder bloßen Merkheften für wichtigere Werke verwechselt werden dürfen, kann keinem aufmerksamen Leser entgehen: Canettis Aufzeichnungen, von der Provinz des Menschen bis zu den Aufzeichnungen 1992-1993, gehören vielleicht zu den unerschöpflichen Büchern des vergangenen Jahrhunderts. Was wäre wenn... - indem sie unvordenkliche Versuchsanordnungen entwerfen, die den Leser von Ein-Fall zu Ein-Fall zum Mitspieler in Gedankenexperimenten einladen, gelingt ihnen, die im Medienzeitalter durch unübersehbare Trivialisierungstendenzen beschädigte Gattung des aphoristischen Schreibens zu erneuern.
Anmerkungen: