Bildung in Deutschland?
Für die 1810 gegründete „Alma mater berolinensis“ nimmt die Humboldt-Universität zu Berlin heute noch den Titel einer „Mutter aller modernen Universitäten“ in Anspruch. Ihre Gründungskonzeption ist in der Tat an den Namen des Gelehrten und Staatsmannes Wilhelm von Humboldt gebunden, der seinerseits von den Reformideen des Philosophen Johann Gottlieb Fichte und des Theologen Friedrich Schleiermacher beeinflusst wurde. Die damals neue Universitätskonzeption sah eine „Universitas litterarum“ vor, in der die Einheit von Forschung und Lehre verwirklicht und eine allseitige humanistische Bildung der Studierenden ermöglicht werden sollte. Diese Ideen erwiesen sich als ziemlich erfolgreich und ließen bis ins 20. Jahrhundert hinein weltweit zahlreiche Universitäten gleichen Typs entstehen.
200 Jahre nach der Gründung der Berliner Universität hat nun im Sinne heutiger Globalisierung die Studien- und Universitätsreform, die als „Bologna-Prozeß“ von den europäischen Wissenschaftsministern initiiert worden ist, auch die deutsche Universitätslandschaft tiefgreifend umgestaltet. Aus der Universität, die einst als Alma mater in mittelalterlicher Tradition für eine „societas magistrorum et discipulorum“ stand, scheint heute nach mancherlei Versuchen tatsächlich eine relativ autonome Hoch-Schule geworden: eine modularisierte und gremienhörige Massen-Institution nämlich, die bürokratisch verwaltet und nach ökonomischen Spielregeln von Aufsichtsräten kontrolliert sein will. Übersichtlich verschulte Studiengänge und schnelle Abschlüsse (nach sechs Semestern BA / Bachelor-Abschluß) soll den Studierenden im Zeitalter globalisierter Ökonomien etwa das „European Creditpoints-Transfer-System“ (ECTS) garantieren, indem es den Wert bestimmter Lehrveranstaltungen zumindest europaweit festlegt. Bedenkt man, daß es an Deutschlands Hochschulen heute etwa 1.400.000 Studenten gibt, d.h. rund eine Million mehr als noch 1970, dann kann kaum verwundern, daß Politik und Gesellschaft gegen die universitäre Unübersichtlichkeit transparentere Organisationsstrukturen einfordern, die durch mehr Funktionalismus und Pragmatismus, durch mehr Nützlichkeitsdenken und Effizienzstreben dem mißlichen Stand der akademischen Dinge begegnen sollen.
Zur selben Zeit, da in Deutschland durch „Bologna-Prozeß“ und BA-Studiengänge europa- und weltweit kompatible Einheitsstudien implementiert worden sind, hat als Gegenbewegung zur Massen-Hochschule das hierzulande jahrelang tabuisierte akademische Elite- und Exzellenz-Denken eine signifikante Wiederkehr gefeiert. Indem bestimmte Universitäten jetzt offiziell vor anderen zu deutschen Exzellenz-Zentren für Forschung und Lehre ernannt sind, setzt sich mit der Einführung von ranking-lists die Amerikanisierung der deutschen Universität auch in der Gegenbewegung zur Massen-Hochschule durch. Schon die Forderungen nach höherer Effizienz und entschiedenerem Pragmatismus, in deren Konsequenz die modularisierte und gremienfixierte Massen-Institution als Ausweg aus der chronischen Krise der deutschen Universität steht, nahmen ja an überlegen geglaubten amerikanischen Vorbildern ihr Maß. Paradox muß dabei aber erscheinen, daß die berühmten US-Universitäten (Harvard, Princeton, Yale, Stanford, etc.) ihrerseits – kraft der neuaristokratischen Allianz von Geld und Geist - eine bestimmte Orientierung an den Idealen der deutschen Humboldt-Universität nicht verleugnen können (noch wollen), wozu neben der generösen Unabhängigkeit der Grundlagenforschung und der ritualisierten Neofeudalität des akademischen Campus-Lebens vor allem das Bekenntnis zu einem allgemein verstandenen, je individuellen Bildungsauftrag gehört. Ein gewollter bzw. geduldeter Anachronismus alimentiert die weltweite Anziehungskraft der Privatuniversitäten: Wenige Studenten mit wohlhabenden Eltern, Mäzenen oder Stipendien treffen auf viele Dozenten und Professoren. Auch die Privatuniversitäten in Japan, etwa Keio oder Waseda, orientieren sich lange schon an solchen angelsächsischen Vorgaben.
Die Zukunft der Bildung - so lautet der Titel eines Sammelbandes, den die aus der amerikanischen Unternehmensberatung hervorgegangene deutsche Initiative McKinsey bildet kurz nach der Jahrtausendwende publiziert hat (hg. v. N.Kilius, J.Kluge u. L.Reisch, Frankfurt a.M.2002). Mit der Hilfe von renommierten Wissenschaftlern ist die (einst blühende) deutsche Bildungslandschaft inspiziert worden: "Der Bildungsstandort Deutschland hat seine zu Beginn des 20.Jahrhunderts uneingeschränkt führende Stellung, seine Definitionshoheit verloren." (S.7) Das abschließende Manifest geht einerseits vom "Unbehagen an der Bildung in Deutschland" aus, hält andererseits aber an "Bildung" als "Grundfeste menschlicher Kultur" (S.171) fest, um diese gar wieder zur zentralen Aufgabe des heute im internationalen Vergleich veraltet erscheinenden deutschen Bildungssystems zu erklären. Die "Definitionshoheit" von Bildung zu Beginn des 21.Jahrhunderts ist an die USA übergegangen. Was heute über Notwendigkeit und Inhalt von Bildung gesagt wird, nimmt Maß - so die Autoren der Initiative McKinsey bildet - an amerikanischen Vorbildern, welche ökonomisch und bildungspolitisch relevanten Aspekte auch thematisiert werden: die neurobiologischen Grundlagen des Wissenserwerbs vom frühkindlichen Lernen über die Schule bis zur Universität, der institutionelle Rahmen des Bildungssystems, der für die Wissensvermittlung gesetzt ist, oder die an historisches Wissen gebundenen Fragen der Ethik und der die menschlichen Entscheidungen orientierenden Werte.
Das fundamentale Paradoxon des Lebens in der Wissens- und Informationsgesellschaft verlangt Tribut: Je mehr Information, desto schwieriger wird Orientierung. Deshalb fordert auch das besagte Manifest der McKinsey-Initiative statt anonymer Fabriken zur Herstellung von Spezialisten je besondere "Universitäten mit eigener akademischer Lebensform", die nach dem durchaus elitären Vorbild von Harvard oder Oxford den Aufbau von "Orientierungskompetenz" (S.214) ermöglichen sollen. Bildung vermag nämlich, was bloße Wissensvermittlung nie leisten kann: Orientierung, Reduktion von Komplexität, bewußte Selektion. Es kommt weniger auf die Informationsmenge an, auf die Bits und Megabyts, über die Menschen jeweils verfügen, als vielmehr auf die performative Ordnung des Wissens, die auf dauerhafte Symbolsysteme ausgerichtet ist und damit den Anschluß an variable Wissensgebiete erleichtert. Wer ohne feste Struktur, d.h. weitgehend orientierungslos lernt, mag jeweils punktuell Information verarbeiten, doch sein Wissen wird je zerstreutes Wissen bleiben. Ihm fehlt gerade "Orientierungskompetenz", die durch Bildung angeeignet wird und dann erst Führungsqualitäten freisetzen kann.
Die neue Konjunktur von Bildung im Kontext von Eliteförderung und Exzellenzdenken zeigt zugleich jedoch unübersehbare Schwächen auf: Bildung verwandelt sich im Mund von Bildungsplanern zur instrumentalisierten, vielfältig verdrehten und geschundenen Vokabel. Für die Diskussion um die Zukunft der Bildung mag es deshalb nicht sinnlos sein, an Wort und Idee der Bildung zu erinnern, wie sie in Neuhumanismus, Idealismus und Geisteswissenschaft ihre historische Karriere gemacht haben: als eigentümlich deutsches Gegenstück zum französischen Ideal der "culture générale", zum englischen des "gentleman" oder zum amerikanischen der "general education". Bekannt sind die Schwierigkeiten, die einer exakteren Übersetzung von Bildung ins Englische oder Französische entgegenstehen: „all-round education“ oder „self-cultivation“ bleiben ebenso approximativ wie „formation“, „culture“ oder „éducation“. Wie viele gute Ideen, die dem aufstrebenden Bürgertum im 18.Jahrhundert in den Sinn und in die Feder kamen, hat sich Bildung als pädagogischer und philosophischer Begriff in seiner humanistisch-idealistischen Bedeutung schon vor 1800 durchgesetzt. Parallel zur Entstehung des modernen preußischen Erziehungswesens wurde er zwischen 1770 und 1830 in Deutschland zum Leitbegriff geistiger Individualität, vernünftiger Selbstbestimmung, freier Geselligkeit und liberaler Öffentlichkeit. Sozialgeschichtlich bleibt er zunächst auf eine bürgerliche Oberschicht mit ihren Bildungsinstitutionen Universität und Gymnasium beschränkt: Als Herz und Geist und Körper verbindendes Ideal der "Gebildeten" wurde er erst im Übergang von einer ständisch feudalen zu einer bürgerlich offenen Gesellschaft möglich.
Der Ursprung von Bildung reicht jedoch bis weit in die spätmittelalterliche Mystik zurück. Bildung ( ahd.: bildunga, mhd.: bildunge ) meint zuerst sowohl "Bild", "Abbild", "Ebenbild" (imago) und "Nachbildung" (imitatio) als auch "Gestalt" (forma") und "Gestaltung" (formatio). Im mystisch-theologischen Bedeutungsfeld bezeichnet das Wort den göttlichen Wirkungszusammenhang mit dem Menschen (z.B. bei Meister Eckhart). Der Pietismus in der Tradition der Theosophie beginnt im 18.Jahrhundert mit der Säkularisierung: Bildung wird jetzt auch auf die immanente Wirkkraft der Natur und der Menschen untereinander bezogen. Die pietistische Säkularisierung hat der Didaktisierung des Begriffs in der Aufklärung zugearbeitet. Auf die geistig-seelische Innerlichkeit des Menschen angesetzt, wird Bildung immer mehr zum moralischen Begriff, der synonym mit "Erziehung" und "Entwicklung" gebraucht wird: Vernunft, Verstand und Gemüt des Menschen sollen "gebildet" werden.
Spätestens mit Herder erreicht der Begriff seine bekannte (neu-)humanitätsphilosophische Höhe, indem er sich mit einem dynamisierten Individualitäts- und Entwicklungsbegriff verbindet: Bildung ist nicht nur Erziehung und Lehre, sondern "lebendiges" Lehren und Lernen, ganzheitliches und lebenslanges Sich-Bilden nicht nur einzelner Menschen, sondern auch ganzer Völker und der Menschheit insgesamt. Bildung setzt zugleich ein "freies" Subjekt sowohl voraus als auch als pädagogisches Ziel, wenn sie im Gefolge der deutschen Rousseau-Rezeption eine ursprüngliche "Natürlichkeit" gegen die willkürliche "Künstlichkeit" einer staatlich verordneten Normentradierung und einer Einpassung in die ständisch vorgegebene Gesellschaft setzt. Die neuhumanistische Bildungsidee fordert die "Einbildung" von äußeren Einflüssen und die "Ausbildung" von inneren Anlagen in einem, entwirft damit die Utopie der Versöhnung zwischen subjektiver Innenwelt und objektiver Außenwelt im Individuum selbst. Gerade das wirkungsmächtige "klassische" Bildungskonzept Goethes betont eine Harmonievorstellung, die deutlich an den Philanthropomorphismus von Herders Organismus-Ästhetik anschließt. Indem Goethe die Bildung des Individuums als Selbstzweck sieht, lenkt er das "interesselose Interesse" (Kant) weniger auf das Bildungsziel als auf den Bildungsprozeß und seine verschiedenen Stufen. Dies zeigt insbesondere Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796), der nicht zufällig als Prototyp der im 19.Jahrhundert so erfolgreichen deutschen Romanform gilt.
Auch Hegels Weltgeschichte könnte als Bildungsroman des Geistes gelesen werden, ist doch die durch die bunten Wirrnisse der zufälligen Begebenheiten hindurch in Widersprüchen fortschreitende "Geistbildung" das Bewegungsprinzip der erinnerten Geschichte selbst. Die Strukturanalogie von Romanpoetik und idealistischer Geschichtsphilosophie einerseits und die Nähe des Metamorphose-Denkens (Goethe) zu botanisch-biologischen Wachstumstheorien andererseits machen deutlich, daß der Bildungsbegriff um 1800 einen fundamentalen Doppelsinn hat: er drückt sowohl die Vorstellung eines naturgesetzlichen Reifeprozesses als auch das Vernunft-Apriori einer pädagogischen Idee aus. Im Unterschied zur weltbürgerlichen Erziehung der normativen Aufklärung (Lessing, Kant) liegt der Akzent bei der idealistischen Bildung durch Geschichte und Geschichten auf der unhintergehbaren Individualität. Die Eigentümlichkeit der Anlagen soll bei der pädagogischen Entfaltung bewahrt und alle Anlagen sollen gleichzeitig und gleichwertig ausgebildet werden. Diese Idee erhält durch die seit Winckelmann erneuerte Anschauung, die Menschheit habe in der griechischen Antike ihre bislang höchste Bildungsstufe auf ästhetischem Gebiet schon einmal erreicht, zugleich den Charakter einer Geschichtsutopie. Folgenreich hat Wilhelm von Humboldt die Nachahmung der Antike ins Zentrum des idealistischen Bildungsdenkens gestellt. Ihr hat Deutschland die Wertschätzung der klassischen Philologie an Universitäten und Gymnasien ebenso wie die Vernachlässigung der naturwissenschaftlichen "Realien" in der bürgerlichen Oberschicht der humanistisch "Gebildeten" zu verdanken.
Wie für den älteren Goethe bricht auch für Humboldt die Diskrepanz zwischen der klassizistisch-neuhumanistischen Bildungskonzeption und der bürgerlichen Standes- und Berufsausbildung, wie sie eine utilitaristische Staatspädagogik des preußisch-aufgeklärten Absolutismus doch wünschte, gleichwohl auf. Mit Humboldt werden die Konsequenzen einer scheiternden Aufklärung gezogen: Die Bildung, der Gesellschaft und Staat nicht gerecht werden können, findet in der Abhebung der "Allgemeinen Menschen-Bildung" vom "Bedürfnis des Lebens" ihr geisteswissenschaftliches Ethos, in der staatlich eingeräumten Autonomie der Universitäten aber ihren gesellschaftlichen Ab-Ort.
Als Spätfolge der Französischen Revolution und als direkte Konsequenz aus Napoleons Sturz setzt sich ein restauratives wie nationalistisches Bildungsverständnis durch, das die Aufklärung als "falsche" Bildung für alle revolutionären Auswüchse verantwortlich macht. Es paßt zum Germanistenwerk des eiligen, weil von Anfang an (im Vergleich zu Frankreich oder England) verspäteten Aufbaus einer nationalen deutschen Klassik mit einem entsprechenden Kanon, daß dabei die zweifelhafte Berufung auf Schillers "ästhetische Erziehung" mitspielte. Die Unbrauchbarkeit der "Allgemeinen Menschen-Bildung" für die Alltagsgeschäfte, die vormals die Verteidigung der individuellen Autonomie gegenüber staatlicher Botmäßigkeit bedeutete, wird nunmehr als Quietismus propagiert, um soziale Veränderungen zu verunmöglichen. Als Gegensatz zur Arbeitswelt der Industriellen Revolution soll Bildung noch zum Etikett des gesellschaftlichen Ranges taugen, soll zum Distinktionszeichen der Zugehörigkeit zu den von ökonomischen Notwendigkeiten verschonten "gebildeten Ständen" herhalten. Als Statussymbol und Luxusprodukt ist dasjenige, was dem Bürger zur Emanzipation vom Adel verholfen hatte, dem nachgeborenen Besitzbürgertum des 19.Jahrhunderts vor allem ein Instrument zur Abgrenzung gegen die unteren Schichten der "Handarbeiter". Zu dieser Funktionsänderung des Bildungsbegriffs gesellt sich sein innerer Strukturwandel: Die "harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten" und die "geistige Individualität" treten zugunsten einer konventionell verabredeten enzyklopädischen Breite des Wissens zurück. Bildung wird als "allgemeine" zunehmend mit einem stofflichen Prinzip identifiziert, das dem Subjekt von außen aufgezwungen wird und es zum bereitwilligen Objekt bürokratischer Bildungsinstitutionen macht.
Die staatlich organisierte Differenzierung von Elementar-, Berufs-, Gymnasial- und Universitätsbildung bewirkt im 19.Jahrhundert: Bildung wird Besitz, den man erwerben kann, der Privilegien und Prestige verschafft, und den man deshalb zu verteidigen gezwungen ist. Trotz der Einrichtung von Realgymnasien und Technischen Hochschulen bleibt dabei der technisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung bis weit ins 20.Jahrhundert hinein der Makel einer zweitrangigen Bildung. Dies mag um so paradoxer erscheinen, als die gewaltigen Neuerungen in Wirtschaft und Industrie gewiß andere Anforderungen stellten als die Kenntnis alter Sprachen und kanonischer Literaturen. Selbst das sich seit Marx und dem Kommunistischen Manifest (1848) politisch organisierende Proletariat zeigte sich vom Prestige bürgerlicher Bildung geblendet und suchte sie in "Arbeiterbildungsvereinen" mühsam nachzuholen. Diesen allseitigen deutschen Bildungsoptimismus solllte zum Ende des Jahrhunderts dann eine kulturpessimistische Bildungskritik treffen, die den eklektischen Historismus des bürgerlichen "Bildungsphilisters" (Nietzsche) brandmarkte. Diesem Kulturpessimismus der Dekadenz und seiner ästhetischen Opposition stehen wiederum Versuche des Neukantianismus und der Lebensphilosophie gegenüber, den Begriff der Bildung und des "Bildungsgutes" wertphilosophisch (Natorp) und geisteswissenschaftlich (Dilthey) im Rahmen einer Kulturpädagogik und Kulturhermeneutik zu begründen. Weder diesen noch späteren Bemühungen um eine pädagogische Anthropologie (Litt, Scheler, Spranger) gelang es allerdings, der Bildungsidee neue, konzeptuelle Impulse zu geben.
Wichtiger scheint demgegenüber der Blick auf das sozialgeschichtliche Schicksal des Bildungsbegriffs in der sich formierenden Massengesellschaft. Bereits zur Jahrhundertwende entlädt sich nämlich das Unbehagen an Bildungsstoffen und Bildungsinstitutionen des Kaiserreichs in zwei signifikante Richtungen: Es entstehen erstens elitäre Erziehungsideen, die den Zugang zu den Bildungsgütern noch strenger überwacht sehen wollen und aus dem eigenen Wissensvorsprung einen moralischen und politischen Führungsanspruch ableiten. Zweitens verselbständigt sich die an den "Realien" und der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung ausgerichtete Spezialisierung und Berufsausbildung, um gleichsam Diltheys methodische Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften in der historischen Wirklichkeit zu bestätigen. Hier schließt nach dem Zusammenbruch der Werte des deutschen Bildungsbürgertums in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs der erstmals sozialwissenschaftlich (M.Weber) reflektierte Bildungsbegriff der Weimarer Republik an. Die Konfrontation völkisch-nationaler, bürgerlich-liberaler und sozialistisch-kommunistischer Positionen machte ihn zum politischen und ideologischen Streitobjekt, der Sieg des Nationalsozialismus nach 1933 aber zum Gegenstand "germanischer" Restauration, welche die modernen Zivilisationsschäden heilen bzw. verschleiern wollte, an deren Hervorbringung die eigene Rüstungs- und Kriegspolitik doch selbst sehr kräftig mitwirkte.
Die Massen-Katastrophen des 20.Jahrhunderts haben nicht nur die tradierten Begriffe von Bildung, Humanismus, Geisteswissenschaft schwer beschädigt, sondern erstmals auch das Vertrauen in den wissenschaftlich-technischen Fortschritt auf breiter Front erschüttert. So konnte nach 1945 ein "entnazifizierter" Bildungsbegriff unerwartet nochmals zum Rettungssymbol vor der allenthalben beschworenen "Gefahr der Selbstentfremdung des Menschen" werden. Um den systematischen Handlungszwängen einer maschinenstarrenden Arbeitswelt, einer anonymen Massengesellschaft, einer hochspezialisierten Wissenschaft zu begegnen, sollte Ausbildung mit allgemeiner Bildung, berufliche Sachkenntnis mit moralischer Selbstbesinnung ausbalanciert werden. Das neue westliche Demokratieverständnis verlangte für alle und von allen ein Vermögen der wertenden Unterscheidung und ordnenden Synthese, das individuell gebunden in der Beschäftigung mit den Kulturgütern zu entwickeln war. Linken Bildungsplanern schien 1970 schließlich gar die Utopie einer Bildungsgesellschaft realisierbar: "Bildung für alle" wurde zur "sozialen Frage" des 20.Jahrhunderts ausgerufen. Die aus der Ideologiekritik des Besitzbürgertums und seiner Verstrickung in Nationalsozialismus und Faschismus gewonnene radikaldemokratische Idee der Bildungsgesellschaft führte alsbald zur Ausbauoffensive in Schulen und Universitäten. Die Umwandlung der alten Philosophischen Fakultäten in einzelne Fachbereiche zeigte freilich schon bald, wie dabei mit Hoffnung beladene Bildungsreformen in Resignation verwaltende Ausbildungsbürokratien umschlugen.
Nach dem anders als erwarteten Ende der sozialreformerischen Bildungsoffensive der siebziger Jahre gerieten die traditionell für allgemeine Bildung zuständigen Geisteswissenschaften in eine erste Legitimationskrise, die ein neuer Zwang zur Spezialisierung und eine am Muster der empirischen Wissenschaften gewonnene Forderung nach methodischem Expertenwissen spätestens in den achtziger Jahren zur Dauerkrise des eigenen Selbstverständnisses ausweitete. Auf ihre ökonomische Verwertbarkeit befragt, fanden sie sich doppelt in die Defensive gedrängt. Der Rückzug in detaillierte Einzelleistungen der historischen Forschung und der Rücktritt von der mißlichen pädagogischen Verantwortung für Bildung im allgemeinen erschienen als rettende Strategien des Überlebens. Eine positivere Neuorientierung in Fragen der Bildung bereitete demgegenüber in den neunziger Jahren die progressive Umdefinition der Geisteswissenschaften zu Kulturwissenschaften vor, die auch zu einer Neubestimmung verschiedener Begriffs- und Theorietraditionen seit dem 19.Jahrhundert führte. Im kulturanthropologischen Gefolge von Erinnerung und Gedächtnis sollte zuletzt auch Bildung neues theoretisches (und praktisches) Interesse finden. So warben Aleida und Jan Assmann für Bildung als individuelle Teilhabe (methexis) am kulturellen Gedächtnis, das als „überlebenszeitliche Langzeitperspektive“ unentbehrlich für die eigene Selbstaufklärung erscheint.
Im Horizont eines fortschreitenden gesellschaftlichen Orientierungsschwunds mag es deshalb nicht verwunderlich sein, daß die Frage nach der Zukunft der Bildung neue Aktualität erfahren hat. Bildung. Alles, was man wissen muß - 1999 konnte Dietrich Schwanitz mit einem ebenso minimalistisch reduzierten wie öffentliche Verbindlichkeit reklamierenden Kanon des Allgemeinwissens einen deutschen Bestseller landen. Verrät Schwanitz' "Buch mit dem ganzen Marschgepäck, das man Bildung nennt" nach der Katastrophe des deutschen Bildungsbürgertums im Dritten Reich und der Ächtung ihrer Nachhut unter allgemeinem Ideologieverdacht in der Studentenbewegung um 1968 nun nach der sogenannten Wiedervereiniung von 1990 einen neuen Willen zu deutscher Normalität? Eher scheint der frühere Anglistik-Professor Schwanitz auf den (Wieder-)Anschluß an die westliche Konversationskultur abzuzielen, auch wenn deren bürgerlich liberales Modell seinerseits aristokratischen Formen der Geselligkeit bei Hof und im Salon folgt. Bildung wird dabei als Allgemeinwissen instrumentalisiert, über das man verfügen und sprechen können soll, will man in der Gesellschaft Anerkennung und im Beruf Erfolg verbuchen.
Selbstbewußte Rückwärtsgewandtheit zeichnet dagegen den Bildungsbegriff des klassischen Philologen Manfred Fuhrmann aus, der aus aktuellem Anlaß - Europa schließt sich zusammen - an die kulturelle Identität des Kontinents erinnert hat. Deren Fundamente reichen etwa dreitausend Jahre zurück, verdanken sich Jerusalem, Athen und Rom. Fuhrmann geht es "um alte Bildung, um Bildung aus der Vergangenheit. Der Verfasser", schreibt er, "hält Bildung für eine Form des Bewahrens, wie die Religion oder die Moral, d.h., sie hat seiner Überzeugung nach neben anderem den Zweck, Tradition zu sichern." (Bildung. Europas kulturelle Identität, Stuttgart 2002,S.6) Fuhrmann sucht den Kanon aus christlichen und humanistischen Inhalten nochmals zu vergegenwärtigen, den im bürgerlichen 19.Jahrhundert die recht homogene Schicht der Gebildeten stützte, dem er heute aber selbst nur noch eine akademische Zukunft einräumen kann: Bildung eben als Kenntnisse und Kennerschaft, bezogen auf die europäische Kultur. Nach dem Abbau des altsprachlichen humanistischen Gymnasiums und dem drastischen Rückgang der lateinischen und altgriechischen Sprachkenntnisse konstatiert Fuhrmann gerade in Zeiten der ökonomischen und politischen Integration Europas einen gesamteuropäischen Traditionsverfall, der nicht nur klassischen Humanismus und idealistischen Neuhumanismus in einen akademischen hortus conclusus verweist, sondern auch die Geisteswissenschaften und mit ihnen die Gelehrten und Gebildeten Europas insgesamt.
Schwanitz' mediennah marktgängiges und Fuhrmanns exklusiv akademisches Modell zeigen komplementär im Kontrast: Extension und Intension von Bildung verhalten sich umgekehrt proportional zueinander. Wer auf große Verbreitung in der Gesellschaft und auf vielfältige Anwendungsbereiche setzt, wird Bildung selbst auf mehr oder weniger stereotype Allgemeinheiten zurechtstutzen müssen, die dem anspruchsvollen Blick gegenstandsarm, wenn nicht im Extrem gegenstandslos erscheinen können. Wer umgekehrt auf erlesener Qualität und differenziertem Reichtum der Bildung besteht, läuft seinerseits Gefahr, Refeudalisierungstendenzen im demokratischen Umfeld das Wort zu reden. Er wird so kaum umhin können, seine exquisiten Ansprüche auf einen kleineren – akademischen - Kreis zu bescheiden.
Wenn jetzt zu Beginn des 21.Jahrhunderts Bildung in Deutschland als kontrastives Komplement zur Massen-Hochschule von „Bologna-Prozeß“ und BA-Studiengängen erneut auf der gesellschaftlichen Tagesordnung erscheint, kann dies im Kontext einer Enttabuisierung des akademischen Elite- und Exzellenzdenkens als Schritt voran nur begrüßt werden. Das latente "Unbehagen an der Bildung in Deutschland", von dem auch die schon zu Beginn apostrophierte Initiative McKinsey bildet ausgeht, verlangt dabei zugleich, durch historische Reflexion aufgeklärt zu werden. Und nicht weniger jene geisteswissenschaftliche Nostalgie an den deutschen Universitäten, die sich auch durch die hektische Folge der Hochschul-Reformversuche alimentiert sah, welche jeweils machten, daß die vorangegangenen Zustände im Rückblick als die je besseren erscheinen konnten...