Moderne Aphoristik. Mediale Möglichkeiten und literarische Form.
"Ich bin ein Worte-macher: was liegt an Worten! Was liegt an mir!"
Friedrich Nietzsche[1]
"Einen Aphorismus kann man in keine Schreibmaschine diktieren. Es würde zu lange dauern."[2]
Die folgenden Überlegungen und Ausführungen suchen zwei Komplexe in erkenntnisfähige Nachbarschaft zu bringen, die dem analytischen Sachverstand zunächst entfernt, ja beziehungslos oder unvereinbar erscheinen mögen: Formtheorie und moderne Aphoristik hier, Medientheorie und mediale Möglichkeiten von Kommunikation dort. Dieser Versuch, den recht gründlich, aber eben literaturwissenschaftlich beschränkt ausgearbeiteten Komplex von Aphorismus bzw. Aphoristik und den durch diskursive Moden zuletzt ebenso universalisierten wie zersplitterten von Medien bzw. Medialität einander anzunähern, verlangt wohl in den Grenzen des hier Möglichen, das Verständnis von aphoristischen Formen wie auch das von Medien neu zu überdenken. Im Gang der nachfolgenden Darstellung liefert Literaturwissenschaft die Ausgangsfrage, welche im literarischen Rahmen herkömmlicher Gattungstheorie nur "naiv", jedenfalls nicht zureichend beantwortet werden kann: diejenige nach der Form moderner Aphoristik. Medientheorie ihrerseits soll deshalb in der womöglich paradoxen Nähe solcher Versuchsanordnung "nur" bemüht werden, um herauszufinden, ob und inwiefern ihr Antworten und Hinweise für die gewünschte literarische Formbestimmung zu entlocken sind. Moderne Aphoristik figuriert also keineswegs nur als "Material", um - womöglich eine bestimmte - Medientheorie am - womöglich verkehrten - Beispiel zu verdeutlichen, vielmehr ist diese umgekehrt als methodischer Umweg zu sehen, der zu jener zurückführen soll.
"Kurze Rede, langer Sinn - Glatteis für die Eselin!"[3]
Das letzte von Nietzsches "Sieben Weibs-Sprüchlein" aus dem "Siebenten Hauptstück: unsere Tugenden, 237" in Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (zuerst 1886) exponiert diesseits des Spotts der inszenierten "kurzen Rede" das durchaus ernste Problem der Formsemantik moderner Aphoristik, das ebenso wie für Nietzsches epigrammatisches "Weibs-Sprüchlein" selbst auch für alle möglichen "kurzen Reden" und "Sprüchlein" gilt: Zeichen und Bedeutung, Signifikanten und ihr Signifikat treten schon sichtbar wie hörbar auseinander, vertauschen in einem rhetorischen Chiasmus ihre nach traditioneller Hermeneutik erwartbaren Positionen und Funktionen nach Quantität und Umfang. Aus der Rezeptionserwartung "viele Worte / ein Sinn" wird durch Überkreuzstellung, wenn nicht buchstäblich "ein Wort / viele Sinne", so doch figurativ eben "Kurze Rede, langer Sinn". Als verblüffendes Ergebnis auf der Weiße des Papiers erscheint so, daß eben wenige Zeichen "kurzer Rede" direkt an den "langen Sinn", genauer: dessen Möglichkeiten anstoßen. Das Paradoxon dieses möglichen "langen" Sinnes aber ist "Glatteis" nicht nur "für die Eselin", sondern eben für alle Leserinnen und Leser, eingeschlossen alle fachwissenschaftlichen bzw. philologischen, die nach Maßgabe von Hermeneutik und Semantik den "kurzen" Sinn suchen, doch nicht finden können: Wer (so) sucht, der findet (gerade nicht).
"Kurze Rede, langer Sinn -" auch Nietzsches moderne Aphoristik ist ihrem auf "Zukunft" angelegten Sprachgestus und Schriftduktus zum Trotz zuletzt nicht ohne Ahnenforschung ausgekommen. "Was ich den Alten verdanke" - in der späten, im Herbst 1888 zunächst im Umkreis der antichristlich-dionysischen Autobiographie Ecce Homo. Wie man wird, was man ist geschriebenen Berufungsgeschichte hat Nietzsche, der einstige Schüler des humanistischen Gymnasiums und vormalige klassische Philologe, den eigenen "Sinn für Stil, für das Epigramm als Stil"[4] vor allem bei Sallust und Horaz wiedererkennen wollen: "Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen"[5]. Was der späte Nietzsche im Rückblick als Epigramm-Stil an "den Alten" rühmt, steht kaum verhohlen für die selbstrechtfertigende Absicht, das eigene - aphoristische - Schreiben über Zeitalter hinweg als dessen Wiederkehr in der imaginären Bibliothek einer Weltliteratur zu verewigen. Unverkennbar erscheint auch die ästhetische, d.h. hier fundamentale Opposition zur dekadenten Poesie "blosser Gefühls-Geschwätzigkeit"[6], die mit Roman-Lesesucht und Opern-Maskeradenlust in einem durch Arbeitsmoral gleichzeitig so nüchternen 19.Jahrhundert nicht weniger schwatzhafte Geschwister hatte.
"Denker als Stilisten. -
Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mitteilen."[7]
Nietzsches Entdeckung des Aphorismus und seine gleichzeitige Abkehr von gelehrten Abhandlungen und "unzeitgemäßen Betrachtungen", von Essay, Traktat, Kommentar und Kritik, können schon auf die Jahre seit 1874/75 datiert werden. Sie werden begleitet - die biographischen Umstände in Klammern gesetzt - von entsprechenden Lektüren, die über die altphilologische Sprachpflege hinaus gerade weniger "die Alten" betreffen: Nietzsche begegnet etwa einer Auswahl aus Lichtenbergs Sudelbüchern, ist mit Schopenhauers Aphorismen beschäftigt, setzt sich mit den Sentenzen und Maximen der französischen Moralisten auseinander. Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (zuerst 1878) ist das erste von Nietzsches durchnummerierten Aphorismenbüchern, in denen der "Sinn für Stil" zum rhetorisch-philosophischen Programm erhoben und in Schreibexperimenten vielfach neu konkretisiert wird. "Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf"[8]. Insbesondere die "Fortsetzung und Verdoppelung einer geistigen Kur, nämlich der antiromantischen Selbstbehandlung"[9], - wovon die Sammlungen Vermischte Meinungen und Sprüche (zuerst 1879) und Der Wanderer und sein Schatten (zuerst 1880), beide zusammen1886 als Zweiter Band von Menschliches, Allzumenschliches neu herausgegeben, dem Leser Zeugnis ablegen - kreisen in multiplen Ansätzen immer wieder um Fragen des Schreibens und Lesens selbst, wo im Auge des Perspektivenwirbels jener "Sinn für Stil" steht.
Unter dem Titel "Prämissen des Maschinen-Zeitalters" hatte sich Nietzsche im 278. Aphorismus von Der Wanderer und sein Schatten als orakelnder Weissager der Moderne versucht, indem er die Aufmerksamkeit auf die verkehrs- und nachrichtentechnischen Möglichkeiten seiner Zeit lenkte: "Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat."[10] Eine "Conclusion" zu Nietzsches "Prämissen" - posthum nach hundert Jahren - hat Friedrich Kittler gezogen. Mit retrospektiv-prospektivem Blick auf die nachrichtentechnische Zeichenökonomie von Telegramm und Postkarte faßt er den "Stil" von Nietzsches Aphorismenbüchern als "Telegrammstil", der die "Herrschaft des rätselhaften Buchstabens im Aufschreibesystem von 1900" vorbereitet haben soll: "Signifikantenlogik seit Nietzsche ist eine Technik der Verknappung und Vereinzelung. Nur ein Minimum in Umfang und Zahl der Zeichen kann ja das Maximum ihrer Energie freisetzen. An solche Kalküls reichten hermeneutische Stellenwerttheorien einfach nicht heran."[11]
Wenn Komplexitätssteigerung systemtheoretisch als unhintergehbares Prinzip der Moderne gelten soll, so findet es doch gleichzeitig in der autopoietischen Reduktion solcher Komplexität sein Pendant. An der Schnittstelle der datenverarbeitenden Basisoperationen von Formalisierung und Quantifizierung scheinen komplementär im Kontrast technische Medien und lebendige Menschen miteinander verschaltet in den modernen Dienst der Komplexitätssteigerung und Komplexitätsreduktion genommen. Kittler sieht, gebrochen durch das Modellprisma eines Aufschreibesystems purer Signifikanten, die Nachrichtenökonomie der Moderne in sparsamen wie optimierten Zeichensystemen zum Einsatz gekommen, die sowohl auf der Ebene der literarischen wie der alltagssprachlichen Verwendungen durchschlagen. Nietzsche taugt Kittler zum Propheten dieses Mediatisierungsprozesses in Kunst, Wissenschaft und Lebenswelt, indem er den Fall Nietzsche zur folgenreichen, gleichsam surrealistischen Begegnung von halbblinden Philologenaugen und einer Schreibmaschine mit kugelförmiger Tastatur zuspitzt. Dem Propheten Nietzsche gesellt Kittler den "Aufschreiber" Schreber hinzu, dessen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (zuerst 1903) weniger den berühmten Paranoia-Fall Schreber als vielmehr den zeichenökonomischen Nexus zwischen Psychophysik (Flechsig) und Psychoanalyse (Freud) belegen: "Die Denkwürdigkeiten stehen und fechten im Krieg zweier Aufschreibesysteme. Sie selber sind ein kleines Aufschreibesystem zu dem einzigen Zweck, die dunkle Wirklichkeit eines anderen und feindlichen zu beweisen."[12] Ein Aufschreibesystem purer Signifikanten und reiner Materialgerechtheit macht freilich im Extrem, d.h. als generalisierte écriture automatique, keinen Unterschied mehr zwischen Sinn und Unsinn, Formsemantik und bloßer Formalisierung, bedeutsamer Rekurrenz und zufälliger Wiederholung, solange nur die Zeichenflucht selbst fortdauert.
"Seitdem es einen Weltpostverein gibt, haben Signifikanten ihre standardisierten Preise, die aller Bedeutung spotten. Seitdem es Telegramm und Postkarte gibt, ist Stil nicht mehr Der Mensch, sondern eine Zeichenökonomie."[13] Vom Postkarten- und Telegrammstil um 1900 zum SMS-Stil des Simsens nicht nur jugendlicher Mobile Phone User um 2000: daß die Umgangssprache dem Diktat von moderner Nachrichtentechnik und Zeichenökonomie unterworfen ist und vielfältige Interferenzen mit bestimmten literarischen Verwendungen bestehen, kann heute kaum mehr bezweifelt werden. Ob sich aus medientechnischen Diktaten und Vorgaben im Sinne Kittlers, der das Irrenhaus der Psychophysik und das Künstlercafé der Avantgarde neurophysiologisch (neurotheologisch?) kurzschließt, jedoch formsemantische Bestimmungen für moderne Aphoristik gewinnen lassen, die über die Herleitung medialer Möglichkeiten für ihre Sprachformen hinausgehen, muß dagegen wohl offen bleiben.
"Medium", zunächst nur lateinisches Fremdwort für "Mittel", "Mittelglied" oder "Vermittler", ist erst während der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Davor, von etwa 1880 bis zur letzten Jahrhundertmitte, sind allerdings schon viele der noch heute wichtigen Kommunikationsapparate und Verkehrsdispositive entwickelt worden. Eine "Mediengeschichte als Diskursgeschichte", die den zunächst noch erst kasuistisch von Fall zu Fall zur Sprache gebrachten Sachen eher als dem Wort auf der Spur ist, kann den Zeitraum entsprechend evident als "Entstehungsherd von Medientheorie"[14] zeigen. Erst in dem Maße jedoch, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg in den Industrieländern das Fernsehen die Bürgerstuben eroberte, wurde "Medium" mit "Massenmedium" gleichgesetzt, das Fernsehen damit als "Leitmedium" von Information und Unterhaltung im Alltag anerkannt. Fortan wurde möglich, den Kollektivsingular "Medium" als Oberbegriff einzusetzen "für Realabstraktionen und Erfahrungen, die erst der Prozeß der Mediatisierung hervorgebracht hat."[15] "Medium" drang in die wissenschaftliche Terminologie ein, die gerade in den 1960er Jahren eine sozialwissenschaftliche Runderneuerung erfuhr. Intensionsarme Begriffe, doch mit umgekehrt proportial gewaltigem Extensionsgrad, und die entsprechenden Theorien von universellem Zuschnitt und Anspruch bestimmten mehr und mehr die Diskussion: u.a. Gesellschaft und Gesellschaftstheorie, Kommunikation und Kommunikationstheorie, Struktur und Strukturalismus, System und Systemtheorie. Medientheorie ihrerseits ist erst als Beschäftigung mit den technologischen Unterschieden von "mass media" aus der allgemeinen Kommunikationswissenschaft hervorgegangen, die während des Zweiten Weltkriegs zu geheimdienstlichen und propagandistischen Zwecken in Amerika begründet worden war.[16]
Wie läßt sich im 20.Jahrhundert medientheoretisch die Permanenz von Medienevolution aufgrund der technisch bedingten Innovationsdynamik bei gleichzeitig unleugbarer Koexistenz von ältesten und neuesten "Medien" erklären? Herbert Marshall McLuhan (1911-1980) konnte sich mit der anthropologischen Auffassung von Medien als "extensions of man" zum prominentesten unter den Pionieren der neuen Disziplin profilieren. Im amerikanischen Kontext historisch-ethnologischer Forschungen zum Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Kommunikation (u.a. Innis, Havelock, Goody) erklärte er das Zeitalter, in dem das gedruckte Buch die menschliche Wahrnehmung in der westlichen Zivilisation geformt hatte, für abgelaufen, um die eigene Gegenwart des elektrischen Zeitalters als postliterarisch und also vorliterarischen Verhältnissen näher als der Kultur- und Weltanschauung des Buchdrucks zu preisen. Berühmt wurde seine Utopie eines kommenden Weltdorfs, in dem vorliterarische Mündlichkeit durch Elektronik postliterarisch perfektioniert ist. Obwohl McLuhans wichtigste Bücher, The Gutenberg-Galaxy. The Making of Typographic Man (1962) und Understanding Media. The Extensions of Man (1964), die beide zuerst 1968 auf deutsch erschienen, vielfache wie kontroverse Mediendebatten und Mediengeschichten inspiriert haben, können sie selber kaum historisch-kritischen Wissenschaftsansprüchen entsprechen. Sie präsentieren sich sichtlich als radikal aufklärerische Streitschriften, bieten "aphoristische" Mosaiken aus Beobachtungen und Behauptungen, Zitaten und assoziativen Deutungen. Indem sie logischen Beweis und systematische Theorie hinter essayistischer Rhetorik und aphoristischer Konstellation zurückstellen, vermögen sie eher durch Provokation des Lesers als durch Argumentation zu überzeugen. Daß solcherart Medientheorie als Spezifizierung von Kommunikationstheorie zuerst in Amerika entstand, mag kein Zufall gewesen sein. Dort traf noch Mitte des 20.Jahrhunderts die technikgesteuerte, zweite Oralität von Telefon, Grammophon, Rundfunk und Fernsehen auf residuale Räume einer ursprünglichen Oralität, welche die humanistisch disziplinierte Schriftkultur in Europa durch gleichförmigere, nationalstaatliche Ausbreitung seit dem 19.Jahrhundert schon weitgehender zum Verschwinden gebracht hatte.
Gegen die anfängliche Skepsis von offenen und heimlichen Schriftverehrern[17] hat sich auch in Deutschland spätestens seit dem Ende der 1980er Jahre und der Ankunft der elektronischen Medien mit ihrer intensiven wie extensiven Mediatisierung der Lebenswelten McLuhan als prophetischer "Messenger" durchgesetzt, an dessen pointierten Aussagen kaum ein Medientheoretiker, kaum eine Geschichte der Medien vorbeikommt. Hörisch etwa schreibt: "Die Geburt der neueren Medienwissenschaft läßt sich ebendeshalb präzise datieren. Sie betrat die Bühne mit dem Paukenschlagsatz des Exzentrikers McLuhan: The medium is the message."[18] Verdienst McLuhans ist nicht nur, die Prägung der Information durch Instanz und Apparat ihrer Vermittlung erfaßt, sondern im "Inhalt" komplexer Medien außerdem andere, "einfachere" Medien erkannt zu haben. Dies wird am Beispiel des elektrischen Lichts gezeigt, das als gleichsam "inhaltsloses" Medium die eigentliche "message" verkündet: "Elektrisches Licht ist reine Information. Es ist gewissermaßen ein Medium ohne Botschaft, wenn es nicht gerade dazu verwendet wird, einen Werbetext Buchstabe um Buchstabe auszustrahlen. Diese für alle Medien charakteristische Tatsache bedeutet, daß der 'Inhalt' jedes Mediums immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist. (...) Denn die 'Botschaft' jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt."[19]
So ist es anthropologischer Medientheorie möglich geworden, mit der Ahnungslosigkeit eines naiven Humanismus gegenüber Medienwirkungen aufzuräumen. Medien sind wie alle technischen Mittel niemals neutral, können deshalb auch niemals nur nach ihrer Nutzung durch den Menschen beurteilt werden. Wenn von einem eigentlichen Wesen medialer Botschaften gesprochen werden kann, dann sollte es in den Wirkungen und Auswirkungen von Medien auf den Menschen, d.h. im physiologischen Zusammenspiel der verschiedenen Sinne, gesucht und untersucht werden. Durch Schmecken, Riechen, Fühlen, Hören und Sehen orientieren sich Menschen, suchen durch Erinnern und Vorstellen, durch Prüfen und Vergleichen dabei herauszufinden, was mit dem so Wahrgenommenen anzufangen ist. Im Anschluß an McLuhans Rede von den Medien als Ausweitungen des Menschen, dabei Hegels Reflexion zum "wunderbaren" Begriffspaar Sinn ("die Bedeutung", "das Allgemeine der Sache") und Sinne ("die Organe der unmittelbaren Auffassung") aufgreifend, skizziert Hörisch wiederum das eigene mediengeschichtliche Unternehmen: "Die leitende These der vorliegenden Mediengeschichte lautet: Die im Bann von Stimme und Schrift stehende frühe Mediengeschichte ist sinnzentriert, die neuere Medientechnik fokussiert hingegen unsere Aufmerksamkeit immer stärker auf die Sinne."[20] Wo die geschichtlichen Wirkungen und Auswirkungen von Medien auf die Sinne des Menschen in Frage stehen, wird die Aufmerksamkeit unweigerlich auf die Veränderlichkeit der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt gelenkt: "Mediengeschichte ist als Wahrnehmungs- und Erfahrungsgeschichte zu konzipieren."[21]
Die Bestimmung von Formen der Wahrnehmung und Erfahrung, wie sie Menschen im Umgang mit ihren Ton-, Bild- und Schriftmedien bis heute entwickeln konnten, hat sich Medienästhetik zur besonderen Aufgabe gemacht. Im Gegensatz zur allseits überbordenden materialen Vielfalt von Medientechnologien und ihren Sieges-Geschichten der Menschen-Durchformungen und -Disziplinierungen neigt Medienästhetik - vornehmlich als Rezeptionsästhetik - dazu, sich an die relative Konstanz ästhetischer Wirkungen zu halten, die ihr nicht zuletzt in der Koexistenz von ältesten und neuesten Medien zur anthropologischen Rechtfertigung dienen kann. Indem sie ihren ästhetischen Gegenstandsbereich in Anlehnung an die Etymologie im weiten Sinne von "aisthesis" anthropologisch bestimmt, kann sie ferner nicht umhin, sich zugleich von Ästhetiken der Repräsentation, der Darstellung und des Inhalts abzuwenden, welche die Kunstphilosophie im Gefolge von Platon und Hegel bis zu Adorno begeisterten. In der europäischen Tradition findet Medienästhetik gleichwohl nobilitierte Ahnen: etwa Aristoteles' Poetik der Rhetorik, Baumgartens "Aesthetica" bzw. "scientia cognitionis sensitivae", Kants erkenntniskritische Aufhellung des Geschmacksurteils, Nietzsches "Physiologie der Kunst"[22]. Durch das Anknüpfen an einen weit gefaßten Begriff von "aisthesis" läßt sich ein methodischer Vorrang der Wahrnehmung vor dem jeweils Gehörten und Gesehenen begründen, den Schnells "Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen"[23] konsequent auf neue Medien bezogen hat.
Nicht nur die historisch privilegierten Sinne von Auge und Ohr, nicht allein die "äußeren" Sinne des Menschen sind indes involviert, auch die "inneren" Vermögen der Mimesis, der Erinnerung, der Imagination und der Abstraktion. Die Trennung der nur "äußeren" Sinne von den höheren, "inneren" Vermögen des Denkens und der reflektierenden Vernunft steht noch immer im Banne einer alteuropäischen Tradition, die den Aufbau psychischer Fähigkeiten hierarchisch geordnet wissen wollte: Der Mensch wurde im Kosmos als sinnlich-übersinnliches Wesen zwischen Gott oben und Tier unten imaginiert, wodurch den "inneren" und "übersinnlichen" Vermögen göttliche Ehren zukamen, die "äußeren" Sinne und mit ihnen das Wahrnehmen aber umgekehrt tierische Erniedrigung erfuhren. Demgegenüber hat etwa Freuds Traumdeutung (1900) "dem einst allmächtigen, alles andere verdeckenden Bewußtsein" keine andere Rolle mehr als "die eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten"[24] zuerkennen wollen. Wahrnehmung der Außenwelt und Wahrnehmung der Innenwelt rechnen Freuds spätere metapsychologische Arbeiten dann auch als zwei komplementäre Seiten zum "Oberflächensystem W-Bw"[25] bzw. Wahrnehmung-Bewußtsein, das von den Systemen des Vorbewußten (Vbw) und des Unbewußten (Ubw) unterschieden ist, wo Erinnerungsreste und Gedächtnis verschüttet sind. Und Freuds kulturtheoretische Schriften schließlich, welche Kulturentwicklung als Triebsublimierung entschlüsseln, machen nach dem Ersten Weltkrieg ein doppeltes Vergessen für das dumpfe "Unbehagen in der Kultur" verantwortlich: Weil die Menschen im Kulturprozeß ihre Abkunft aus dem Tierreich ebenso verdrängten wie die sinnliche Basis und Herkunft ihrer Ideenwelt, können sie sogar den Krieg nur von Fall zu Fall als Rückfall in die Barbarei beklagen, nicht aber als durchaus konsequenten Paroxysmus im "Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb" einsehen, "wie er sich an der Menschheit vollzieht."[26]
Angesichts der modernen Mediatisierung der Lebenswelten stimmen Medientheorien zwar weitgehend überein, daß die je dominierenden Kommunikationsmedien mit den Verhältnissen der (Re-) Produktion, Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Daten und Zeichen, von Bildern und Tönen, von Texten und Zahlen, auf wie immer komplexe Weise, auch das Weltbild und die Wahrnehmungsmuster der Menschen prägen. Unklarheit besteht jedoch in der Frage, "was denn überhaupt als Medium gelten soll"[27], worauf Stefan Rieger in seinem Versuch einer medienanthropologischen Fundierung des Menschen im Anschluß an Luhmanns Systemtheorie und Foucaults Diskursanalyse mit besonderem Nachdruck insistiert. Wenn man Medien nicht im technischen Reduktionismus mit Apparaten und Armaturen gleichsetzt, sondern auch als Modelle zur Beschreibung historisch ausgefalteter Komplexitäten gelten läßt, kann der Mensch zuletzt sogar "als Medium der Medien"[28] erscheinen. Riegers Theorie der Moderne geht mit diesem Vorsatz von einer Steigerbarkeit technischer Apparaturen einerseits und einer "Steigerbarkeit der Individualität des Individuums"[29], d.h. seiner evolutionären Errungenschaften, seiner kognitiven Fähigkeiten und psychischen Kompetenzen, andererseits aus, die bis zur Unkenntlichkeit ineinandergreifen: "Mensch und Medium sind vielmehr in ein Figurationsverhältnis eingespannt, das die Rede über den Menschen als Spiegelseite einer Rede über die Medien und umgekehrt die Rede über die Medien als Rede über den Menschen aufscheinen läßt: Techno- und Anthropomorphismus oszillieren bis zu einem Punkt, der die Gültigkeit des Differenzschemas Mensch/Medium selbst in Frage zu stellen vermag."[30]
Es ist bekannt, daß Freud den Innovationen der künstlerischen und literarischen Avantgarden eher skeptisch bis reserviert gegenüberstand. Dennoch steht die Entfaltung der Psychoanalyse nach 1900 im selben Kontext von Krise und Umbruch der kulturellen Referenzen wie die Provokationen der Neuerer. Bildungsbürgerlich institutionalisierter Geist und Sinn verblassen vor der psycho-physischen Empirie des "unrettbaren"[31] Ich und dem soziologisch wie sozialpsychologisch unlösbaren "Rätsel der Masse"[32]. Was ist Drinnen? Was Draußen? Was ist Materie? Was flüchtige Erscheinung? "Dem Menschen traut in der Moderne niemand mehr - und er sich selbst am allerwenigsten." Rieger hat durch seine diskursanalytischen Ausgrabungen zu Psychotechniken des Unbewußten seit 1900 gezeigt, daß es neben dem kulturkritischen Kanon der Moderne von Freud, Simmel, Benjamin, Kracauer bis Musil vergessene Texte von humanwissenschaftlichen Sachbearbeitern der Moderne und ihrer Latenzen gibt, die - von Fritz Giese über Willy Hellpach bis zu Max Wertheimer - strategisch darlegen, wie zwischen Leben und Labor "Bewußtseins- und Wahrnehmungsschwellen durch Experimentalanordnungen und ihre technischen Apparate unterlaufen" werden können, damit der Mensch als Proband "an seinem Bewußtsein vorbei adressierbar wird".[33] In tatbestandsdiagnostischen Reproduktions-, Kombinations- und Assoziationsexperimenten im Kontext von Pädagogik, Psychiatrie und Kriminalistik ist der Mensch nicht als Subjekt der Aussage gefragt, sondern als psychophysischer Apparat, dessen Äußerungen auf formalisierbare wie quantifizierbare "sachliche" Bezugsgrößen zurückgeführt werden. Psychoanalyse und experimentelle Psychologie zeigen jede auf ihre Weise, daß der anthropologische "Traum von einem Menschenwesen" ausgeträumt ist. Rieger faßt zusammen: "Wie sehr Bewußtsein, Subjekt, Geist und Körper selbst Medien und keine Substanzen sind, haben die unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Unbewußten des Körpers und der Seele in der Moderne immer wieder vorgeführt."[34]
Dies Schwinden der Referenzen von Körper und Geist, Bewußtsein und Sinn gibt zugleich eine neue Sichtbarkeit der Außenwelt des technisch-industriellen Zeitalters frei, erzwingt komplementär dazu eine neue physiologische (Eigen-)Wahrnehmung von Körper und Sinnen. In den Steigerungsinszenierungen der Avantgarden tritt eine artistische Analytik von Empfindungen, von Traum-, Rausch-, Schmerz- und Halluzinationszuständen hervor, die ästhetische Wahrnehmung an die Grenzen lebensweltlicher Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung zu Überschreitungen der lebensweltlichen Erfahrung treibt. Die medienavantgardistische Annahme, daß innovative Bewegungen die jeweils fortgeschrittenen technischen Möglichkeiten ihrer Zeit nutzen, kommt an dem medienästhetischen Vorrang des Wie von Wahrnehmung und Erfahrung nicht vorbei. Umgekehrt ist die medienanthropologische Frage nach dem Zusammenhang zwischen der - artistischen - Nutzung von - neuen - Medien und den dadurch verdrängten oder umgestalteten kognitiven, sensuellen und emotiven Dispositionen des Menschen auch an die Avantgarden zu adressieren.
Um ein historisches Konzept von Avantgarde im 20.Jahrhundert zu konturieren, hat Plumpe jüngst aller Aporien einer integralen Avantgarden-Forschung zum Trotz neben drei eher konventionellen Kennzeichen ("kairologische Zeitschematisierung", "politikdominierte Retotalisierung", "Leben und Kunst entdifferenzieren") auch deren programmatische Praxis der "Rahmenattacken" herangezogen: "dass die Avantgarden die Differenz von Medium und Form - als Prämisse der Beobachtung von Kunst - unsichtbar machen wollten, indem sie entweder Medien ohne erkennbaren Formgewinn exponierten oder in Aussicht stellten, Medien - wie die Gesellschaft selbst - so zu organisieren, dass ihnen gegenüber Kunstwerke keinen Formvorsprung mehr beanspruchen und verwirklichen könnten".[35] Solcherart avantgardistische "Rahmenattacken" zeigen ex negativo vom Futurismus über Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus hinaus ein nachgerade gesteigertes Bewußtsein jener "Differenz von Medium und Form"[36], indem sie immer wieder neu die Fiktion eines offenen Spiels von Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten zu materialisieren suchen: Kein Medium kommt ohne Form aus, weil "das Medium nur an den Formen und nicht als solches beobachtet werden kann", keine Form ohne Medium aber umgekehrt genauso, weil sie "Form-in-einem-Medium"[37] ist und nur so als konstant oder variabel wahrgenommen werden kann. Vom Standpunkt heutiger Beobachterdiversität aus mögen avantgardistische "Rahmenattacken" so lediglich als - reflexive wie (selbst-) ironische - Programminszenierungen im Rahmen moderner Kunstübung erscheinen: Was als performative Befreiung vom institutionellen Kunstzwang, als ein Aus-dem-Rahmen-Fallen mochte begonnen worden sein, erscheint heute innerhalb des Rahmens nur als Geste, die den Rahmen bestätigt, indem sie ihn durchbricht. Weil das Pathos des großen Bruchs, des ganz Neuen gerade als typisch avantgardistische Geste auftritt, liegt der Verdacht nahe, daß institutionelle "Rahmenattacken" selber in eine Serie von periodisch wiederkehrenden Inszenierungen gehören, mit denen Moderne und Avantgarden sich jeweils selbst überholten.
Im wie immer brüchigen Kunst-Rahmen, der die Differenz von Medium und Form als Institution aufrecht erhält, bleibt das Konzept Avantgarde aporetisch auf Produktionsästhetik bezogen, während Medienanthropologie genauer die rezeptionsästhetische Beobachterdiversität bestimmen hilft. Um die komplexe Komplementarität von Produktion und Rezeption, von Projekten der Avantgarde und Dispositionen der Anthropologie zu analysieren, bedarf es exemplarischer Engführungen, die experimentelle Form und humane Wahrnehmung in je bestimmten medialen Koppelungen am historischen Ort untersuchen. Wie schneiden um 1900 im Modernisierungstaumel der europäischen Metropolen avantgardistisches Formbegehren und Formzerstören in ästhetische Erwartungshorizonte ein, die im wesentlichen noch auf literarisch-humanistische Traditionen eingestellt waren? Wie werden literarische Formen und Sprachgesten umgearbeitet bzw. "umgebrochen", deren Bestand und Überlieferung doch an die etablierte Schrift- und Buchkultur gebunden erscheinen?
Nationalstaatliche Kulturpädagogik sah sich bis ins 20.Jahrhundert hinein in der Pflicht, die Staatsbürger auf den jeweiligen Kanon nationaler Klassiker einzustimmen. Die politisch-soziale Rückständigkeit Deutschlands gegenüber seinen westlichen Nachbarn begünstigte im 19.Jahrhundert auf dem bekannten deutschen Sonderweg - so der Soziologe Lepenies - auch "Wissenschaftsfeindlichkeit und Dichtungsglaube als deutsche Ideologie".[38] Die bildungsbürgerliche Trennung von Feiertagskultur und Alltagskultur reproduzierte das zerrüttete Verhältnis von Kunst und Technik. Die neuen technischen und sozialen Wirklichkeiten von Industrie und Großstadt, die den Alltag aller zunehmend bestimmten, verlangten gleichwohl andere Qualifikationen als die Kenntnis alter Sprachen und die Vertrautheit mit in Museen, Bibliotheken und Akademien versammelten Bildungsgütern. Die Frage, wie sich in der Auseinandersetzung mit einer technisch-industriellen Moderne "eine die neuen Maschinen und Medien produktiv herausfordernde, spezifisch literarische Moderne"[39] entfalten konnte, ist grundsätzlich an alle ästhetischen Kunstrevolutionen und Avantgarde-Bewegungen seit dem 19.Jahrhundert zu stellen. Im Anschluß an Segebergs historische Untersuchungen zur Literatur im "technischen Zeitalter" und "Medienzeitalter" empfiehlt es sich freilich, die Frage für unsere Belange zu präzisieren: Sie ist als Frage nach den medialen Möglichkeiten zu wenden, die sich literarischen Formen eröffneten, genauer: Formen von Kurzprosa und Aphoristik.
Es gibt eine aktuelle medienästhetische Lesart von Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/1939), welche die Verbindung von neuen Technologien und neuen Kunstformen in ihrer prägenden Wirkung auf Wahrnehmungsmuster dort exemplarisch skizziert findet. Neben der Fotografie taugt vor allem der Film zur Veranschaulichung des komplexen Zusammenhangs, um zu zeigen, wie technische Verfahren des Films, vor allem Schnitt und Montage, Vergrößern und Verkleinern, Dehnen und Raffen von Abläufen, neue Sehweisen erlauben und durchsetzen. "Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.“[40]
Benjamins Frage nach den geschichtlichen Variablen der menschlichen Wahrnehmung, nach dem "Medium, in dem sie erfolgt", betrachtet den Film vorrangig als "Dokument"[41] für den latenten Wandel der modernen Apperzeption von der kontemplativen "Sammlung" zur großstädtischen "Rezeption in der Zerstreuung"[42]. Was der Film "in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akustischen,"[43] nämlich bei den Rezipienten an konkreten Veränderungen der Wahrnehmung manifest werden läßt, kann nicht nur Gegenstand der Ästhetik bleiben. Das "Optisch-Unbewußte" des Films, gleich dem "Triebhaft-Unbewußten"[44] der Psychoanalyse, verlangt nach Benjamin als latentes Versatzstück "der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva" eine wechselseitige Durchdringung von Kunst, Wissenschaft, Politik. Durch Benjamins Bestimmung als "Medium", in dem Wahrnehmung erfolgt, gewinnt das Phantom des Unbewußten Kontur. Im Kunstwerk-Aufsatz zielt seine Frage nach dem kollektiven Unbewußten in menschlicher Wahrnehmung und Daseinsweise praktisch auf eine "Politisierung der Kunst" als Antidoton zur faschistischen "Ästhetisierung der Politik"[45], theoretisch aber auf die mediale Materialität "einer echten Überlieferung". Es gehe in seinen kulturgeschichtlichen Untersuchungen darum, so Benjamins Selbstanzeige in einem Bericht über die Arbeit des Instituts für Sozialforschung von 1938 Ein deutsches Institut freier Forschung, "den technischen Bedingungen kulturellen Schaffens, seiner Aufnahme und seines Überdauerns nachzugehen".[46]
Die massenhafte Reproduktion von Bildern und Bildfolgen, von Lauten und Lettern, welche die technischen Medien Fotografie, illustrierte Zeitung und Film betreiben, wirkt „auf die Kunst in ihrer überkommenen Gestalt“[47] zurück. Nicht die Konkurrenz in der Koexistenz von neuen und traditionellen Künsten ist entscheidend, sondern der Wandel des Kunstbegriffs selbst, dem nicht mehr idealistisch-produktionsästhetisch, sondern nur noch anthropologisch, genauer: performativ-rezeptionsästhetisch, beizukommen ist: "Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit."[48] Die "taktile Rezeption" von Architektur (u.a. Passagen!) weist Benjamin den Weg zu einem "anthropologischen Materialismus"[49], welcher der unbewußten Überlieferung in der ganzen alltäglichen Breite von Optik, Akustik, Motorik, Rhythmik auf der Spur ist, wie sie durch kapitalistische Warenwelt und phantasmagorische Reklame, imperiale Materialkriege und ideologische Propaganda mobilisiert wird. Im geschichtsphilosophischen Kontext von Armut und Erfahrung können mit den katastrophischen Verlustbilanzen der Moderne doch kognitive und mnemonische Leistungen im unbewußten Medium der Massenkultur und - allem Pessimismus zum Trotz - darüberhinaus politische Möglichkeiten der Funktionalisierung solcher Leistungen verrechnet werden: "Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm" heißt Benjamins Vorsatz, "um einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen."[50]
Rezeptionsästhetik im Rahmen dieses "anthropologischen Materialismus" bildet auch den Fluchtpunkt von Benjamins wiederholt gestellter Frage: "Was ist eigentlich Aura?"[51] Die Metaphysik der Kunst mit ihren Idealen von „Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis“[52] soll sich an der gewandelten Psycho-Physik des gemachten und wahrgenommenen Kunstwerks ausweisen, entsprechend dem in der letzten Fassung 1939 dem Aufsatz vorangestellten Zitat von Paul Valéry: „Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind.“[53] Im Verhältnis zu heutigen Medienwissenschaftlern, die sich auf ihn berufen, muß Benjamin einerseits bescheidener, andererseits vermessener erscheinen. Technische Medienanalyse und Medienaspekte bleiben bei ihm an der Peripherie, setzt man den Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie (1931) einmal in Klammern. Im Zentrum geht es eben um die Form des Kunstwerks und seine Neubestimmung im Medium unbewußter Überlieferung, die einer von Philosophie, Wissenschaft und Politik vergessenen Theorie des Ästhetischen als historischer Wahrnehmungslehre aufgegeben wird. Ihre Parameter zur Konturierung dieses kollektiven Unbewußten sind "Materie", "Raum", "Zeit", "Sprache", "Leib". Seit Mitte der 1920er Jahre zielt Benjamin auf einen "anthropologischen Materialismus, wie die Erfahrung der Sürrealisten und früher eines Hebel, Georg Büchner, Nietzsche, Rimbaud ihn belegt".[54] Bekanntlich konnte Adorno - laut Brief an Benjamin vom 6.9.1936 - jenem "anthropologischen Materialismus" und seinem Mangel an dialektischer Vermittlung "die Gefolgschaft nicht leisten": "Es ist, als sei für Sie das Maß der Konkretion der Leib des Menschen."[55] "Medium" heißt bei Benjamin eben niemals noch Massenmedium, sondern wird verwendet, um das Unbewußte von Physik und Physis magisch unmittelbarer Ausdrucks- und Wahrnehmungsmodalitäten zu bezeichnen, die in Sprache und Schrift, in individueller und kollektiver Psyche entscheidend mitwirken, ohne einen instrumentellen Zweck oder intentionalen Sinn zu verfolgen. Dabei gilt auch für Benjamin: kein Medium ohne Form, keine Form, d.h. eben auch kein Kunstwerk ohne Medium, weil nur "Form-in-einem-Medium" (Luhmann) Wahrnehmbarkeit ermöglicht.
Indem Benjamin den idealistischen Kunstbegriff durch die Befragung des am Film und seiner Massen- und Serienproduktion dokumentierten, modernen Wahrnehmungswandels entzaubert, ruft der bekannte Bücherfreund weder dazu auf, die audiovisuellen Effekte des neuen Massenmediums im Schrifttum einfach nachzuahmen; noch sucht er den heftigen Abwehrgestus konservativer Kulturkritik gegen die Reklame- und Warenform aller Künste zu kopieren. Vielmehr gilt die Einsicht, den Fortbestand von Literatur und kultureller Überlieferung gerade in ihrer Gefährdung zu suchen. "Das, was wir den Fortschritt nennen," ist ja nach dem berühmten Denkbild in Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) "dieser Sturm", der den "Engel der Geschichte" unaufhaltsam "in die Zukunft" treibt, "der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst."[56] Dieses paradoxe Körperbild in Bewegung, das schon diesseits aller messianischen Semantik die pragmatische Möglichkeit zeigt, rückwärts schauend doch vorwärts zu gelangen, findet sein erläuterndes Spiegelbild in der Fortschrittskritik einer nachfolgenden These, die Illusion und geschichtliches Unglück des "Konformismus" (in Sozialismus und Sozialdemokratie) bloß stellt: "Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte."[57]
Zu Benjamins inverser Perspektive, die im modernen Durcheinander und Ineinander von Neuem und Altem nach 1900 nicht im Sinne von Marinettis Manifest des Futurismus[58] das Neue am Neuen fokussiert (freilich auch nicht das Alte am Alten), vielmehr den Blick auf das Neue am Alten (auch das Alte am Neuen) lenkt, kann man in Peter Handkes Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) eine uns Heutigen nähere, erstaunliche Parallele entdecken. Am Ende der Erzählung beobachtet der arbeitslose Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war und nun Mörder auf der Flucht ist, bei einem Fußballspiel auf einem Provinz-Sportplatz "nicht den, der gerade sprach, sondern jeweils den, der zuhörte." Mit einem Zuschauer kommt er alsdann selber ins Gespräch:
"Es ist sehr schwierig, von den Stürmern und dem Ball wegzuschauen und dem Tormann zuzuschauen", sagte Bloch. "Man muß sich vom Ball losreißen, es ist etwas ganz und gar Unnatürliches." Man sehe statt des Balls den Tormann, wie er, die Hände auf den Schenkeln, vorlaufe, zurücklaufe, sich nach links und rechts vorbeuge und die Verteidiger anschreie. "Üblicherweise bemerkt man ihn ja erst, wenn der Ball schon aufs Tor geschossen wird."[59]
Konsequent hat Handke in seiner Erzählung den Fokus der Beobachtung vom Stürmer auf den Tormann, vom Sprecher auf den Hörer, vom Handelnden auf die Menschen und Dinge verstellt, auf die jener einwirkt. Nicht nur die Schlußszene auf dem Fußballplatz belegt, daß seine Beschreibungskunst die "natürliche" Identifikation mit dem Angreifer verwirft, um die ganze Aufmerksamkeit auf die Reaktionen, Effekte und Wirkungsindizien zu lenken, die das angegriffene "Opfer" zeigt.
Aus Benjamins strategisch-perspektivischer Entscheidung für das Neue am Alten und aus Handkes narrativer Blicksteuerung auf den Tormann bzw. das angegriffene Opfer lassen sich per Analogieschluß gute Gründe beibringen, Medienkoexistenz und unbewußte Überlieferung in Moderne und Avantgarde von Schrift, Buch und Literatur her zu betrachten - und eben nicht von der prospektiven Dominanz eines neuen Medienparadigmas her, wofür heutiger Mediengeschichte retrospektiv die audiovisuellen Massenmedien stehen.
Welche medialen Möglichkeiten wachsen durch die Medienkonkurrenz in der Koexistenz von ältesten und neuesten Medien um 1900 der Aphoristik zu, die im gedruckten Buch ihr literarisches Hausrecht beansprucht? Wie alle moderne Literatur kann sich Aphoristik nicht nur mit der eigenen medialen Bedingtheit selbstreflexiv bzw. selbstreferentiell befassen, sie vermag auch, sich zu anderen Medien bzw. zu ihrer medialen Umwelt in vielfältige Reflexionsverhältnisse zu setzen. Gerade die ungelösten Probleme der - germanistischen - Aphorismusforschung zeigen im Kontrast, wie vielversprechend ein Ansatz sein könnte, der die literarische Aphoristik aus der Geschichte von Medienkoexistenzen bzw. -konkurrenzen bestimmt und beschreibt. Zuletzt hat Spicker mit außerordentlichem Philologen-Fleiß versucht, zumindest im deutschen Sprachraum Begriff und Gattung, Begriffsgeschichte und Gattungsgeschichte des Aphorismus in den germanistischen Griff zu bekommen. Gleich zu Beginn der sehr breit angelegten Untersuchung bekennt er noch vor dem Referat seiner Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschung sein eigenes "Grundproblem":
"Das Grundproblem der Aphorismusforschung ist bis heute nicht gelöst. Es stellt sich ebenso schlicht wie fundamental so dar: Einerseits werden Texte, die nicht so heißen, selbstredend zur Gattung 'Aphorismus' gerechnet, andererseits ebenso fraglos Texte, die so heißen, von ihr ausgeschlossen. Über 60 Jahre kontinuierlicher wissenschaftlicher Beschäftigung - wenn man die Vorgeschichte von Leitzmann 1899 bis Brüggemann 1930 einmal außer acht läßt und mit Mautner und Schalk 1933 einsetzt - haben daran nichts geändert, und auch die verstärkten Bemühungen seit Mitte der 70er Jahre haben keine Klarheit gebracht. Begriff und Gattung blieben in besonderer Weise inkongruent."[60]
Spicker registriert, kommentiert und evaluiert, was einerseits Autoren durch Selbstanzeigen und Literaturkritiker durch entsprechende Würdigungen, andererseits literaturwissenschaftliche Forschungen durch systematische und historiographische Studien, durch Editionen und Anthologien als "Aphorismus" der gleichnamigen Gattung zugeschlagen haben. Die frühere Forschung hatte angesichts der ungenügenden Gattungsbestimmung zumeist Zurückhaltung geübt und lediglich mit einem überlieferten "gemeinsamen Rahmenbegriff des Aphorismus"[61] als Orientierungshilfe gearbeitet. Gegenüber dem Epigramm, das als kurzes Sinngedicht mit Vers und Metrum genauen, aus der Antike abgeleiteten Gattungsnormen verpflichtet bleibt, zeigt aphoristische Kurzprosa vor allem "moderne" Offenheit bei gleichzeitiger, "freier" Korrelation von Form und Inhalt, Sprache und Gedanke. Daß solche Offenheit und freie Assoziation mehr als einen "gemeinsamen Rahmenbegriff" kaum zulassen, kann Spickers legislatives Gattungsbegehren jedoch kaum akzeptieren. Spicker will klar zwischen dem Nomen "Aphorismus" und dem Adjektiv "aphoristisch" mitsamt seinen Nominalisierungen - "Aphoristik" bzw. "das Aphoristische" - unterschieden wissen. Leitidee ist nachgerade "die Suche nach einer semantischen Mitte"[62], von deren Norm aus Begriff und Sache, Anspruch und Einlösung am je besonderen historischen Beispiel beurteilt werden können. In seiner Gattungsgeschichte des deutschsprachigen "Aphorismus im 20.Jahrhundert"[63], mit der er seine Aphorismusforschung "von der Mitte des 18.Jahrhunderts bis 1912" fortsetzt, erscheint dann auch quer durch die literarischen Höhenlinien und die trivialen Bereiche hindurch noch auffälliger ein mittlerer "demokratischer" Durchschnitt, der entlang dem Fortgang des Jahrhunderts mit "dem deutschen Aphorismus" identifiziert wird. Beachtung findet, was zum nachträglich fabrizierten Gattungskonstrukt paßt, Erfüllung der Gattung und Bestätigung ihrer Schemata erhalten den Vorrang vor Innovation und Durchbrechen von Erwartungshorizonten. Der Reichtum vielfältigster Formen von Kurzprosa, die von literarischen Aufzeichnungen über Fragmente, Prosagedichte, Notate, Tagebuchnotizen und Graffiti bis zu Werbeslogans und trivialen Alltagssprüchen reichen und zwischen kritischer Reflexion, Spaßkultur und kommerzieller Absicht, zwischen Witz und Nonsens, multiple transmediale Effekte einschließen, bleibt außerhalb dieser germanistischen Gattungsgeschichte. Spicker will nur immer quantitativ Mehr vom - semantisch - Gleichen, kaum je aber ein - pragmatisch bzw. performativ - Anderes, das erst durch die Aufmerksamkeit auf historische Nachbarschaften und Interferenzen, Abweichungen und Oppositionen, Extreme und Kontingenzen, Inversionen und Mutationen in den Blick kommen könnte.
Trotz der philologischen Breite bedeuten Spickers flächendeckende Untersuchungen zum deutschen Aphorismus einen qualitativen Rückschritt gegenüber dem Reflexionsstand, den die historische Forschung mit Gerhard Neumanns komparativer Darstellung der herausragenden Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe als "transzendentale Moralistik"[64] schon erreicht hatte. Andererseits fällt Spicker in gattungs- und formtheoretischer Hinsicht auch hinter Harald Frickes rezeptionsästhetische Analytik des aphoristischen Zusammenspiels von Kurzprosatext, "kotextueller Isolation"[65] und kommunikativem Kontext zurück. Im Anschluß an Fricke scheint möglich, das Schielen in die Künstler-Werkstatt einzustellen und die produktionsästhetischen Aporien der Aphorismusforschung zu umgehen. Es kann die nicht nur formtheoretisch, sondern auch medienästhetisch relevante Beobachtung stark gemacht werden, daß ein einzelner Aphorismus - die germanistisch übliche Werkeinheit - im gedruckten Buch dem Leser kaum je allein begegnet. Gerade das dispositive Funktionsprinzip der "kotextuellen Isolation" verlangt vom Aphoristiker entweder den eigenen Sammelband als Publikationsmedium oder zumindest doch die konfigurative Darstellung seiner Aphorismen in Gruppen und Abteilungen z.B. in einer Anthologie. Eine andere Möglichkeit stellt das Einrücken ins "Reflexionsmedium"[66] eines größeren Werkzusammenhangs dar, was im Einklang mit der frühromantischen Romantheorie schon im Fall der "Aphorismengruppen"[67] in Goethes Kunstroman Wahlverwandtschaften mustergültig realisiert ist, die dort als Auszüge aus Ottiliens Tagebuche fiktionalisiert erscheinen. Ein einzelner Kurzprosatext - so Frickes literaturtheoretische Verallgemeinerung - will sich zumeist in der Versammlung mit seinesgleichen dem Leser präsentieren: jedoch im gebührend distinktiven, wechselseitigen Abstand von ihnen.
Was Fricke an der Aphoristik als Prinzip der "kotextuellen Isolation" beobachtet, tritt noch deutlicher hervor, fokussiert man die Aufmerksamkeit auf die formale und mediale Problematik des Prosagedichts um 1900. Es geht um eine neue, graphische Sichtbarkeit von Texten, die ehedem nur gleichsam "mit geschlossenen Augen" gelesen wurden. Mallarmé, Valéry, Apollinaire in Paris, Hofmannsthal, Karl Kraus in Wien - die literarische Moderne schlägt staunend diese Augen auf, um auf der Weiße des Papiers wie im Halluzinationszustand isolierte Buchstabenkörper zu entdecken. Sie verwandeln sich unter dem Blick in graphische Zeichen, die stumm geworden nach ihrer verlorenen Bedeutung fragen. Zu solcher "Medientransposition" in Literatur und Psychoanalyse, die Bilder und Geräusche in Buchstaben überführt, schreibt Kittler kurz und bündig: "Schreiben um 1900 heißt ohne Stimme und bei den Buchstaben sein."[68] Mediale Bedingung der Möglichkeit dieser neuen Sichtbarkeit der Worte ist eine Verräumlichung des Lesens, die der Linearität des Sprechens und dem Rhythmus der lyrischen Stimme entgegenwirkt. Zuerst hat Mallarmé auf diese unerhörte "nouveauté" 1897 im Vorwort zu seinem letzten Prosagedicht "Un coup de dés jamais n'abolira le hasard. Poëme" eher beiläufig hingewiesen: "le tout sans nouveauté qu'un espacement de la lecture"[69]. Der neue Kult der Buchstaben erscheint als Schwundstufe vormaliger Bücherverehrung, er verlangt ein neues Lesenlernen, das Schriftbilder und Typographien wie ferne Sternbilder zu entschlüsseln weiß.
Wohl aus der Entwicklung des freien Verses im 19.Jahrhundert hat Mallarmé zuletzt den Schluß gezogen, die klassizistische Unterscheidung von Poesie und Prosa aufzuheben, weil für den Schreibenden nur noch der unhintergehbar individuelle Rhythmus und das allgemeine Alphabet gelten sollen. Was für das Prosagedicht und seine Rezeption daraus als Provokation der Verräumlichung des Lesens folgt, dem kann sich auch moderne Aphoristik nicht entziehen: "Les 'blancs' en effet, assument l'importance, frappent d'abord"[70]. Rimbauds Königssturz der ersten Person Singular - "Je est un autre" - wollte um 1870 avantgardistisch avant la lettre die Lebensaufgabe der Poesie in der Grenzüberschreitung zum Unbekannten hin sehen: "Il s'agit d'arriver à l'inconnu par le dérèglement de tous les sens."[71] Noch vor Dadaismus, Formalismus, Konstruktivismus und Surrealismus hat der späte Mallarmé mit der Loslösung der Sprache von den Erwartungen äußerer Referenz daraus eine vergleichsweise undramatische, doch folgenreiche Konsequenz gezogen: Sprechend verschwindet die Stimme des Autors in den Zäsuren der "blancs", um die Initiative den Wörtern selbst und dem "hasard" des Buchstaben- und Sprachspiels zu überlassen. Über Prosagedicht und freie Verse hinaus sind es nicht nur lyrische Formen von Kurzprosa, die im 20.Jahrhundert "noir sur blanc"[72] die Lesbarkeit solcher Buchstaben- und Sprachspiele erproben. Diarische und narrative Formen beginnen gleichfalls an der "Lesbarkeit der Welt" zu zweifeln, fangen wie am ersten Tag nochmals voraussetzungslos an, "Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können."[73] Und nicht zuletzt wird es angesichts solch erschwerter, opaker Lesbarkeit der vorherrschenden gnomischen Tradition der Aphoristik zur produktiven Aufgabe, die Selbstreflexion ihrer rhetorischen und oralen Erbschaft voranzutreiben, die ihr seit der Erfindung des Buchdrucks Humanismus, Aufklärung und Romantik hinterlassen haben.
Es ist das Verdienst von Neumanns historischer Untersuchung, am eminenten Beispiel der "transzendentalen Moralistik" deutscher Spätaufklärer und Frühromantiker ein selbstreflexives Modell der aphoristischen Forminnovation geliefert zu haben. Indem Neumann die selbstreflexive Textverarbeitung der Überlieferungsstränge von humanistischer Apophthegmatik (Erasmus, Bacon), politischem Aphorismus (Guicciardini, Gracián) und französischer Maximen- und Sentenzenliteratur (La Rochefoucauld, Pascal) in der aphoristischen "Denkform"[74] in Deutschland um 1800 betont, hat er dabei die Aufmerksamkeit nochmals auf Fragen der Herkunft und des Funktionswandels der Aphoristik im Übergang von der Romania gelenkt. Unschwer ist etwa die Herkunft der "Réflexions, ou sentences et maximes morales" (zuerst 1665) von La Rochefoucauld, die den Prototyp der literarischen Aphoristik in komplementärer Konkurrenz zum älteren (populär-) wissenschaftlichen Aphorismus bereitstellen, aus der galanten Konversation bei Hof und im Salon zu erkennen; schwieriger erscheint schon, Kunst und Leben methodisch auseinanderzuhalten und das problematische, ja widersprüchliche Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Sprache dabei zu erfassen. Solche Maximen und Reflexionen sind gerade nicht in witzige Unterhaltungen eingelassen, vielmehr "sprechen" aus ihnen Kühle und Distanz, die nur auf dem Papier, in der Schrift und im Druck der Literatur, möglich sind. Sie dürfen nicht mit gesprochenen Aperçus und Bonmots, mit effektvoll in der guten Gesellschaft parlierten Sprüchen verwechselt werden. Eher sind die realen Mängel der Konversation ihr Ausgang, welche ihr Autor in der einsamen Nach- bzw. Niederschrift eines idealen Gesprächs - mit dem einsamen Leser seiner Druckschrift - aufheben wollte, das anstatt aus hohlem Geschwätz und "bagatelles bien dites" nur aus wahren Sätzen und geschliffenen Worten bestehen sollte.
Mochte die Melancholie versäumter Gelegenheiten am Hof und im Salon bei La Rochefoucauld, La Bruyère, Vauvenargues, Chamfort noch durch den aristokratischen Gestus kritischer Entlarvung und moralistischer Entdeckung überdeckt bleiben, so tritt sie in der späteren "transzendentalen Moralistik" deutscher Denker und Dichter um 1800 deutlicher hervor: Nicht mehr Konversation bei Hof oder im Salon gibt die Vorschule kritischer Opposition und formaler Perfektion beim Aufschreiben witziger Einfälle und ironischer Einsichten ab, sondern das tägliche, einsame Exerzitium des Briefeschreibens und Tagebuchführens. Im unveröffentlichten Nachlaß von Jean Paul finden sich Unmengen diesbezüglicher Aufzeichnungen, welche die Selbstbezüglichkeit des Schreibens als Institution des selbstbewußten Individuums selber reflektieren:
"Ich schreibe einen Brief, um in das litterarische Feuer zu kommen."[75]
Oder:
"Alle meine Schreiberei ist eigentlich innere Selbstbiographie; und alle meine Dichtwerke sind Selblebenbeschreibungen, denn man kennt und lebt eben kein anderes Leben als das eigene."[76]
Diese "Schreiberei" wird zum eigentlichen Sinn und Zweck, wozu die Konversation im Salon kaum mehr als nur Anregung und Stoff liefern kann. "Briefliteratur als Literatur des Salons"[77] scheint so die privilegierte Form, in der die literarische Salonkultur Frankreichs etwa in Berliner Salons um 1800 ihre deutsche, gesellig ungesellige Aufnahme fand. Jedoch nicht Salon oder gar aristokratischer Hof, sondern vielmehr die Universität, vor allem die protestantische, gaben das bürgerliche Modell kultivierter Innerlichkeit ab, nachdem Geist und Geselligkeit, einsames Schreiben und gemeinsames Gespräch akademischen Ausgleich finden sollten: Auf Halle, Leipzig, Göttingen, die Zentren der deutschen Aufklärung, folgten Jena, Heidelberg und Berlin, die Bildungsstätten der neuen romantischen Generation.[78]
Die gesamteuropäische Epochenschwelle um 1800 markiert im rückständigen Deutschland nicht nur eine erste Blütezeit der literarischen Aphoristik, sondern darüberhinaus auch eine "Gründerzeit" der Literatur und der Sprache der Gebildeten überhaupt. In der kurzen Periode zwischen etwa 1770 und 1830, welche die Germanistik auch Goethezeit nennt, entstanden zugleich mit einer neuen, nicht zuletzt durch den Pietismus inspirierten Sprache der Literatur und Philosophie besondere Werke, die den Deutschen zu einer im europäischen Vergleich späten, doch wirkungsmächtigen Klassik verhalfen. Die literaturgeschichtliche Privilegierung der Zeit um 1800, die noch Kittlers "Aufschreibesystem von 1800"[79] - in methodischer Opposition zu demjenigen um 1900 - fortschreibt, findet in der Perspektive einer integralen Mediengeschichte jedoch kein Äquivalent vor. Gewiß hatte das 18.Jahrhundert eine vormals unbekannte Förderung des Schulbesuchs und damit verbunden eine große Ausbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit gebracht. Die Verbilligung des Buchdrucks ging mit der Entstehung eines literarischen Marktes einher und führte zu einer deutlichen Produktionssteigerung insbesondere von "Schöner Literatur". Im Rahmen von Leihbibliotheken und Lesegesellschaften gedieh eine empfindsame Lesekultur zuerst, während sich Autoren und solche, die es werden wollten, in aufgeklärten Zirkeln und um "moralische" Zeitschriften scharten. Diese Institutionalisierungen von Aufklärung und Alphabetisierung ermöglichten zweifellos erst die romantische Neubestimmung und den modernen Anspruch von authentisch-originaler Literatur und souveräner Autorschaft, welche die Sucht stummen Lesens und den Enthusiasmus einsamen Schreibens als ihre Korrelate einforderte. Gleichwohl betrachtet Mediengeschichte in der Regel solche "literarischen" Effekte von Aufklärung und Alphabetisierung um 1800 mit Blick auf die Technikgeschichte kaum als entscheidende historische Zäsur. Es hat nur selbst in Europa mehr als 300 Jahre gedauert, bis die medialen Bedingungen des Buchdrucks verläßliche soziale Institutionen ausbilden konnten. Erst Schritt für Schritt setzten sie sich in der Produktion und Rezeption von Literatur durch. Bücher und Bibliotheken, Zeitschriften und Archive, Schreibtische und Verlagshäuser schlossen sich in Deutschland erst gegen 1800 zum System "Literatur" zusammen. Demgegenüber markiert Gutenbergs Erfindung und Nutzung des mechanischen Buchdrucks von 1450 die mediale Zäsur: Die Passage von der Handschrift zum Buchdruck gilt als Beginn der medialen Neuzeit und als Ende der bis in die Antike (ca. 900 v.Chr.) zurückreichenden Manuskript-Kultur. Die folgende Gutenberg-Epoche bedeutet für Europa eine über 400jährige, immer perfektere Vorherrschaft des mechanisch gedruckten und vervielfältigten Buches, dem erst durch die wachsende Konkurrenz der Massenpresse im Lauf des 19.Jahrhunderts und die neuen audiovisuellen Medien nach 1900 das kulturelle Monopol streitig gemacht wurde.
"Witzige Einfälle sind die Sprüchwörter der gebildeten Menschen."[80]
Dieses Athenaeum-Fragment von 1798, das Friedrich Schlegel zugeschrieben wird, kann als denkbar knappe wie ironisch versteckte Antwort auf die in germanistischer Literaturwissenschaft und Volkskunde strittige Frage gelesen werden, ob "Sprüchwörter" denn zu den lehrhaften Gattungen zu zählen seien. Was in der Reflexionsbildung des ausgehenden 18.Jahrhunderts getrennt ist: "Sprüchwörter" einerseits, "gebildete Menschen" andererseits, setzt das romantische Fragment mit einem Satz in die nächste Nähe des Paradoxons. Es soll prädikativ zur Bestimmung des Subjekts "Witzige Einfälle" dienen, bedeutet doch "aphorismos" dem altgriechischen Wortsinne gemäß etwa "Definition". Herausspringt ein apodiktischer Bescheid, der beide Seiten und jede für sich angeht, indem er sie so eindeutig wie gemeinsam auf ein ausgespartes, doch implizit vorausgesetztes Mittelglied bezieht: Die "gebildeten Menschen" bedürfen keiner Belehrung mehr, sind sie doch dadurch gebildet, daß sie Aufklärung und Alphabetisierung bereits hinter sich gebracht haben. Der Volksmund aber, dem die anonymen "Sprüchwörter" zu verdanken sind, kann mit Belehrung recht eigentlich nichts anfangen. Aufklärung und Alphabetisierung machen ihn verstummen, so ist zu ergänzen, weil in seiner mündlichen Kommunikation situationsabhängige Interaktionsrituale dominieren, die auf Wiederholung und Wiederkehr in traditionalen Lebensformen angelegt sind. Was also durch Aufklärung und Alphabetisierung entzweit erscheint, soll letztlich durch romantische Geist-Geselligkeit zu neuer und höherer, sympathetischer Einheit gebracht werden: die als lebendig imaginierte Mündlichkeit von Interaktionsritualen einerseits, die perfektionierte Schriftlichkeit von Bildung andererseits.
André Jolles' bekannte morphologische Untersuchung von 1930 hat als "Geistesbeschäftigung" der "Einfachen Form" Spruch und ihrer Vergegenwärtigung als Sprichwort kollektive Erfahrung benannt, die als unbegriffliche bzw. vorbegriffliche weder in den geisteswissenschaftlichen Rahmen moderner individueller Bildung noch in die pädagogische Tradition des Humanismus einzupassen ist. Sie und ihre Sprachgebärde deshalb als Volkspoesie im Sinne germanistischer Volkskunde zu mystifizieren, kann kaum eine befriedigendere Alternative bieten. Profane Sprüche und Sprichwörter sind nicht mit Zaubersprüchen oder Orakelsprüchen zu verwechseln, die einmal in einen kultischen Zusammenhang eingebettet gewesen wären. In durchaus kühnem Vorgriff auf spätere Überlegungen der Medientheorie - etwa bei McLuhan - hat Jolles die Differenz zwischen einer ursprünglichen Mündlichkeit der Rede-Gattung und der Schriftlichkeit ihrer nachträglichen, gelehrt-pädagogisch ausgerichteten Sammlungen in den Drucken des frühneuzeitlichen Humanismus herausgestellt: "Der Spruch ist nicht lehrhaft, er hat selbst keine lehrhafte Tendenz. Damit ist nicht gesagt, daß wir nicht aus der Erfahrung lernen können, wohl aber, daß in der Welt, von der wir reden, die Erfahrung nicht als etwas aufgefaßt wird, aus dem wir lernen sollen. Alles Lehrhafte ist ein Anfang, etwas, worauf weiter gebaut werden soll - die Erfahrung in der Form, in der sie der Spruch faßt, ist ein Schluß. Ihre Tendenz ist rückschauend, ihr Charakter ist resignierend. Dasselbe gilt von ihrer Vergegenwärtigung. Auch das Sprichwort ist kein Anfang, sondern ein Schluß, eine Gegenzeichnung, ein sichtbares Siegel, das auf etwas aufgedrückt wird und womit es seine Prägung als Erfahrung erhält."[81]
Sprüche und ihre Sprachgebärden benennen zwar Erfahrungen, aber als Information, Lehrbeispiel oder besonderes Wissen vermitteln wollen sie diese nicht. Daß Sprichwörter als anonyme Schöpfungen aus volkstümlicher Tradition durch festgeprägte Sätze zugleich allgemeine Einsichten und besonderen Rat zu bestimmten Lebenslagen anböten, kann als eine gelehrte Erfindung von Humanismus und Reformation in je pädagogischer Absicht durchschaut werden. Erasmus von Rotterdam mit seinen Adagia (ab1500), Heinrich Bebel mit seinen Proverbia Germanica (1508), Johannes Agricola mit seinen Sybenhundert und fünfftzig Teütscher Sprüchwörter (1534) und andere ließen "philologische" Sammlungen drucken, der Reformator Martin Luther legte sich eine Sprichwörtersammlung an, die zu Lebzeiten ungedruckt blieb, jedoch seine Druckschriften zur Verbreitung der Reformation bereicherte. Daß diese schriftgelehrte Überformung und pädagogische Umfunktionierung der Sprichwörter im Humanismus von Renaissance und Reformation bis ins 20.Jahrhundert hinein kaum Anstoß erregen konnte, ist nicht zuletzt der romantischen Aufwertung der "Volkspoesie"[82] und der andauernden Wertschätzung anonymer Rede-Gattungen in den Nationalphilologien geschuldet. Auch die aktuelle Sprichwortforschung beachtet mediengeschichtliche Überlegungen wenig ernsthaft, wenn etwa Mieder "in der Entwicklungsgeschichte der Sprichwörter einen ständigen Austausch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wie dies für andere Volkserzählgattungen"[83] auch der Fall sei, annimmt. Die Textsortenbestimmung, daß die Bedeutung von Sprichwörtern jeweils von der Gebrauchssituation abhänge, also durch Heterosituativität, Polyfunktionalität und Polysemantizität sich herstelle, abstrahiert gänzlich vom Ursprung der Form und von der ursprünglichen Funktion als Wiedergebrauchsrede. Gerade die Formelhaftigkeit von bestimmten Rede-Gattungen, wozu neben Sprichwörtern und Sprüchen etwa Fabeln, Parabeln, Gleichnisse, Rätsel, Exempel, Witze, Märchen, aber auch Gruß-, Wunsch-, Eides-, Gebets- und Fluchformeln zu zählen sind, liefert noch immer den Schlüssel zum adäquaten Verständnis ihrer Herkunft und Überlieferung. Formelhaftigkeit nämlich weist sie über das mnemotechnische Dispositiv hinaus, daß sie so auswendig aus dem Gedächtnis leichter hergesagt werden können, als jeweils integralen Bestandteil von - zumeist eben vergessenen oder verdrängten - Interaktionsritualen aus. Ist für das Sprichwort wie für derartige Wiedergebrauchsreden das Medium der mündlichen Überlieferung formkonstitutiv, so setzt das Apophthegma schon seit der Antike und Plutarch (ca. 46-120) schriftgestützte Historiographie voraus: Zum überlieferungswürdigen Spruch (der sententia) wird der historische Anlaß seines Ausgesprochenwerdens (die occasio) mitgeliefert.[84]
In welchem Maße "medientechnische Reflexionen" die literaturwissenschaftliche Kategorienbildung verbessern können, zeigt Ter-Nedden, der Sprichwort, Apophthegma und Aphorismus im Hinblick auf die Folgen "struktureller Verschriftlichung"[85] untersucht hat. Die Ablösung der Emblemata- und Apophthegmata-Sammlungen des 16. und 17.Jahrhunderts durch moralistische Aphoristik kann als Konsequenz des Fortschritts von Aufklärung und Alphabetisierung begriffen werden. Sie erscheint eben deshalb als Zeugnis des "Übergangs von einer Schriftkultur, die noch weitgehend im Dienst der Transkription und Überlieferung mündlichen Wissens steht, hin zu einer Kultur, die auf Wissensbeständen basiert, die ohne Schrift und Druck gar nicht gedacht und vermittelt werden könnten."[86] Im 18.Jahrhundert endet die Tradition der mündlichen Vorgeschichte in der europäischen Literatur. Die konsequente Verschriftlichung mündlichen Wissens (z.B. der sogenannten Volkslieder und Volksmärchen) diskreditierte auch ererbte Konventionen einer seit der Antike überlieferten alteuropäischen Literatur. Ihre Geltung mochte seit Anbruch der Neuzeit und des Gutenberg-Zeitalters zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nur noch eine spielerische und fiktive gewesen sein, doch waren in ihnen noch Erinnerungen an frühere lebenspraktische Funktionen gegenwärtig, die zu erfüllen ihre Aufgabe in den Interaktionsritualen einer vergangenen Gedächtniskultur gewesen war. Die "Doppelheit von Historisierungsdruck und Systematisierungszwang"[87] kann charakteristische Effekte von "struktureller Verschriftlichung" in der Geschichte der Gattungspoetik des 18.Jahrhunderts bündeln, die dem Kanon der aus der Antike althergebrachten Gattungen mitsamt ihren metrischen Schemata ein zügiges Ende bereiteten. Von der Regelpoetik Morhofs (Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 2.Auflage 1700) über Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730/ 4.Auflage 1751) bis zu den geschichtsphilosophisch fundierten triadischen Gattungsreduktionen um 1800 bei Goethe, Schiller, Friedrich Schlegel, Schelling und Hegel läßt sich die fortschreitende Dissoziierung der alten Gattungen und ihre Aufhebung in von vornherein auf Schrift und Druck angelegten, zeitgemäßeren Dichtungsformen verfolgen.
Auch die Rhetorik, neben der Philosophie die älteste und bedeutsamste alteuropäische Bildungsmacht, die zur literarischen Rhetorik umgebaut in der Regelpoetik ein komfortables, postantikes Asyl gefunden hatte, wurde im Laufe des 18.Jahrhunderts durch den Umorientierungszwang auf eine individualisierende Stilistik des Schreibens aus der Produktion und Rezeption von Literatur verdrängt. Die idealistische Ästhetik von Kant über Schiller und Goethe bis zu Hegel und den Romantikern begründet mit der Aufhebung der Gattungspoetik auch die Rhetorikverachtung des 19.Jahrhunderts: Die individuelle Institution "Stil" wirkt in den Grenzen der geschichtsphilosophisch akkreditierten Dichtungsformen unhintergehbar im Eigentümlichen der individuellen Schreibart, für die keine Formelhaftigkeit und kein Regelkram der Rhetoriktradition mehr normsetzend sein können.
"Wie hat es Ihnen in dieser Gesellschaft gefallen? Antwort Sehr wohl, beinah so sehr als auf meiner Kammer."[88]
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), "ein rechtes Sonntagskind in Einfällen"[89] und genialer Schüler von Experimentalwissenschaft, Aufklärung und Alphabetisierung, profiliert sich als erster Klassiker des deutschen Aphorismus im 18.Jahrhundert zugleich als "Autor eines Typs von spruchartigen Texten, deren Sitz im Leben nicht mehr die Redepraxis ist, sondern die schriftgestützte Reflexion".[90] Die geistreiche Konversation von Höfling und Salonliterat, die noch den aristokratischen Lebenskontext für die Reflexionen, Sentenzen und Maximen der französischen Moralisten stellte, spielt beim Göttinger Professor keine Rolle mehr. Vielmehr taugt das gesellig ungesellige Treiben der närrischen Welt dem deutschen Sonderling in seinen unzähligen Einzelheiten nur zu ebenso vielen Schreib-Anlässen, wo Beobachtung und Aufzeichnung, Reflexion und Witz zusammenwirken.
"Darf man Schauspiele schreiben, die nicht zum Schauen sind, so will ich einmal sehen wer mir wehren will ein Buch zu schreiben, das kein Mensch lesen kann."[91]
Das Konvolut der fünfzehn Notizhefte, die Lichtenberg "Sudelbücher" nennt, sind Zeugnisse einer entfalteten Schriftkultur, wo sich "auf meiner Kammer", zwischen gedruckten Büchern und beschriebenen Manuskripten, zwischen Auflesen, Abschreiben und Aufschreiben, das Paradoxon eines sich kontinuierlich aussprechenden Individuums zuspitzt, das doch keine kommunikative Mitteilung machen will: "Lesen heißt borgen, daraus erfinden abtragen."[92] Richtig hat Pfeiffer das institutionelle "Dilemma" von Lichtenbergs Schreiben benannt: "Für Lichtenberg ist literarische Selbstreferenz entweder langweilig oder gräßlich"[93], weil ihm im Gegensatz zur wenig späteren idealistischen Ästhetik das Produzieren von individuellen Romanen aus Romanen oder individuellen Gedichten aus Gedichten weder Selbstgenuß noch Erkenntnisgewinn verspricht. Dennoch bleibt ihm das gleichschwebend aufmerksame Schreiben selbst faszinierende Lebensnotwendigkeit: "Das Leben bedarf des zumindest aphoristischen Kommentars, da Lebensqualitäten ohne Fixierung ihrer Bewußtheit langsam verschwinden würden."[94] Voraussetzung einer solch selbstbewußten wie selbstgenügsamen Registratur der alltäglichen Erfahrung scheint indes die privilegierte Position des unbeteiligten Beobachters, der im stillen Alleinbesitz der besseren Einsicht wie von fern auf die menschlichen Händel blickt:
"Die geschärfte sokratische Methode - ich meine die Tortur."[95]
Distanz zu den Wechselfällen des öffentlichen Lebens und den alltäglichen Ritualen der Lebenspraxis, Abstinenz vom wiederkehrenden Geschwätz der Leute, doch beides mit den offenen Augen und Ohren des "geschärften" Beobachters und der Erfindungskunst eines stets wachen Intellekts, sie mögen zusammen die aufgeklärte Souveränität kritischer Aufmerksamkeit ergeben: "So viel als möglich der gemeinen Meinung entgegen"[96]. Richtig bemerkt Ter-Nedden, daß sich Lichtenberg hierzu von Fall zu Fall gerade "die Tradition - und Fiktion - des spruchhaften Redens"[97] und die Florilegien rhetorischer Plausibilisierungskunst zurückruft. Das Gedächtnis vergangener und durch Vernunft entwerteter Überlieferungen geht jedoch nur imaginativ, d.h. von Einfall zu Einfall, dem parodistischen Scherzbegehren zur schreibenden Hand: Erstaunliche Unfälle und witzige Kurzschlüsse zwischen aufgeklärt szientifischem Wissen und dem commun sense "der gemeinen Meinung" wollen auf dem Papier in Szene gesetzt sein. Zu solchem Scherz tritt freilich noch je die ernste Absicht hinzu. Anthropologie war im 18.Jahrhundert vor allem damit beschäftigt, den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen "Natur" herauszufinden. Anlaß genug für Lichtenberg, Widerspruch und Entfernung der neuen Erfahrungswissenschaft zum "gemeinen" und christlichen Menschenbild auszumessen:
"Der Mensch kommt unter allen Tieren in der Welt dem Affen am nächsten."[98]
"Ein Meisterstück der Schöpfung ist der Mensch auch schon deswegen, daß er bei allem Determinismus glaubt er agiere als freies Wesen."[99]
Ernste Erkenntnisabsicht und heitere Fiktion der distanzierenden Scherzrede, Denken und Sprechen, stellen nicht nur für Lichtenberg und die "transzendentale Moralistik" um 1800, sondern darüberhinaus für den Lichtenberg-Leser Nietzsche und die moderne Aphoristik bis ins 20.Jahrhundert hinein einen formregulativen, paradoxen Doppelimperativ dar:
"An jeder Sache etwas zu sehen suchen was noch niemand gesehen und woran noch niemand gedacht hat".[100]
Und:
"Die Metapher ist weit klüger als ihr Verfasser und so sind es viele Dinge. Alles hat seine Tiefen. Wer Augen hat der sieht (alles) in allem."[101]
Für die moderne Aphoristik und ihr formsemantisches Erbteil aus (schriftlich und gedruckt) überlieferten rituellen Wiedergebrauchsreden einerseits, aus der (nachgeschriebenen und gedruckten) Mündlichkeit von geselliger Konversation andererseits, ergibt sich in medientheoretischer Perspektive auf die neuzeitliche Formgeschichte: Schrift und Druck eröffneten bestimmte mediale Möglichkeiten, die aber erst nach und nach aus der Latenz heraustraten, um sich durch bestimmte Überformungen und Durchformungen in manifesten Formen zu zeigen. Ob und wie bestimmte literarische Formen sich also in einem gebotenen Medium darstellen, ist offensichtlich nur in einem sehr allgemeinen Sinn Sache dieses Mediums selbst. Ihre Konkretisierung hängt vielmehr nach dem Schema Kontingenz/Emergenz von Konstellationen ab, die sich ihrerseits durch soziale und literarische Institutionen erst herstellen. Besondere literarische Formen erscheinen also in jedem Fall spezifischer an bestimmte korporative Insitutionen gekoppelt als je direkt an ein Medium, mögen diese Institutionen nun besser oder schlechter funktionieren, zuverlässiger oder opaker wirken. Dies gilt in eklatantem Sinn für die durch Spruch und Sprichwort, medizinischen "aphorismos" und politischen "aphorismus", Apophthegma und Epigramm, "sententia" und "maxime" geprägte Formsemantik der Aphoristik, die sich auf unbewußte Überlieferung und fiktiv gewordene, formale Mythen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bezieht. Ihre literarische Form ist an die Tradierung semantischer Potentiale gebunden, die in Mythos, Religion und vergangener Kunst als Sinnangebote zur Weltorientierung eingebunden sind. Formsemantik scheint so aber in der Moderne veraltet und nicht vermehrbar, allenfalls formal zitierbar. Es ist die institutionelle Aufgabe humanistischer bzw. neuhumanistischer Philologie und ihrer "rettenden Kritik", dafür Sorge zu tragen, daß "die Quelle jener semantischen Potentiale nicht versiegt, die wir zur Interpretation der Welt im Lichte unserer Bedürfnisse brauchen".[102]
Im Exterieur der neuhumanistischen Bildungsanstalten und ihrer Wissensformen, fern von Büchersammlungen und Bibliotheken hat der späte Nietzsche aus archaischer Vorgeschichte Zarathustra und Dionysos zu paradoxen Leitfiguren einer neuen, fingierten Mündlichkeit erweckt, um sich als "Wanderer" zwischen Welten und Zeiten und als Lehrer der ewigen Wiederkunft in einer Art von symbolischem Tausch selbst zum "posthumen Menschen" zu wandeln. Der Aphorismus 15 aus der Sammlung "Sprüche und Pfeile" lautet in der Götzen-Dämmerung:
"Posthume Menschen - ich zum Beispiel - werden schlechter verstanden als zeitgemässe, aber besser gehört. Strenger: wir werden nie verstanden - und daher unsre Autorität..."[103]
Wer so die Mitwelt mit der Nachwelt (und der Vorwelt) vertauscht, möchte an literarischer Kommunikation und öffentlicher Wirkung kaum interessiert erscheinen. Das Gegenteil freilich stellt sich im Nietzsche-Kult um 1900 heraus, der jedoch mehr den geheimnisvollen Autor als das Werk meint, genauer: "Nietzsches Leben als Werk".[104] Gleichwohl trägt die Nietzsche-Rezeption auch zu einer nachhaltigen Aphorismus-Mode bei, deren triviale Produktion von "Gedankensplittern"[105] etwa in Wien den Bodensatz für die virtuosen "Sprüche und Widersprüche" eines Karl Kraus abgeben wird. Eine genau in Nietzsches Todesjahr 1900 publizierte Geschichte der "deutschen Litteratur des 19.Jahrhunderts" setzt ihm dann auch schon die deutsche Krone der Gattung auf: "Den Aphorismus, dessen kurze Geschichte bei uns erst mit Lichtenberg beginnt, hat er erst zu einer selbständigen Kunstgattung erhoben".[106]
In der Sammlung Der Wanderer und sein Schatten von 1880 lesen wir unter der Nummer 220:
"Reaction gegen die Maschinen-Cultur.-
Die Maschine, selber ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden. Sie macht thätig und einförmig, - das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müssiggange dürsten lernt."[107]
Nietzsches Reflexion zur Anthropologie der "Maschinen-Cultur" wartet dem Leser mit drei antithetischen Gedankenpaaren auf, wobei jeweils eine bestimmte Positivität der Maschine durch einen bestimmten negativen Effekt auf den Menschen argumentativ ausmanövriert scheint. Zuerst wird die Maschine als "Erzeugniss der höchsten Denkkraft" durch "die niederen gedankenlosen Kräfte", die sie "bei den Personen, welche sie bedienen", in Bewegung setzt, schon in ihrem Wert und Ansehen herabgesetzt. Sodann wird die "Unmasse Kraft überhaupt", die sie entfesselt, gerade durch ihre Leistung als sehr beschränkt entzaubert: "sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden". Schließlich macht sie "thätig und einförmig" - aber diese aktive Monotonie erzeugt "auf die Dauer" nicht etwa tätige Zufriedenheit, sondern "eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele", die der "Maschinen-Cultur" ein denkbar böses Urteil spricht. Diesem romantischen Urteil läßt Nietzsches rhetorische Logik nichtpositiver Affirmation jedoch keineswegs das letzte Wort. Die "Seele" lernt gerade durch jene "verzweifelte Langeweile" der "Maschinen-Cultur" stetig gesteigert "nach wechselvollem Müssiggange dürsten": die eigentlich gemeinte und im Titel der Reflexion schon annoncierte "Reaction gegen die Maschinen-Cultur". Schlußendliche Affirmation verdient die "Maschinen-Cultur" damit gleichwohl nicht als solche, sondern eben "nur" deshalb, weil sie mit der seelischen Verelendung eine menschliche "Reaction gegen die Maschinen-Cultur" in der "Maschinen-Cultur" provoziert: "nach wechselvollem Müssiggange dürsten" heißt für den "Wanderer" Nietzsche letzlich in überraschender Wendung, durch die "Maschinen-Cultur" nicht nur den eigenen "Müssiggange" bestätigt finden sondern auch für die Massen, die Maschinen "bedienen", im Dürsten die historische Möglichkeit von einem "Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden" entdecken.
Was Nietzsches Reflexion als reaktive Wirkung der "Maschinen-Cultur", als Dürsten und "Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden" in der Zukunft erhofft haben mag, hat im 20.Jahrhundert eine wohl anders als erwartete, durchaus parodistische Einlösung erfahren. Gegen die "verzweifelte Langeweile der Seele" in der "Maschinen-Cultur" wurden die Massenmedien im 20.Jahrhundert nicht müde, mit den Kräften von Wunsch, Traum und Rausch zugleich die bunten Phantasmagorien von Mode, Reklame, Warenwerbung, Propaganda, Information und Unterhaltung zu mobilisieren. In einem gleichsam ewigen Nullsummenspiel stillen sie - zwischen Arbeitszeit und Freizeit bis heute - je nur den Durst der Massen "nach wechselvollem Müssiggange", um ihn als Durst gleichzeitig jeweils immer wieder zu erneuern. Und so fort in infinitum - nach dem Modell eines Perpetuum mobile gleichsam, das Paul Scheerbart in seiner grotesken "Geschichte einer Erfindung" (zuerst 1910) in den "perpetuierlichen Arbeitsleistungen des Sternes Erde" (er)findet: "Es begann, eine Art religiöser Begeisterung für die perpetuierliche Anziehungsarbeit der Erde in mir zu reifen."[108]
Im technischen Zeitalter der "Maschinen-Cultur" (und später der Massenmedienkultur) fungieren Perspektivierung, Bewegung, Rhythmisierung, Schock, Tempo, Kürze als latente Strukturphänomene der Sinneswahrnehmung und "der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva" (Benjamin). Von den modernen Metropolen mit ihren Massen, Maschinen und Medien aus sind sie nach und nach in die "Gewohnheit" des durchschnittlichen Großstadtmenschen und weiter in das kollektiv Unbewußte des mediatisierten Alltagsbewußtseins im 20.Jahrhundert eingegangen. Zwischen Latenz und Emergenz bestimmen sie auch Form und Schreibart der Aphoristik seit Friedrich Nietzsche. In antisystematischer Opposition zum nationalliterarischen Epigonentum in Philosophie, Epik, Dramatik und Lyrik oder zum ästhetischen Historismus mit den prächtigen, doch nur geborgten Kostümen der Vergangenheit verschließt sich moderne Aphoristik nicht jener Expansion der seit 1830 und dem Ende der deutschen Kunstperiode industrialisierten Apparate, Maschinen und Wahrnehmungsdispositive. Von Einfall zu Einfall sucht sie deren psychotechnische Dynamik, empirisch-scharfsichtig, imaginativ und reflexiv zugleich, im "Worte-Machen" ihrer paradoxen Sprachexperimente, wo nicht zu überbieten, so zumindest zu parieren. Über Gattungsgrenzen hinweg spricht denn auch Segeberg mit Blick auf die Glossen des Wiener Karl Kraus-Freundes Peter Altenberg und die Wortkunst des deutschen Expressionismus von der "Faszination eines literarischen Telegrammstils, der die Statik festgefahrener sozialer Verhältnisse immer neu in die Wortdynamik einer Sprachenergie entgrenzt".[109] Die Abkehr von der idealistischen Ästhetik und ihrer institutionalisierten Hierarchie der Künste, die "einer durchgängigen Materialgerechtigkeit zuliebe" sich im "Aufschreibesystem von 1900" vollzogen hat, faßt Kittler seinerseits zusammen: "Wenn idealistische Ästhetiken die verschiedenen Künste ins System brachten, waren Plastik, Malerei, Musik, Architektur durch ihre Materialien Stein, Klang, Farbe, Baustoff eindeutig bestimmt; Dichtung aber durfte als Universalkunst im Universalmedium Einbildungskraft schalten. Genau dieser Sonderstatus vergeht um 1900 einer durchgängigen Materialgerechtigkeit zuliebe. Literatur wird Wortkunst von Worte-machern."[110]
"Fassen wir uns kurz. Die Welt ist übervölkert von Wörtern."[111] - Der Aphorismus des im mehrsprachigen Lemberg noch vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Polen Stanislaw Jerzy Lec (1909-1966), der als Motto seiner berühmten Sammlung Mysli nieuczesane von 1959 (Unfrisierte Gedanken) voransteht, könnte auch, indem er in einem literarische Form und kommunikative Performanz von Aphoristik in der Medienkoexistenz thematisiert, in eine mögliche Sammlung von Aphoristik des 20.Jahrhunderts einleiten. Wie literarische (und philosophische) Aphoristik nach 1900 mit den neuen medialen Möglichkeiten in der unübersichtlichen Medienkoexistenz von Literatur mit Photographie, Photomontage, Leuchtreklame, Annonce, Flugblatt, Plakat, Wandzeitung, Illustrierte Zeitung, Massen-Feuilleton, Revue, Kabarett und nicht zuletzt Film umgeht, kann gerade daran deutlich werden, wie vielfältige Kurzprosaformen die traditionellen Kulturtechniken des Schreibens und Lesens bzw. ihre Gattungen und Gesten erneuern. Medienübergreifende Wahrnehmungsstrukturen finden sich in formspezifische Wirkungsstrategien von Kurzprosa übersetzt: Verknappung, Aussparung, Überspitzung, Überraschung, Verrätselung werden literarische Verfahren, welche elliptische bzw. defigurative Darstellungsformen, konventionelle Lesererwartungen konternde, ironische Ausdrucksweisen und Kommunikation verstörende, sprachspielerische Appelle auf engstem Zeilenraum zusammenzwingen. Parallelismus, Chiasmus, Inversion, Antithese, Paradoxon erscheinen dabei als privilegierte rhetorische Figuren, die vom witzigen Einfall bis zur schriftlichen Fixierung zusammen zur minimalistischen Prägnanz von Beobachtung und Introspektion, Gedanke und Urteil, Ausdruck und Leser-Appell beitragen.
Über Aphorismus und Aphoristik des 20.Jahrhunderts hinaus sollten komparatistische Grundlage einer an der Medium-Form-Problematik orientierten Untersuchung - deren Ausgangsbasis hier allenfalls erst umrissen werden konnte - nicht nur gnomische und diarische, sondern auch lyrische und narrative Formen moderner Kurzprosa bilden. Von Wilde, Hofmannsthal, R.Walser, Kafka, Kraus, Wittgenstein, Musil, Valéry, Gide, Breton, Aragon, Akutagawa, Lu Xun, Gómez de la Serna, Borges, Tucholsky, Benjamin, Adorno, Ernst Jünger, Canetti, Lec, Blumenberg, Cioran, Blanchot, Barthes bis zu Agamben, Handke und Bodo Strauss mag die Versammlung charakteristischer Kurzprosa-Schreiber reichen. Schon einer noch kaum in die Details gehenden Prüfung drängt sich dabei ein durchaus medienrelevanter Befund auf. Herkömmliche Anthologien und Sammlungen koexistieren mit neuen Mischformen experimenteller Buchtypen, in denen sich vielfältige Kurz-, Klein- und Minimalprosa findet: Aphorismen, Aperçus, Anekdoten, Glossen, Thesen, Gedankenexperimente, Reiseskizzen, Denkbilder, Prosagedichte, Zitatcollagen, Essaytorsi, Traumnotate, Szenenimpromptus, Phantasiefragmente, Rätsel, Sprüche und Widersprüche. Der Reichtum multipler Formen von Kurzprosa läßt sich im 20.Jahrhundert stringent kaum mehr auf herkömmliche Formschemata zurückführen. "Kurze Rede, langer Sinn" - erinnern wir uns zuletzt an das Paradoxon des wirkungsmächtigen "Worte-machers" Nietzsche. Es ist gerade jene prägnante, d.h. hier auch fruchtbare Kürze diesseits von informierender oder unterhaltender Geschwätzigkeit, die im Spannungsfeld von medialen Möglichkeiten und überlieferter literarischer Form zur Ortsbestimmung von moderner Literatur in der Medienkoexistenz taugt.
Anmerkungen
[1] Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988, Bd. 11, S.349.
[2] Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche (zuerst 1909), Schriften Bd. 8 ("Aphorismen"). Hg. v. Christian Wagenknecht, Frankfurt am Main 1986, S.116.
[3] Nietzsche, KSA, Bd.5, S.174.
[4] Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA, Bd.6, S.154.- Vgl. zur Bedeutsamkeit antiker Autoren im Spätwerk Nietzsches: Hubert Cancik: Nietzsches Antike. Vorlesung, 2.Auflage, mit einem Nachwort, Stuttgart/Weimar 2000, S.150ff.
[5] Nietzsche: Götzen-Dämmerung, S.155.
[6] Ebd.
[7] Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I (188), KSA, Bd.2, S.163.
[8] Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II (Vorrede, 1886), S.369.
[9] Ebd., S.371.
[10] Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, S.674.
[11] Friedrich A.Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. 2.erw. u. korr. Auflage, München 1987, S.196.- Vgl. auch zu den Interferenzen von Telegraphie und expressionistischer Lyrik (August Stramm): Friedrich A.Kittler: Im Telegrammstil, in: H.U.Gumbrecht/K.L.Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986, S.358-370.- In der Nachfolge Kittlers vgl. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913, Berlin 1993, S.202f.
[12] Kittler: Aufschreibesysteme, S.303.- Bei Schreber selbst heißt es einmal in Antizipation aller Verständnis- und Interpretationsprobleme, die Flechsig, Freud, Lacan, Canetti, Weber, Kittler u.a. haben sollten: "Das erwähnte Aufschreibesystem ist eine Tatsache, die anderen Menschen auch nur einigermaßen verständlich zu machen außerordentlich schwerfallen wird." (Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, hg. u. eingeleitet v. Samuel M.Weber, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1973, S.168.)
[13] Kittler: Aufschreibesysteme, S.197.
[14] Vgl. Einleitung, in: Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, hg. v. A.Kümmel u. P.Löffler, Frankfurt am Main 2002, S.13.
[15] Vgl. Einleitung, in: Texte zur Medientheorie, hg. v. G.Helmes u. W.Köster, Stuttgart 2002, S.16.
[16] Vgl. hierzu: Erhard Schüttpelz: "Get the message through". Von der Kanaltheorie der Kommunikation zur Botschaft des Mediums: Ein Telegramm aus der nordatlantischen Nachkriegszeit, in: Medienkultur der 50er Jahre, Diskursgeschichte der Medien nach 1945, hg. v. I.Schneider/P.Spangenberg, Opladen 2002, S.51-76.
[17] Enzensberger etwa kritisiert McLuhan 1970 im Kontext der Studentenbewegung noch als "Bauchredner und Propheten" einer "apolitischen Avantgarde" (gemeint ist in Sonderheit Pop von Andy Warhol bis zu den Beatles). Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Kursbuch 20, 1970, S.177.
[18] Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet, Frankfurt am Main 2004, S.71f. (zuerst unter dem Titel: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt am Main 2001).
[19] Marshall McLuhan : Die magischen Kanäle. 'Understanding Media'. Aus dem Englischen v. Meinrad Amann, 2.erweiterte Auflage, Dresden/Basel 1995, S.22f.
[20] Hörisch: Eine Geschichte der Medien, a.a.0., S.14.- Vgl. auch: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke, hg. v. Michel/Moldenhauer, Bd.13, Frankfurt am Main 1970, S.173.
[21] Helmut Schanze: Integrale Mediengeschichte, in: Handbuch der Mediengeschichte, hg. v. Helmut Schanze, Stuttgart 2001, S.210.
[22] Vgl. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1886-1887, KSA 12, a.a.O., S.284-290.- Vgl. auch: Helmut Pfotenhauer: Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion, Stuttgart 1985, S.219ff.
[23] Vgl. Ralf Schnell: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar 2000.
[24] Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Studienausgabe, hg. v. A.Mitscherlich/A.Richards/J.Strachey, Bd.II, Frankfurt am Main 1972, S. 583.
[25] Vgl. Sigmund Freud: Das Ich und das Es, Studienausgabe III, Frankfurt am Main 1975, S.292.
[26] Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Studienausgabe IX, Frankfurt am Main 1974, S. 249.
[27] Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main 2001 (zuerst 2000), S.8.- Vgl. auch: Stefan Rieger: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt am Main 2002; ebenso: Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt am Main 2003.
[28] Rieger: Die Individualität der Medien, S.17.- Vgl auch ebd., S.464 ("Der Mensch ist selbst das Medium").
[29] Ebd., S.12.- Rieger übernimmt die für ihn entscheidende Formulierung von Luhmann, die bei diesem noch gleichsam in Klammern gesetzt blieb. Vgl. Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd.3, Frankfurt am Main 1993, S.154.
[30] Rieger: Die Individualität der Medien, S.13f.
[31] Vgl. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1900), Darmstadt 1985 (zuerst 1886 unter dem allgemeineren Titel: Beiträge zur Analyse der Empfindungen).
[32] Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), In: Studienausgabe IX, S.109.
[33] Rieger: Die Individualität der Medien, S.466.
[34] Ebd., S.474.
[35] Gerhard Plumpe: Avantgarde. Notizen zum historischen Ort ihrer Programme, in: Aufbruch ins 20.Jahrhundert. Über Avantgarden. Text + Kritik. Sonderband, München 2001, S.10.
[36] Luhmann schreibt den "symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien" (seit der Ausbreitung schriftlicher Kommunikation) die gesellschaftliche Funktion der systemischen Transformation des Unwahrscheinlichen ins Wahrscheinliche zu: "Die Medien sorgen für Annahmemotivation dort, wo die Annahme eher unwahrscheinlich geworden ist. Mitteilen, Verstehen und Annehmen/Ablehnen werden unter übergreifende Konditionierungen gestellt, deren Abstraktion dazu verhilft, die immense Erweiterung der Möglichkeiten und die Distanz zwischen Verstehen und Annehmen/Ablehnen so zu überbrücken, daß es nicht als aussichtslos erscheint, eine Kommunikation zu versuchen." (Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S.179).
[37] Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S.17
[38] Vgl. Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1988, S.245ff.
[39] Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, Darmstadt 1997, S.13.- Vgl. ebenso den Folgeband: Harro Segeberg: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914, Darmstadt 2003, bes. S.15ff. ("Der Schriftsteller als Medien-Arbeiter - Erster Weltkrieg und Weimarer Republik").
[40] Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Th.W.Adorno u. G.Scholem hg. v. R.Tiedemann u. H.Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1972-1989, Bd. I/2, S. 478.
[41] Vgl. Detlev Schöttker: Benjamins Medienästhetik. Nachwort, in: Walter Benjamin, Medienästhetische Schriften. Frankfurt am Main 2002, S.423.
[42] Benjamin, Bd. I/2, S.504f.
[43] Ebd., S.498.
[44] Ebd., S.500.
[45] Ebd., S.508.
[46] Benjamin, Bd. III, S.525.
[47] Benjamin, Bd. I/2, S.475.
[48] Ebd., S.505.- Eine interessante Parallele und Vertiefung zu Benjamins "Gewohnheit" stellt Leroi-Gourhans Auffassung dar, daß Technologien gleichsam in Fleisch und Blut übergehen müssen, um anthropologisch effektiv zu werden (vgl. André Leroi-Gourhan: Le geste et la parole. I:Technique et langage, II. La mémoire et les rythmes, Paris 1964-65).
[49] Vgl. Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: Bd.II/1, S.309.
[50] Benjamin, Bd.II/1, S.215f.
[51] Benjamin, Bd. II/1, S.378 ("Kleine Geschichte der Photographie"); Bd. I/2, S.440 u. Bd. VII/1, S. 355.- Vgl. Josef Fürnkäs: Aura, in: Benjamins Begriffe, hg. v. M.Opitz u. E.Wizisla, Bd. 1, Frankfurt am Main 2000, S.95-146.
[52] Benjamin, Bd.I/2, S.473.
[53] Ebd., S.472.- Der aus Benjamins umfangreicherem Eingangszitat Valérys angeführte Satz heißt im Original: "Ni la matière, ni l'espace, ni le temps ne sont depuis vingt ans ce qu'ils étaient depuis toujours." Vgl. Paul Valéry: Pièces sur l'art, in: Œuvres II, hg. v. J.Hytier, Paris 1960, S.1284.
[54] Benjamin, Bd. II/1, S. 309f.
[55] Theodor W.Adorno/Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940, hg. v. H.Lonitz, Frankfurt am Main 1994, S.193.
[56] Benjamin, Bd. I/2, S.697f.
[57] Ebd., S.698.
[58] Vgl. hierzu: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), hg. v. W.Asholt/W.Fähnders, Stuttgart/Weimar 1995, S.1-117 ("Der futuristische Aufbruch der Avantgarde 1909-1916").
[59] Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Frankfurt am Main 1972, S.111.
[60] Friedemann Spicker: Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18.Jahrhunderts bis 1912, Berlin/New York 1997, S.1.
[61] So Gerhard Neumann in seiner "Einleitung" zur Dokumentation der Forschungsgeschichte in: Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung, hg. v. G.Neumann, Darmstadt 1976, S.1.
[62] Spicker, S.15.
[63] Vgl. Friedemann Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20.Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis, Tübingen 2004.
[64] Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Aphoristik bei Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976, S. 79ff. u. S. 737ff.
[65] Harald Fricke: Der Aphorismus, Stuttgart 1984, S. 14.- Vgl. auch Frickes neueren, eher verunklärenden - "aber jeweils"..."also"..."oder auch" - Definitionsversuch, wonach ein Aphorismus ein " (1) nichtfiktionaler Text in (2) Prosa in einer Serie gleichartiger Texte, innerhalb dieser Serie aber jeweils (3) von den Nachbartexten isoliert, also in der Reihenfolge ohne Sinnveränderung vertauschbar; zusätzlich (4a) in einem einzelnen Satz oder auch (4b) anderweitig in konziser Weise formuliert oder auch (4c) sprachlich pointiert oder auch (4d) sachlich pointiert" sein sollte (Harald Fricke: Aphorismus, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd.1, hg. v. K.Weimar, Berlin/New York 1997, S. 104).
[66] Vgl. Benjamins Begriffsprägung in seiner Berner Dissertation von 1919 "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik", in: Benjamin, Bd. I/1, S.36ff.
[67] Vgl. Neumann: Ideenparadiese, S.647ff..
[68] Kittler, Aufschreibesysteme, S.291.
[69] Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Texte établi et annoté par H.Mondor/G.Jean-Aubry, Paris 1979, S.455.
[70] Ebd.
[71] Vgl. Rimbauds Brief an Georges Izambard vom 13.5.1871, in: Artur Rimbaud: Œuvres, hg. v. S.Bernard, Paris 1966, S.343f.
[72] Mallarmé: Quant au livre, a.a.O., S.370.
[73] Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981, S.19.
[74] Vgl. Neumann: Ideenparadiese, a.a.O., S. 39ff.
[75] Jean Paul: Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß, hg. v. K.Wölfel u. Th.Wirtz, Frankfurt am Main 1996, S.33.
[76] Ebd., S.31.
[77] Vgl. Peter Seibert: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz, Stuttgart/Weimar 1993, bes. S. 247ff.
[78] Vgl. Theodore Ziolkowski: German Romanticism and its Institutions, Princeton 1990, S.218ff. ; ebenso: Engelhard Weigl: Schauplätze der deutschen Aufklärung. Ein Städterundgang, Reinbek bei Hamburg 1997.
[79] Kittler macht selbst deutlich, daß sein "Aufschreibesystem von 1800" vor allem durch den Gegensatz zu seinem "Aufschreibesystem von 1900" bestimmt wird: "Das Aufschreibesystem von 1800 arbeitet ohne Phonographen, Grammophone und Kinematographen. Zur seriellen Speicherung/Reproduktion serieller Daten hat es nur Bücher, reproduzierbar seit Gutenberg, aber verstehbar und phantasierbar gemacht erst durch die fleischgewordene Alphabetisierung. Die Bücher, vordem nur reproduzierbare Buchstabenmengen, reproduzieren fortan selber. Aus dem gelehrtenrepublikanischen Kram in Fausts Studierzimmer ist eine psychedelische Droge für alle geworden." Vgl. Kittler, Aufschreibesysteme, S.122f.
[80] Athenaeum. Eine Zeitschrift, hg. v. A.W.Schlegel und F.Schlegel, Bd.1 (1798), Nachdruck, Darmstadt 1980, S.186.- Vgl. hierzu.: Neumann, Ideenparadiese, a.a.O., S.456ff.
[81] André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, 5.Aufl., Tübingen 1974, S. 158.
[82] Vgl. Hermann Bausinger: Formen der "Volkspoesie", Berlin 1967.
[83] Wolfgang Mieder: Sprichwort, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, S.219.- Vgl. ebenso: Wolfgang Mieder: Sprichwort - Wahrwort!? Studien zur Geschichte, Bedeutung und Funktion deutscher Sprichwörter, Frankfurt am Main 1992.
[84] Vgl. Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17.Jahrhundert, Bad Homburg u.a. 1970.
[85] Gisbert Ter-Nedden: Gedruckte Sprüche. Medientechnische Reflexionen über Sprichwort, Apophthegma und Aphorismus, in: Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter, hg. v. T.Elm/H.H.Hiebel, Freiburg 1991, S. 93.
[86] Ebd.
[87] Vgl. Wilhelm Voßkamp: Historisierung und Systematisierung. Thesen zur deutschen Gattungspoetik im 18.Jahrhundert, in: Regelkram und Grenzgänge. Von poetischen Gattungen, hg. v. E.Lämmert/D.Scheunemann, München 1988, S.38.
[88] Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. v. W.Promies, Reprint Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1994, Bd. 1, S.115 (B 266).
[89] Lichtenberg, Bd. 1, S.257 (D 177).
[90] Ter-Nedden, S.102.
[91] Lichtenberg, Bd. 1, S.461 (F 10).
[92] Lichtenberg, Bd. 1, S.460 (F 7).
[93] K.Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt am Main 1999, S.124.- Vgl. Lichtenberg, Vorschlag zu einem orbis pictus, Bd. III, S.378.
[94] Pfeiffer, a.a.O., S.123.
[95] Lichtenberg, Bd. 2, S.441 (K 242).
[96] Lichtenberg, Bd. 2, S.251 (J 1365).
[97] Ter-Nedden, S.106.
[98] Lichtenberg; Bd. 1, S.75 (B 107).
[99] Lichtenberg, Bd. 2, S.276 (J 1491).
[100] Lichtenberg, Bd. 2, S.251 (J 1363).
[101] Lichtenberg, Bd. 1, S.512 (F 369).
[102] Jürgen Habermas: Bewußtmachende oder rettende Kritik - die Aktualität Walter Benjamins, in: Zur Aktualität Walter Benjamins, hg. v. S.Unseld, Frankfurt am Main 1972, S.217.
[103] Nietzsche: Götzen-Dämmerung, S.61.
[104] Vgl. Jochen Zwick: Nietzsches Leben als Werk. Ein systematischer Versuch über die Symbolik der Biographie bei Nietzsche, Bielefeld 1995, bes. S.149ff.
[105] Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S.235ff.
[106] Richard M.Meyer: Die deutsche Litteratur des 19.Jahrhunderts, Berlin 1900, S.787.
[107] Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, S.653.
[108] Paul Scheerbart: Das Perpetuum mobile. Die Geschichte einer Erfindung, Porto Editori S.A.L. 1984, S.46; auch S.59.
[109] Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter, S.292.
[110] Kittler, Aufschreibesysteme, S.255.
[111] Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken. Dazu Prosa und Gedichte. Hg. u. aus dem Polnischen übertragen v. Karl Dedecius, Frankfurt am Main 1998, S.9.