Vorlesung Keio 2004/2005
Elias Canetti : "Masse und Macht" (1960) - Moderne Mythentheorie oder poetische Anthropologie?
Der multikulturelle Außenseiter Elias Canetti (1905-1994) hat 1981 für sein vielseitiges Werk, das neben Roman und Drama, Autobiographie und Essay, Aphorismus und Aufzeichnungen auch eine philosophische Abhandlung umfaßt, den Nobelpreis für Literatur erhalten. Die Abhandlung "Masse und Macht", das erklärte Hauptwerk Canettis, ist dagegen auf viel Unverständnis gestoßen. Schon Canettis literarischer Denk- und Schreibstil löste oft genug bei Sozial- und Kulturwissenschaftlern Befremden aus: Er überspringt die gewohnten Grenzen der Humanwissenschaften und verknüpft psychologische, soziologische, ethnologische, philosophische, theologische, mythologische, poetologische, anthropologische Motive und Begriffe mit ganz persönlich scheinenden Beobachtungen und Überlegungen zu einem bunten Argumentationsteppich. Zudem spart Canetti die explizite Auseinandersetzung mit den Theoretikern aus, die ihm doch vorangingen: Nicht Nietzsche, Freud, Le Bon oder Ortega y Gasset werden verhandelt, sondern Sammlungen von mythologischen und anthropologischen Quellen und Kommentaren. "Masse und Macht" bietet dem Inhalt nach eine morphologische Phänomenologie, nicht des Geistes, sondern der Macht, die von der archaischen Meute über unterschiedliche Menschengemeinschaften bis zur zeitgeschichtlichen Konjunktion von faschistischer Herrschaft und Paranoia in der Massengesellschaft reicht. Moderne Mythentheorie oder poetische Anthropologie? Zu fragen bleibt darüber hinaus, ob und in welchem Maße Canettis Abhandlung einen womöglich originellen Beitrag zu heutiger Kulturwissenschaft leisten kann.
Text: Elias Canetti, Masse und Macht, Fischer Taschenbuch 6544, Frankfurt am Main
Zur Einführung empfohlen: Texte zur modernen Mythentheorie. Hg.v. W.Barner u.a., Reclam UB 17642, Stuttgart 2003.
Weitere Texte und Materialien werden auf Wunsch zur Verfügung gestellt.