Seminar Uni Stuttgart SS 1996
Formen des Aphorismus im 20.Jahrhundert
Mit „Aphorismus“ oder „Aphoristik“ wird heute eher das Problem einer Gattungsbestimmung benannt als eine bestimmte literarische Gattung selber. Im Gegensatz zum Epigramm, das genauen, aus der Antike abgeleiteten Gattungsnormen verpflichtet bleibt, zeigt aphoristische Kurzprosa vor allem formale Offenheit bei gleichzeitiger Unzertrennlichkeit von „Form“ und „Inhalt“: eine innovationsfreudige, „moderne“ Kleinform, darin den Großformen von Essay und Roman geistesverwandt. Aperçu, Apophthegma, Denkbild, Fragment, Maxime, Sentenz, Sprichwort bilden in Gegenwart und Geschichte ihre nächste „didaktische“ Nachbarschaft. Überspitzung, Aussparung, Überraschung, Verrätselung sind charakteristische Wirkungsstrategien, Antithese, Parallelismus, Chiasmus, Paradoxon rekurrente rhetorische Stilfiguren, die zusammen zur größtmöglichen, sprachlichen Prägnanz von Lebenslage, Gedanke und Urteil beitragen.
Im Mittelpunkt des Seminars soll das 20.Jahrhundert stehen. Am beispiel von Hugo von Hofmannsthal („Buch der Freunde“), Karl Kraus („Sprüche und Widersprüche“), Paul Valéry („Rhumbs“), Walter Benjamin („Einbahnstraße“), Elias Canetti („Die Provinz des Menschen“) sollen repräsentative Formen des Aphorismus untersucht werden. Theorie und Geschichte der „Gattung“ – von der frühen Neuzeit über die französischen Moralisten, die deutschen Spätaufklärer und Romantiker bis zum Ende des 19.Jahrhunderts – sollen in den Grundzügen erarbeitet werden, soweit sie für die ausgewählten Autoren und Texte von Belang erscheinen.
Literatur:
Deutsche Aphorismen, hg. v. G.Fieguth, Reclam 9889.
Paul Valéry, Rhumbs, in: Œuvres II, Bibliothèque de la Pléiade,S.597-699 (Übersetzung: Windstriche, Wiesbaden 1959).
Zur Einführung:
Harald Fricke, Aphorismus, Sammlung Metzler 208.
Der Aphorismus, hg. v. G.Neumann, Wiss.Buchgesellschaft , Darmstadt 1976.