Nachwort
Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur[1], zuerst im Frühjahr 2002 im Hanser-Verlag in München publiziert, hat sogleich nach dem Erscheinen eine öffentliche Debatte in Zeitungen und Zeitschriften ausgelöst, deren Intensität und Ausmaß für literaturwissenschaftliche und germanistische Bücher in Deutschland ganz ungewöhnlich waren. Schlaffers essayistisch geschriebenem Buch gelang es nämlich, nicht nur die eigene akademische Zunft der Germanisten zu provozieren: „Viel wird geforscht, wenig gelesen.“(S.18) Die kurze Geschichte der deutschen Literatur traf zugleich auch wunde Punkte bei Agenten im deutschsprachigen Literaturbetrieb, die sich als Literaturkritiker und Literaturpromoter in Presse, Funk und Fernsehen mit medientechnologischen Neuerungen und marktgängigen Ideologien von Information und Aktualität auseinanderzusetzen haben.
Heinz Schlaffer, 1939 in Böhmen geboren, ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. Er promovierte in Würzburg und habilitierte sich in Erlangen. Schon 1972 übernahm er eine ordentliche Professur für Neuere deutsche Literatur in Marburg, um dann 1975 nach Stuttgart zu wechseln. Er hat sich vor allem mit der deutschen Literatur des 18. und 19.Jahrhunderts beschäftigt, mit dem Nachleben der Antike und - über germanistische Fachgrenzen hinaus - mit der Theorie der Literatur. Entstanden sind daraus Bücher über Lyrik im Realismus, erotisch-scherzhafte Dichtung, ästhetischen Historismus, Goethes Faust, philologische Erkenntnis, Borges und Nietzsches Stil.[2]
Schon Schlaffers Titel Die kurze Geschichte der deutschen Literatur läßt gerade durch seine Doppeldeutigkeit nichts an provokativer Klarheit vermissen. Mit ihren knapp 160 Seiten ist seine Literaturgeschichte im Gegensatz zu heute fachüblichen, oft mehrbändigen Monumentaldarstellungen durch Verfasserkollektive an Kürze kaum zu übertreffen. „So kurz“ deshalb, wie ihr letzter Satz sich bescheidet, “daß ihrem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt.“(S.158) Diese „deutsche Literatur“, die nach Schlaffers Philologen-Plädoyer alle Aufmerksamkeit der Leser verdient, umfaßt jedoch entgegen dem üblichen Germanisten-Dogma nicht eine über tausendjährige Geschichte, sondern gerade knapp zwei Jahrhunderte: von 1750 bis 1950.
Schlaffer stellt die These auf, daß erst von 1750 an – lange also nach den klassischen Epochen der italienischen (Dante, Petrarca), spanischen (Cervantes, Calderon), französischen (Racine, Molière) und englischen Literatur (Shakespeare, Milton) – in Deutschland Werke entstanden sind, die zur Weltliteratur zählen: die idealistisch-neuhumanistische Literatur des klassisch-romantischen Zeitalters. Er geht den sozial- und kulturgeschichtlichen Gründen für die deutsche Verspätung nach: Es mangelte an höfischer Kultur, an ästhetischem Vergnügungssinn, an Gelegenheiten zu rhetorischer Verfeinerung, um die Ausbildung und Pflege literarischer Tradition zu begünstigen. Was vor 1750 in deutscher Sprache geschrieben wurde, ist mit wenigen Ausnahmen (Luther) erst durch die Germanistik des 19.Jahrhunderts wieder aufgespürt und veröffentlicht worden. Ohne solche nationalphilologische Nachhilfe konnten nur einige protestantische Kirchenlieder sich im Fluß der Überlieferung behaupten. Als „geglückten Anfang“ markiert Schlaffer denn auch den aufgeklärten Ausgang aus Protestantismus und Pietismus, deren Sprech- und Schreibweisen in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts von der akademischen Jugend in poetische Haltungen überführt wurden: „Pfarrersöhne, Musensöhne“(S.54). Gemeint ist die klassisch-romantische Literatur vom Sturm und Drang bis zu Goethes Tod (1832), die auch die gängigen germanistischen Literaturgeschichten als „Blütezeit“ oder „Kunstperiode“ hervorgehoben haben. Die Literatur des späteren 19.Jahrhunderts wertet Schlaffer dagegen als Stagnation und Epigonentum: Erinnerung an die jüngstvergangene Kunstperiode einerseits, poetische Anpassung an die neuen Realitäten von Politik und Gesellschaft andererseits, während gleichzeitig in England und Frankreich die Moderne schon mit Vehemenz anbricht. Erst nach 1900 erreicht die deutsche Literatur mit dem Anschluß an die internationalen Moderne-Bewegungen ihren „zweiten Höhepunkt“(S.21). Schlaffer nennt Schnitzler, Hofmannsthal, Karl Kraus, Joseph Roth, Musil, Broch, Rilke, George, Borchardt, Ernst Jünger, Robert Walser, Kafka, Trakl, Benn, Thomas Mann, Döblin, Brecht, Benjamin, alle „vor 1900 geboren, fast alle vor 1950 gestorben“(S.132). Es gehört zur „Diskontinuität ihrer Geschichte“ und zur „Kürze ihrer Geltung“(S.20), daß die deutsche Literatur nach diesem „zweiten Höhepunkt“ dann ab 1950 nur noch „Niedergang“ und „geschwächtes Fortleben“(S.146) kennt. Schlaffer bedauert gekappte Traditionsstränge zur klassisch-romantischen wie zur klassisch-modernen Epoche, welche nach den Katastrophen von Nationalsozialismus, Weltkrieg und jüdischem Exodus nur schlecht durch einen außerkünstlerischen „Moralismus“( S.150) à la Böll und Grass kompensiert werden konnten.
In seinen Ausführungen zur kurzen Geschichte der deutschen Literatur nennt Schlaffer – zumeist apodiktisch - zwar Daten, Orte und Namen, doch fügt er diesen kaum stützende Nachweise und Beweisführungen hinzu. Auf Zitatnachweise, Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis hat er bewußt verzichtet. „Kurze Rede, langer Sinn“ – mit dem klassischen Philologen Nietzsche (1844-1900) teilt Schlaffers brillanter deutscher Stil ganz offensichtlich den - damals wie heute „unzeitgemäßen“ - Respekt vor den klassischen Forderungen der Rhetorik: latinitas (Grammatik), perspicuitas (Klarheit), brevitas (Kürze) und aptum, was eben – doppeldeutige - Angemessenheit zwischen Darstellungsform und Thema verlangt. Dieser Essay-Stil macht, daß die vermeintliche literaturhistorische Abhandlung sich wesentlich zum bildungspolitischen Plädoyer für ein reflektiertes Lesen (nicht nur der deutschen Literatur!) zuspitzt: Tolle, lege! Damit in eins wendet sich Schlaffer ab von der Germanistik und ihren umständlichen Kommentaren, die sich mit homogenem Forschungsinteresse gleichgültig auf alles erstrecken. Daß es einen Text gibt, mag dies abstrakte Forschungsinteresse auf den wissenschaftlichen Plan rufen. Die bloße Existenz des Textes ist aber noch kein hinreichender Ausweis dafür, daß er auch schon Leseinteresse beanspruchen kann. Wo Hans Robert Jauß 1970 in seiner rezeptionsästhetischen Streitschrift Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft[3] die Abkehr von der idealistischen Produktionsästhetik durch eine am Leser orientierte Literaturgeschichte gefordert hatte, verstellt Schlaffer über 30 Jahre später den Fokus der Literaturgeschichte noch konsequenter von der Produktion und Entstehung fort auf die Rezeption und Lektüre hin. Er wendet sich dem „literarischen Gedächtnis der Gebildeten“(S.19) und seiner für literaturgeschichtliche Tradition unverzichtbaren Überlieferungsfunktion zu, um den eigenen schmalen Kanon der deutschen Literatur durch die historische Faktizität eines stärker auswählenden Leseinteresses seitens der Bildungseliten zu stützen. „Versteht man unter Nationalliteratur jedoch den Zusammenhang der im literarischen Gedächtnis lebendigen Werke, so ist die Geschichte der deutschen Literatur überschaubar kurz und konzentriert.“(S.18)
Schlaffers Paradigma von Klassik und Romantik, ergänzt durch die „zweite Phase der deutschen Literatur, in der sie erneut zur Weltliteratur zählt“(S.139), nämlich die klassische Moderne von 1900 bis 1950, hält strikt an geschriebener Literatur fest. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht die Lektüre selbst, ausgeblendet bleiben die auch in der Germanistik diskutierten Fragen einer Erweiterung des Literaturbegriffs, einer Anpassung an die Medienpraxis des modernen Massenpublikums, einer Flucht in die Kulturwissenschaft. In der großen Debatte, die Schlaffers kleines Buch im Frühjahr 2002 in deutschen Zeitungen und Zeitschriften auslöste, konnten ihm verschiedene (darunter an sich wohlgesinnte!) Rezensenten denn auch „partielle Blindheit“ (Ulrich Raulff), „unzeitgemäße Betrachtung“ (Kurt Wölfel), „Aktualitätsverweigerung“ (Jochen Hörisch) oder „Frustration als Germanist“ (Martin Mosebach) vorhalten.
Man kann sich mit Schlaffer gewiß darauf verständigen, daß das literarische Wissen einer Gegenwart im wesentlichen durch eine doppelte Ausrichtung zustandekommt: einerseits auf die "klassischen Werke", andererseits auf die "neue Literatur". Er weist mit allem Nachdruck darauf hin, daß es sich bei dieser Ausrichtung keineswegs um ein natürliches Geschehen handele, vielmehr um selektive Operationen, die – so könnte man im Anschluß an Luhmanns Systemtheorie sagen - nach systemischen Mustern von Einschluß und Ausschluß funktionieren. Stets aktuelle Aufgabe der Literaturkritik ist demnach, aus der Fülle der „neuen“ Produktionen durch das ästhetische Urteil das geglückte Werk von den mißglückten zu unterscheiden, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf das lesenswerte Werk zu lenken. Literaturgeschichte, wie sie an Universitäten und Schulen gelehrt und gelernt wird, stellt ihrerseits den (mehr oder weniger gebildeten) Lesern den Kanon der „klassischen Werke“ bereit. Und Leser, mögen sie diese fundamentale Berufs- und Berufungsgrundlage auch allzuoft verdrängen, sind alle mit der Literatur Beschäftigten zuallererst: Literaturkritiker wie Philologen und nicht zuletzt Schriftsteller und Autoren selbst. Indem Literaturgeschichte aus den labyrinthischen Archiven überlieferter Texte und Fragmente die wichtigen „vergangenen“ Werke auswählt, wird diesen „ewig bleibenden“ im wohlgeordneten symbolischen Raum der Bibliothek zugleich Platz und Rang im kollektiven Gedächtnis zugeteilt.
Die Frage von Kanon und Geschichte der deutschen Literatur lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kanonbildung als Schnittstelle von literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Kanon und Geschichte der deutschen Literatur gehen auf die Romantik und das frühe 19.Jahrhundert zurück: Germanistik als neue Nationalphilologie konstruierte damals nicht nur die über tausendjährige Geschichte der deutschen Literatur, sondern stiftete auch den ausgewählten Kanon der deutschen Klassiker (von Lessing bis Goethe), der im Laufe des 19.Jahrhunderts durch „poetische Realisten“ bzw. bürgerliche Epigonen (von Stifter bis Storm) und im 20.Jahrhundert durch "moderne Klassiker" (Rilke, Thomas Mann u.a.) ergänzt wurde. In der Tat könnte die im Widerschein fortschreitender Globalisierung zunehmend sichtbarere Problematik von Nationalphilologien und literarischer Kanonbildung am Beispiel von Anfang, Fortgang und Ende der Germanistik als neuhumanistische Bildungsinstitution des "ganzen Menschen" zu lehrreicher Darstellung kommen.
Schlaffer reagiert in bestimmter Weise auf die gegenwärtige Krise der Philologien bzw. Fremdsprachenphilologien, die zunächst am drohenden Verlust des traditionellen Gegenstandsbereichs bewußt gemacht werden kann: der Sprache und Literatur einer Nation, sei es Frankreich, Deutschland oder Japan. Nicht nur zeigt sich im globalen Medienzeitalter eine Tendenz zum Englischen als lingua franca. "Cultural Studies" und "Area Studies", zunehmend interdisziplinär und transkulturell orientiert, verdrängen zudem das Studium der Literatur im allgemeinen und die nationalphilologische Kenntnis literarischer Kanones im besonderen. Soll sich die Funktion heutiger Kanonbildung nicht im modischen Aufstellen von Listen erschöpfen, darf nicht schon die Lektüre der verschiedenen Kanonlisten als Ausweis für Allgemeinbildung gelten. Wenn von der überlieferten klassischen Literatur mehr bleiben soll als die Kanonliste, muß sie auch rezipiert werden: Ihre Werke müssen gelesen und wiedergelesen werden.
Die in ihrer Grundsätzlichkeit vielleicht überraschende Frage Schlaffers nach dem „Deutschen“ in der Geschichte der deutschen Literatur ist so gesehen nicht provokativ-aggressiv sondern reflexiv-defensiv, nicht „nationalistisch“ sondern komparatistisch zu verstehen. Sie macht als Spur der Erinnerung sichtbar, was in der alltäglichen Indifferenz des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs sonst unbemerkt zu verschwinden droht: das Besondere der deutschen Literatur zu einer unwiederbringlich vergangenen, schon historisch gewordenen Zeit, die Schlaffer durch die Jahreszahlen 1750 und 1950 umreißt. Er knüpft dabei nicht an den methodischen Nationalismus der Gebrüder Grimm und der früheren Germanistik, vielmehr an August Wilhelm Schlegel und Goethe an, die sich noch als „Kosmopoliten der Europäischen Kultur“ behaupteten. Nicht ein „deutsches Wesen“, nicht „Rasse, Volk, Herkunft, Sprache, politische Schicksalsgemeinschaft“ (S.112) zeichnen für das Besondere der deutschen Literatur verantwortlich. Bestimmend wirkte vielmehr „die Überschneidung internationaler intellektueller Prozesse, die aus verschiedenen Epochen datierten, in Deutschland sich länger als anderswo hielten und deshalb im 18.Jahrhundert in unvorhergesehener Gleichzeitigkeit aufeinandertrafen: christliche Religiosität, bürgerliche Intimisierung, philosophische Aufklärung, kultureller Vorrang der Literatur vor den anderen Künsten.“(S.111) Schlaffers kurze Geschichte der deutschen Literatur sieht zwei Säkularisierungsschübe, die in Deutschland Weltliteratur hervorgebracht haben. Zweimal ist die Verwandlung religiöser Energien in Literatur gelungen: zunächst die Literarisierung der protestantischen Kultur in Sturm und Drang, Weimarer Klassik und Romantik, sodann die literarische Moderne, welche in Prag und Wien um 1900 aus der jüdischen und katholischen Kultur sich abhob.
Im aktuellen geistes-bzw. kulturwissenschaftlichen Kontext von Globalisierung und Multi-, Inter- oder Transkulturalität kann die komparatistische Frage nach dem „Deutschen“ der deutschen Literatur und nach der Germanistik als Nationalphilologie über Schlaffers Überlegungen hinaus neue Kontur und Brisanz gewinnen. Spätestens seit der um 1800 einsetzenden Institutionalisierung von „romantischen“ Nationalliteraturen gilt: Literarische Kanonbildung erscheint als Motor der Literaturgeschichte. Sie schreibt durch Verfahren der Inklusion/Exklusion ausgewählten Autoren und Werken post festum kanonische Geltung zu und vereinigt sie in der symbolischen Raumordnung einer überschaubaren wie imaginären Bibliothek. So bildet sie "künstlich" Traditionen aus, die gleichwohl mit Autorität belehnt sind und gleich präskriptiven Regeln Anspruch auf die Umsetzung von Text in Leben bzw. in kollektive Imagination erheben können. Nicht nur Philologen, die aus Lektüre, Quellenstudium und Interpretation „Sekundärliteratur“ aus „Primärliteratur“ herstellen, haben es mit Literaturgeschichte und Kanonbildung zu tun, nicht nur Literaturkritiker, die das Gelingen neuer Werke am kanonischen Bestand von National- bzw. Weltliteratur messen. Auf Literaturgeschichte und Kanon sind kaum weniger die Schriftsteller selbst verpflichtet, so aktuell ihre Werke auch scheinen mögen. „Ihre eigene Wirklichkeit gewinnt Literatur“ - so schreibt Schlaffer in der jüngst erweiterten Neuausgabe seines Hauptwerks „Poesie und Wissen“(2005, zuerst 1990) im Anschluß an den argentinischen poeta doctus Jorge Luis Borges - „durch den unablässigen Bezug auf die bereits vorhandene, also in die Wirklichkeit eingetretene Literatur. Poetische Erfindungen nehmen im historischen Prozeß der literarischen Tradition den Charakter von Wirklichkeiten an, sobald sie von späteren Autoren wiederaufgenommen werden.“[4] Zu fragen ist deshalb am Beispiel der Germanistik nach Anfang, Fortgang und vielleicht Ende literarischer Kanonbildungen, die im kulturpolitischen Spannungsfeld von Modernisierung und historistischer Romantik an der nationalpädagogischen Aufgabe der neuhumanistischen Bildung des "ganzen Menschen" (Goethe) mitwirkten.
Im frühen 19.Jahrhundert vollzog sich die Kanonisierung der deutschen Klassiker vor dem Hintergrund einer bis zur französischen Querelle des Anciens et des Modernes zurückreichenden Debatte um den fortdauernden Geltungsanspruch klassisch-antiker Autoren. Die Germanistik als "neue" Philologie emanzipierte sich aus dem Schoß der Klassischen Philologie (Latinistik, Gräzistik), indem sie die "neue" Bildung nationaler Klassiker (von Lessing bis Goethe) zunächst als komplementäre Erweiterung des "alten" klassischen Kanons betrieb. Durch das Weltbürgertum des klassischen Dichters, der als "ganzer Mensch" auch "Zeitgenosse aller Zeiten zu seyn" (Schiller) hatte, sollte die im Vergleich zu anderen europäischen Kulturnationen (Italien, Spanien, England, Frankreich) verspätetete Nationalliteratur der Deutschen der Weltliteratur der Griechen nachfolgen: "Universalität, Kosmopolitismus ist die wahre deutsche Eigenart." (August Wilhelm Schlegel) Die deutsche Philologie als historische Wissenschaft und akademische Disziplin nahm ihren Anfang in der Verbindung von romantischer Literaturtheorie und idealistischer Lehre von der Bildung des ganzen Menschen, d.h. dem Ideal der Humanität, das seinerseits aus der kosmopolitischen Anthropologie der Aufklärung hervorgegangen war. Daß die literarische Kanonbildung der Germanistik im Fortgang des 19.Jahrhunderts zunehmend Universalität und Kosmopolitismus zu ideologischen Mitteln für den nationalpädagogischen Zweck herabsetzte, kann gerade der Rückblick auf das komplexe Verhältnis von christlicher Religiosität, romantischer Poesie, aufgeklärter Anthropologie und philologischem Wissen zeigen, wie es u.a. bei Wieland, Herder, Moritz, Goethe, Schiller, Hölderlin, Jean Paul, Novalis, Friedrich und August Wilhelm Schlegel erscheint.
Schlaffers literaturwissenschaftliche Arbeiten bevorzugen nicht umsonst das 18.Jahrhundert und die Goethezeit. Mehr als die auf eine philologische Disziplin beschränkten Forschungsschwerpunkte liefern sie die Vorbilder seiner Gelehrtenexistenz, in welcher die Polarität von „unsterblicher“ Poesie und aufgeklärtem Wissen ihre Ergänzung in derjenigen von rhetorischem Scharfsinn und romaneskem Humor findet. So müßte Schlaffers Fähigkeit, über die ästhetische Erfahrung in und mit vergangener Literatur scharfsinnig zu schreiben, immer wieder an harten Schranken Schaden nehmen, wenn nicht Scherz und Humor – nicht zuletzt ob der eigenen, unzeitgemäßen Gelehrtenexistenz - mitspielen wollten. Schlaffers bildungspolitisches Plädoyer für das Lesen ist vielleicht nur ein brillant ausgeschriebener, dabei aus tiefer Trauer aufgestörter akademischer Zwischenruf. Zwischen den Zeilen gibt er zu erkennen, daß melancholische Einsicht ihn leitet: Jene gebildete Öffentlichkeit von Kennern und Liebhabern der klassischen deutschen Literatur, die sein Schreiben eigentlich erreichen möchte, existiert heute kaum mehr. Schlaffer selbst parodierend könnte man sagen: Wenig wird gelesen, viel aber gedruckt. Und auch im akademischen Exil, wo ja viel geforscht wird, wie das Beispiel der Germanistik und ihre Flucht in Medien- oder Kulturwissenschaft zeigt, scheinen die guten Tage des alten deutschen Bildungsbürgertums gezählt.
Schlaffers Buch Die kurze Geschichte der deutschen Literatur könnte nicht zuletzt auch der japanischen Germanistik Anstoß zur Selbstreflexion als Fremdsprachenphilologie sein: Wie, wozu, wann und wo wurden welche deutsche Autoren und literarische Werke in Japan in einen eigenen Kanon der deutschen Literatur aufgenommen? Daß der Kanon der japanischen Germanistik mancherorts von dem „Mutterkanon“ der deutschen Germanistik abweicht, kann keinem sachkundigen Beobachter entgehen. Welche Rolle spielt der germanistische Kanon im Konzert der ausländischen Literaturen, wenn man nicht nur die japanischen Bildungsanstalten sondern auch Feuilleton und Buchmarkt betrachtet? Wie steht es in Japan um jene gebildete Öffentlichkeit von Kennern und Liebhabern der „klassischen“ Literaturen, an die Schlaffers Plädoyer – auf verlorenem Posten? – eigentlich adressiert ist? Und auch die Frage könnte noch kontrastiv angeschlossen werden, welche Wege die literarische Kanonbildung (Anfang, Fortgang und vielleicht Ende?) auf dem Gebiet der japanischen Nationalliteratur seit der Meiji-Zeit eingeschlagen hat.
Anmerkungen:
[1] Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München/Wien 2002 (Taschenbuchausgabe München 2003). Es liegen bereits Übersetzungen ins Englische, Französische und Koreanische vor.
[2] Vgl. Heinz Schlaffers Bücher: Lyrik im Realismus. Studien über Raum und Zeit in den Gedichten Mörikes, der Droste und Liliencrons, Bonn 1966; Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland, Stuttgart 1971; Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche, Frankfurt am Main 1973; Studien zum ästhetischen Historismus (zusammen mit Hannelore Schlaffer), Frankfurt am Main 1975; Faust. Zweiter Teil. Die Allegorie des 19.Jahrhunderts, Stuttgart 1981; Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt am Main 1990; Borges, Frankfurt am Main 1993; Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, München 2007 .
[3] Schlaffers unausgesprochene Überbietung der Konstanzer Rezeptionsästhetik bemerkt auch der Rezensent Michael Feldt, wenn er schreibt: „Anders als Jauß, geht es Schlaffer nicht um eine rezeptionsästhetische, sondern um eine bildungsgeschichtliche Explikation.“- Vgl. Michael Feldt, Panoramen der Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft? In: Neue Beiträge zur Germanistik I, Internationale Ausgabe von Doitsu Bungaku, Heft 109, München 2002, S.278.
[4] Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 2005, S.264.