Anfangen und Aufhören. Poetik –Rhetorik – Anthropologie
Vorbemerkung
Der vorliegende Text ist aus einer Abschiedsvorlesung an der Keio-Universität zu Tokyo hervorgegangen, an welcher der Verfasser von 1998 bis 2014 gelehrt hat. Trotz gelegentlicher Korrekturen und Ergänzungen begnügt sich dieser Essay von Anfang an mit einer kursorischen Sichtung und einer intermittierenden Reflexion, deren Zusammenspiel weniger einen vorab verabredeten Gegenstand fest umreißen als offene Fragen freizulegen sucht. Dass diese offenen Fragen mit der Komplexität von biographischen und historischen Umbruchssituationen zu tun haben, annonciert schon der Titel „Anfangen und Aufhören“. Chronologische Gleichzeitigkeit, gemeinsamer kultureller Kontext sowie eine Wahrnehmung aus ähnlicher Lebens- und Bewusstseinslagerung heraus gehörten 1928 für Karl Mannheim zu den entscheidenden Bestimmungen von generationeller Vergemeinschaftung, womit er das alte „Problem der Generationen“[1] soziologisch erfassen wollte. Wie eine Generationentheorie im 21.Jahrhundert unter den neuen Bedingungen von Globalisierung, Transnationalität und Transkulturalität zu denken wäre, steht heute allerdings in Frage. Zwischen Tokyo, Köln und Paris sei der Essay dem Freund Gérard Raulet gewidmet.
1.
„Anfangen und Aufhören“ – so lautet also der Titel des vorliegenden Essays, der sich in der Tradition dieser Schreibweise seit Montaigne in actu als Versuch versteht. „Poetik“, Rhetorik“ und „Anthropologie“ nennen mit alteuropäischen, humanistischen Ausdrücken die Perspektiven, unter denen das Titel-Thema besonders beleuchtet werden soll. Trotz der dem Altgriechischen entsprungenen Bezeichnungen reflektieren diese Perspektiven aber durchaus die methodischen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte in unseren Humanwissenschaften. Die Literaturwissenschaft hat etwa – zum Teil riskante - Anleihen bei der Kritischen Theorie, der Diskursanalyse und Medienwissenschaft getätigt, damit jedenfalls ermöglicht, Poetik und Rhetorik neu zusammenzuführen. Sie hat zuletzt auch Fragen historischer Anthropologie und Kulturwissenschaft als eigene Kernfragen akzeptiert, was wiederum ermöglicht hat, von Fall zu Fall problemorientierte Allianzen von Literatur und Kritik, Kulturgeschichte und Philosophie neu zu schmieden. Langer Rede kurzer Sinn: Poetik, Rhetorik, Anthropologie stehen für Perspektiven, die in den nachfolgenden Ausführungen am Thema selbst vielfältig verbunden bzw. vernetzt werden.
„Anfangen und Aufhören“ – dieser Titel scheint nun in der Tat ein sehr allgemein gehaltenes Thema zu annoncieren. Vielleicht doch ein zu triviales Thema? Wer hätte nicht – gestern oder heute - so manches schon angefangen? Und auch so manches – gestern oder heute - wieder aufgehört? Ohne umständlich Voraussetzungen vorzustellen, so scheint es, können wir als zeitgenössische Experten des Alltags mit diesem allgemeinen Thema wohl alle etwas anfangen. Was können wir aber konkret damit anfangen? Lebensweltliches Alltagswissen und methodisches Reflexionswissen stehen seit der Entwicklung der Naturwissenschaften in der Frühen Neuzeit und der Human- und Sozialwissenschaften seit der Aufklärung selten mehr auf gutem Fuß miteinander. Immanuel Kant hat das politische Recht der Kritik an allem Wissen, hat die Freiheit zur vernünftigen Kritik gegen Religion und Tradition, gegen Autorität und instrumentellen Nutzen verteidigt: Recht und Freiheit der Kritik dürfen nicht eingeschränkt werden, weil ihr alleiniger Ausweis die eigene Vernunftgegründetheit sein sollte. Und seit dem großen Systemphilosophen des deutschen Idealismus, seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel und seiner Überbietung bzw. „Aufhebung“ des kritischen Dualismus wissen wir außerdem: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“[2]
Betrachten wir also aus methodischer Vorsicht zunächst die im Titel „Anfangen und Aufhören“ genannten sprachlichen Ausdrücke und ihren gewöhnlichen Gebrauch selber. Sprachgebrauch und Grammatik der deutschen Sprache bieten neben der transitiven Form mit direktem Objekt – etwas anfangen, etwas aufhören, z.B. einen bestimmten Streit anfangen, ihn aufhören - auch die Variante der Präpositionalphrase: mit etwas anfangen, mit etwas aufhören, z.B. mit dem Vortrag anfangen, mit ihm aufhören. Unser Sprecher-Interesse fragt dann nicht mehr in erster Linie nach dem Was?, sondern vielmehr nach dem Womit?, nach dem Wie? Erlauben Sie, dass ich mich hier zur Verdeutlichung nicht weiter an die neuere Sprachwissenschaft halte, sondern vielmehr an das aus der griechisch-römischen Antike überlieferte Frageraster der rhetorischen Inventio erinnere. Nach der „klassischen“ Rhetorik (Aristoteles, Cicero, Quintilianus) sollte das Raster der Inventio dem Redner, dem Orator, vor allem Anfang der Rede helfen, zu Stoff bzw. Thema (materia) die passenden Gedanken (res) zu finden – noch vor den passenden Worten (verba), deren parteigünstige Auswahl und Zuordnung zu eben jenen „res“ erst die Dispositio zu leisten hatte, noch vor den Stilfiguren des Redeschmucks (ornatus), welche die Elocutio dann einzusetzen hatte. Quis, quid, ubi, quando, quomodo, quibus auxiliis, cur, nämlich Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Womit? Warum? – ohne diese W-Fragen kommt kaum noch ein vernünftiger Grammatik-Unterricht aus. So etwa, wenn man in China oder Japan gewisse Strukturgegebenheiten einer europäischen Sprache an die außereuropäischen Lerner vermitteln will. Und Leser und Liebhaber von Detektivgeschichten wissen natürlich, dass diese alten Fragen noch bei jeder Aufklärung eines Kriminalfalles eine große Hilfe sind.
Man kann also sagen: Bei unserer Präpositionalphrase – mit etwas anfangen, mit etwas aufhören – tritt die direkte und transitive Frage des „quid?“ (Was?) gegenüber den Fragen des „quibus auxiliis?“ (Womit?) und des „quomodo?“ („Wie?) zurück. Es geht also weniger darum, was? anfangen oder aufhören, sondern vielmehr wie? und womit? anfangen oder aufhören. Die mit der Präpositionalphrase in den Vordergrund gerückte Frage nach dem Mittel und der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt gibt nun ferner noch den Blick frei auf eine weitere Variante, eine Null-Variante gleichsam: auf den intransitiven Gebrauch der Verben anfangen und aufhören nämlich, der mit ihrer Substantivierung und Nominalisierung einhergeht. Nicht also etwas anfangen oder etwas aufhören, auch nicht mit etwas anfangen oder mit etwas aufhören, sondern einfach: Anfangen und Aufhören. Es handelt sich hier um ein Anfangen und ein Aufhören sans phrase, will sagen: ohne weitere äußerliche bzw. akzidentelle Bestimmung. Es ist dieses Anfangen und Aufhören als solches selbst, auf das mein Titel „Anfangen und Aufhören“ anspielt. Dass ich damit einem beliebten selbstreflexiven Sprachgebrauch in deutscher Poesie (unter anderen Dichtern z.B. bei Rilke) und Philosophie (unter anderen Denkern z.B. bei Heidegger) folge, möchte ich hier nur am Rande anmerken.
2.
Nach diesen vorbereitenden Ausführungen soll näher auf drei Bücher eingegangen werden, die in den letzten Jahren in Deutschland erschienen sind und Wichtiges zu dem Titel-Thema vorgebracht haben. Da ist zunächst das 1997 erschienene, über 600 Seiten umfassende, schwergewichtige Werk des großen Literaturwissenschaftlers Karl Heinz Bohrer. Sinnigerweise hat er das Buch zeitnah zur eigenen Emeritierung an der Universität Bielefeld verfasst. Sein Titel heißt Der Abschied. Theorie der Trauer.[3] Ungeachtet aller Fachzwänge - und insbesondere im Kontrast zum immer noch institutionell vorgegebenen, methodischen Nationalismus der Germanistik als Nationalphilologie - beschränkt sich Bohrer keineswegs nur auf deutsche Literatur. Paris und London kennt er als eigene Lebensmittelpunkte sehr gut, die Wechselwirkung der französischen, englischen und deutschen Literatur seit der Romantik ist nachgerade sein privilegiertes Forschungsfeld geworden. Bei Charles Baudelaire, Wolfgang von Goethe, Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin arbeitet sein materialreiches Buch nicht nur verschiedene literarische Formen des Abschiednehmens heraus. Wichtiger noch scheint mir Bohrers systematische Unterscheidung von differenten Typen des Abschieds und der Trauer in der europäischen Moderne - von zwei bzw. drei Typen ist die Rede.
Da ist zunächst jenes schöne wie sentimentale Abschiednehmen, darin sich Klage, Abschied und Trauer zum wirkmächtigen elegischen Strom der Empfindungen und Gefühle im Abendland vereinigt haben. In Klageliedern und Elegien hat er seine antiken Quellen (z.B. von Kallichamos, Tibull, Properz, Ovid), im lyrischen Petrarkismus seit der frühen Renaissance einen starken Zufluss. In der Mitte dieses mächtigen Stromes stoßen wir immer wieder auf die elegische Phantasie eines Wiedersehens – wann auch immer, wo auch immer, zur Not erst im Jenseits. Denken wir an Goethes Werther, der in einem Abschiedsbrief an die geliebte, doch unerreichbare Lotte vor dem Selbstmord Trost in der Vorstellung findet, Lotte werde einst sein Grab aufsuchen. Oder an Goethes Wahlverwandtschaften, wo die Liebenden - Ottilie und Eduard – nicht im Leben, vielmehr erst im Grabe nebeneinander zueinander finden können. Gegen solche empfindsame „Friedhofspoesie“ hatte Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung bereits 1795 geschichtsphilosophische Unterscheidungen geltend gemacht, indem er Satire, Elegie und Idylle - als moderne Dichtungsformen wie auch Empfindungsweisen - jeweils auf den irreversiblen Bruch zwischen antikem Ideal und moderner Wirklichkeit bezogen hatte. Hölderlins elegische Dichtungen, die den Verlust der antiken Götterwelt und des klassischen Griechenland betrauern, radikalisieren ferner Schillers Bruch: sie werden selbst zum Ausdruck von Distanz und parataktischer Zäsur, die vergangenes Einst und heutiges Jetzt und einstiges Einst trennen. Dem geschichtsphilosophisch aufgeklärten, romantischen Abschiedsenthusiasmus, häufig verbunden mit dem Palingenesie-Gedanken über den Tod hinaus, gesteht Bohrer bei Hölderlin, Novalis, Kleist, Jean Paul eine besondere Zwischenstellung zu, die erst den eigentlich modernen Typus vorbereitet.
Entscheidend ist, dass Bohrer der im bürgerlichen Fortgang des 19.Jahrhunderts romantisch und nostalgisch trivialisierten Figur eines Abschiednehmens, wo im Herzen Phantasien von Wiedersehen wuchern, die „Reflexionsfigur des endgültigen Abschieds“ gegenüberstellt, die gerade einen „Abschied ohne Wiedersehen“[4] meint. Besonders Charles Baudelaires radikale Melancholie nimmt Bohrer als Zeugnis einer avantgardistisch erneuerten Autonomie des Ästhetischen. Bohrer zielt auf eine extreme Ästhetik des schönen Schreckens: Ohne Versöhnungshoffnung erkunden demnach Baudelaires Fleurs du Mal, lyrische „Blumen des Bösen“ eben, die modernen Grenzen des Erfahrbaren, ohne Sinn und Ziel streift der Spleen de Paris, der Spleen von Baudelaires Prosagedichten, demnach durch die Hinfälligkeit der städtischen Erfahrungslandschaften des 19.Jahrhunderts. Als Beispiele nennt Bohrer besonders Le Cygne und A une passante, zwei Gedichte aus den Tableaux parisiens der Fleurs du Mal. Im letzteren Gedicht, das die Sonettform zitiert, heißt das letzte Terzett, wobei „jamais“ kursiv hervorgehoben ist: „Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! // Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, // Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!“ Unter dem Titel Einer Dame lautet Walter Benjamins Nachdichtung dieses Terzetts: „Weit fort von hier! zu spät! vielleicht auch nimmer? // Verborgen dir mein Weg und mir wohin du mußt // O du die mir bestimmt, o du die es gewußt!“[5]
Das zweite Buch, das hier zu nennen ist, hat Gerhart Schröder, der vormals Romanische Literaturen in Stuttgart lehrte, kürzlich im Alter von 79 Jahren publiziert. Unter dem Titel Die Kunst, anzufangen behandelt es die „Philosophie und Literatur in der Frühen Neuzeit“, in deren Zentrum die Konjunktion von „Kontingenz und Phantasie“[6] verortet wird. Bewusst spart Schröder die unbestrittenen, doch schon vielfach dargestellten Beiträge der italienischen Renaissance des Quattrocento und Quinquecento aus. Michel de Montaigne, Rabelais, Miguel de Cervantes, Baltasar Gracián, auch William Shakespeare sind statt der bekannten Italiener, statt Dante, Petrarca, Boccaccio, Leonardo, Machiavelli oder Castiglione seine vorzüglichen Gewährsmänner, um die Neubegründung von Erkennen, Handeln und Schreiben nach dem Verlust der christlichen Garantien des Mittelalters darzustellen. Kontingenz einer zur Zukunft offenen Welt und neue Freiheit des Subjekts konnten in der Frühen Neuzeit glücklich – noch? - zusammenwirken, um in Kunst, Wissenschaft und Literatur neue Verfahren – verstanden als „Künste“ im humanistischen Sinne der „artes“ – zu entwickeln. Schröder verfolgt Verfahren des spielerischen Erprobens, der Hypothese, des Experiments, die er eben als „Kunst, anzufangen“ (im altgriechischen Sinn von téchne) zusammenfasst.
Für das Titel-Thema bieten die Bücher von Bohrer und Schröder komplementär im Kontrast auch deshalb eine tragfähige Grundlage, weil ihre jeweilige Einseitigkeit in der Akzentuierung von „Aufhören“ bzw. „Abschiednehmen“ versus „Anfangen“ zugleich an die historische und epistemologische Entfernung des 19. Jahrhunderts vom 16.Jahrhundert in Europa gemahnt. Nicht nur die Reformation Martin Luthers, an die unsere offizielle Kommemorationskultur im Banne der Nullen und der runden Zahl – hier 500 – im Jahre 2017 allenthalben erinnern wird, ist dem 16.Jahrhundert entsprungen. Im 16.Jahrhundert startet vor allem die europäische Expansion unter dem Dreigestirn von Erfahrungshunger, Entdeckerlust und ökonomischem Unternehmertum, die mit der beginnenden Globalisierung zugleich Modernisierung und Kolonialisierung über die Weltmeere exportiert. Dem 19.Jahrhundert mit seinen Weltausstellungen in den europäischen Metropolen ist es seinerseits vorbehalten, nicht nur den imperialen „Willen zur Macht“ in der industriellen Ausbeutung von Natur und Mensch zu monumentalisieren. Auf der macht-abgewandten Rückseite des durch Wissenschaft gestützten Fortschrittswahns kann das Jahrhundert von Baudelaire und Nietzsche zugleich die hinfällige Vergänglichkeit alles Wahren und Guten und Schönen sichtbar machen.
Zwischen Romantik und Moderne spitzt Bohrer dementsprechend die Abschiedsfigur auf eine extreme Autonomie der ästhetischen Erfahrung zu, der das jeweilige Präsens nur noch ein „je schon Gewesensein“[7] anzeigt. Dagegen entdeckt Schröders Blick auf die Frühe Neuzeit die „Kunst, anzufangen“ als interdisziplinären Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Phantasie, für die Kontingenz der Erfahrung vor allem Freiheit und offene Zukunft meint. „Ingenium“, die Begabung zu Findung und Erfindung, „iudicium“, die Kraft zu Unterscheidung und Urteil, „acumen“, die Fähigkeit zu Witz und Scharfsinn, sie wirken für ihn beispielhaft im skeptischen Essayismus Montaignes zusammen. Essay und Aphorismus sind auch die in der Frühen Neuzeit neugeborenen Formen des philosophischen und literarischen Schreibens, die bis in die heutigen Medienverhältnisse und Medienkonkurrenzen unserer Informations- und Konsumgesellschaften hinein eine gewisse Bedeutung und Wirksamkeit verteidigen konnten. Beiden Formen gelang es, den jeweiligen medialen Modernisierungszwängen und technischen Modernisierungschüben erfinderisch zu begegnen. „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“[8] – diese Weisheit hat Samuel Beckett in einem seiner allerletzten Texte auf einsamem – verlorenem? - Posten als – vielleicht letzten? - Schlachtruf des neuzeitlichen Essayismus ausgegeben.
Um die kontrastive Komplementarität von Anfangen und Aufhören weiter zu verdeutlichen, scheint es sinnvoll, ein drittes Buch heranzuziehen. Es trägt den Titel Über das Zaudern und verweist indirekt auf eine Art „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein) von Anfangen und Aufhören. Geschrieben hat es 2007 der Berliner Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl, der eine zauberische „Zauder-Funktion“ in der langen abendländischen Geschichte extrapoliert: „Das Zaudern begleitet den Imperativ des Handelns und der Bewerkstelligung wie ein Schatten, wie ein ruinöser Gegenspieler“.[9] Das Innehalten beim Zaudern hat seinen positiven Darlegungen nach viel mit dem Denken und der Reflexion zu tun. Die Quellen für seine Fallstudien zum Zaudern reichen von Aischylos’ Orestie über Shakepeares Hamlet und Schillers Wallenstein bis zu Kafkas Texten und Musils Mann ohne Eigenschaften, auch Freud und Deleuze werden miteinbezogen. Aufschub, Stockung, Verzögerung – Zaudern zwischen Handeln und Nicht-Handeln, zwischen Eingreifen und Untätigbleiben, kann zudem - wenn nicht zuerst, was allerdings außerhalb von Vogls Untersuchungsperspektive bleibt – als Zaudern vor dem Anfangen oder auch als Zaudern vor dem Aufhören verstanden werden – und oftmals als das eine und das andere zugleich. Auch Aufhören will angefangen sein, auch Anfangen will aufgehört werden. Zaudern unterlässt, versäumt das eine wie das andere, sowohl anfangendes Handeln als auch aufhörendes Eingreifen, verharrt im zauberischen, träumerischen – traumatischen? - Hin und Her endloser Schwebe. Essayismus ist das luftige Band, das über gut drei Jahrhunderte hinweg den frühneuzeitlichen Skeptiker Montaigne, den französischen Begründer der Essay-Form, mit dem neusachlichen Zauderer und seinem „Möglichkeitssinn“, mit der „kalten persona“ von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ verbindet.
Dass gerade aus sogenannter „Politischer Romantik“, d.h. aus Melancholie, Traum, endlosem Gerede und Reflexionsüberschuss der „Wille zur Macht“ in der – göttlichen oder übermenschlichen? – Blitz-Gestalt des Dezisionismus von Entscheidung und Tat hervorbrechen können soll, hat nach dem Ersten Weltkrieg bekanntlich der Rechtsphilosoph Carl Schmitt gepredigt. In der Zeit zwischen den Weltkriegen haben extreme Haltungen und ihre Überwindungsversuche dazu überhaupt Konjunktur. Indem Walter Benjamins Politisierung der Ästhetik aus der Melancholie des zaudernden Allegorikers den manischen Funken revolutionärer Unterbrechung und eingreifender Zäsur schlagen wollte, hat sie u.a. auch Bertolt Brechts Theorie und Praxis des epischen Theaters eine - wiewohl brüchige - Rechtfertigung geliefert. Zauderer wissen um die abgründige Problematik von Anfangen und Aufhören – sie sind als Artisten wahre Experten des Anfangens und Aufhörens, und dies gerade deshalb, weil sie aus Reflexionsüberschuss selber niemals zur Tat kommen. Zur Tat nicht, doch zum Zuschauen, was die anderen je immer schon tun. Dann nämlich, wenn sie als Zauderer verstehen, aus der Handlungsnot eine ästhetische Tugend zu machen und sich zum scharfsichtigen wie distanten Zuschauer im „theatrum mundi“, im Welttheater, zu verwandeln. „Schiffbruch mit Zuschauer“[10] – mit dieser nautischen Metapher hat Hans Blumenberg im Kommentar zur Eingangspassage des zweiten Buchs von De rerum natura, dem berühmten philosophischen Lehrgedicht des epikureischen Atomisten Lucretius (ca. 96 -55 v.Chr.), diese kontemplative Zuschauerposition aufs Neue in den philosophischen Adelsstand erhoben.
Anfangen und Aufhören – gerade die „Zauderfunktion“ im Anschluss an Joseph Vogls Darlegungen zeigt uns, dass Anfangen und Aufhören die neuralgischen Punkte eines jeden Handelns ausmachen – irgendwo, am besten wohl mitten im Tun und Handeln zu stecken, scheint dagegen eine gewisse Sicherheit zu garantieren. Wir können hier einmal die Option der ostentativen Handlungsverweigerung – z.B. die kontemplative Zuschauerposition des Dandy, der eben diese seine Position ausstellt – als ästhetische Fiktion einklammern, die sich kaum dauerhaft in der Schwebe stabilisieren lässt. Man kann nicht nicht kommunizieren, auch Verstummen oder Schweigen partizipiert noch an Kommunikation. Gerade ostentative Handlungsverweigerung ist entsprechend auch ein Handeln, wie immer der so Nicht-Handelnde bzw. Handelnde sein Nicht-Handeln bzw. Handeln auch verstanden haben will. Was immer man tut und unternimmt, oder: was immer man nicht tut und nicht unternimmt, mindestens zum Anfangen und Aufhören sollte man sich vorab einige Überlegungen machen. Nur Surrealisten – à la Marcel Duchamp oder Salvador Dalí - oder Situationisten, etwa in der Sponti-Nachfolge von Guy Debord, wagen es in gewisser Weise, alles auf eine Karte zu setzen und blind der eigenen schöpferischen Intuition in der Situation selbst zu vertrauen.
3.
Nach den bisherigen Ausführungen drängen sich nun doch methodische Fragen auf: Warum so hartnäckig vom gewöhnlichen und traditionell-gelehrten Sprachgebrauch abweichen? Warum nicht endlich zum „Eigentlichen“ kommen? Zu Anfang und Ende, Ursprung und Ziel, Material und Zweck, Voraussetzung und Schluss, Hoffnung und Erfüllung, Schöpfung und Erlösung, Genesis und Apokalypse, Arché und Eschaton? Zu Alpha und Omega, zu den sogenannten „ersten und letzten Dingen“? Warum geht es also immer nur, immer noch nur um Anfangen und Aufhören? Vielleicht kann aber die hier von Anfang an leitende Diskursstrategie zugleich schon plausibel erscheinen: Gegen den „modernen“ Zwang zur Nominalisierung und wissenschaftlichen Begriffssprache versucht die Performanz der essayistischen Redens bzw. Schreibens zumindest tendenziell, Nominales, wo irgend möglich, in Verbales rückzuverwandeln. Oder anders gesagt, durch Diskursivierung wird eben in actu versucht, nominale, durch Nominalisierung beförderte Ontologisierungen auf Geschehen, Ereignis und eben menschliches Handeln hin transparent zu machen. Besorgt hat der späte Heidegger immer wieder – etwa 1955 im zunächst Ernst Jünger gewidmeten Aufsatz Zur Seinsfrage – auf die „recht bedachte Vergessenheit, die Verbergung des noch unentborgenen Wesens“[11] hingewiesen. Wohl gemerkt: die Aufmerksamkeit gilt dem „Wesen (verbal) des Seins“, wobei „Sein“ hier durchkreuzt hervorgehoben wird. Nach Heidegger ist es die übliche substantialistische Rede von „Wesen“ bzw. vom „Wesen (nominal)“, welche die „Seinsvergessenheit“ der abendländischen Metaphysik selbst gerade perpetuiert.
Heideggers Besinnung auf Sein, Geschehen und Ereignis gegenüber dem assertorischen Zugriff der Begriffssprache hat in der Ereignisphilosophie von Gilles Deleuze ein starkes Echo gefunden. Dieses Philosophieren versuchte, das Ereignishafte am Ereignis gegen das Geschichtsereignis der Historiographie einerseits und den Event-Betrieb von Marketing und Dienstleistungsökonomie andererseits zu behaupten. Für Deleuze (z.B. in Différence et Répétion, 1968 und La Logique du sens, 1973) ist das Ereignis kein Objekt, kein Gegenstand, kein Referent, weshalb dem Ereignis nach Maßgabe alteuropäischer Begriffe von Form und Materie, von Substanz und Attribut, von Subjekt und Prädikat auch nicht beizukommen wäre. Konstellation, Kombination, Begegnung sind stattdessen Konzepte, die Deleuze zur Annäherung an das Ereignishafte des Ereignisses bemüht. Tlön, Uqbar, Orbis Tertius heißt eine der berühmten Ficciones des argentinischen Autors Jorge Luis Borges, die von der philologischen Entdeckung einer mysteriösen Enzyklopädie erzählt, die eine unbekannte Welt evoziert. Deleuze hat diese Fiktion aus dem Jahre 1940 ganz aufmerksam gelesen. Alles erscheint in der phantastischen Welt, die der Erzähler aus der ominösen Enzyklopädie aufsteigen lässt, flüchtig und unbeständig, von zweifelhafter Kohärenz und Konsistenz. Auch die Sprache von Tlön hat signifikanterweise keine Substantive, es gibt nur umständliche Konstellationen von Verben und Adjektiven, um auf Gegenstände, eher auf Umstände oder Ereignisse eben, hinzuweisen: „Esse est percipi“, Sein ist Wahrgenommenwerden, wie George Berkeley, irischer Philosoph der englischen Aufklärung und des Sensualismus, geschrieben hatte. In der Welt von Tlön reicht nach Borges’ Ficción Wahrnehmen als generative Matrix für das Sein schon aus.
Der Siegener Germanist Peter Matussek hat in seinem Aufsatz Endzeiten und Zeitenenden. Figuren der Finalität vier Diskursfiguren unterschieden, die im Referenzrahmen von Zeit und Raum vom Ende sprechen.[12] Da erscheint zunächst die Geschichtsphilosophie, die das zeitliche Ende im Sinne des „Untergangs“ beurteile, sei es nun pessimistisch als Verfall oder optimistisch als Voraussetzung einer besseren Zukunft. Die neuere Mediengeschichte thematisiere dieses zeitliche Ende sodann im deskriptiveren Sinne des „Übergangs“, etwa als Medienwechsel oder Medienumbruch. Die Akzentuierung des zeitlichen Referenzrahmens vor dem räumlichen kann unschwer mit der neuzeitlichen und modernen Entfaltung des Geschichtsbewusstseins in Europa in Zusammenhang gebracht werden. Der Vorrang räumlicher Orientierungen weist dagegen nach Gehalt und Gestalt auf vormoderne, seien es mythische oder ästhetische, Konzeptionen zurück. Das Ende als räumlichen Übergang verortet Matussek entsprechend in ethno-religiösen und kulturanthropologischen Diskursfeldern, wenn es z.B. im Zusammenhang mit Todesvorstellungen um Schwellen und Passagen zwischen Diesseits und Jenseits geht. Schließlich gehört der „räumlich vorgestellte Untergang“ zweifellos in den ästhetischen Erfahrungsbereich, dem als performative Diskursfigur Verstummen und Schweigen adäquat scheinen. Matussek geht hier auf die durch technisch-mediale Animation und Automation historisch verschobenen Schamschwellen ein, lässt jedoch die reiche ästhetische Erfahrung des Tragischen ganz außer Acht – von der antiken Tragödie bis zum „sentimiento trágico de la vida“ (Miguel de Unamuno) um 1900, das auch Georg Simmel oder den jungen Georg Lukács beschäftigt hat.
Diskurse über „das Ende“, welches besondere Ende nun auch immer, partizipieren, wie auch immer vermittelt, an apokalyptischen Endzeitvorstellungen, die in der jüdisch-christlichen Tradition verankert sind. Hegel hat zwischen 1817 und 1829 in seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“ vom „Ende der Kunst“ gesprochen, die „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes“[13] geworden sei; Spengler hat 1922 über den „Untergang des Abendlandes“ geschrieben, McLuhan 1962 das „Ende des Buchzeitalters“ prognostiziert, Michel Foucault 1966 das „Verschwinden des Menschen“, und Francis Fukuyama, wir erinnern uns müde daran, 1992 „The End of History“. Auch in der Literatur erschien nach 1945 viel „Ende“ und „Untergang“, etwa Samuel Becketts Fin de partie bzw. “Endspiel“ aus dem Jahr 1956 oder Hans Magnus Enzensbergers komisch-groteskes Endzeit-Szenario im Untergang der Titanic von 1978, das Untergang als Spektakel und Event durchspielt. Was nicht heißen soll, dass die Literatur des 19. und des frühen 20.Jahrhunderts nichts von „Untergang“ und „Ende“ hätte wissen wollen. Das Gegenteil ist der Fall, wie schon Richard Wagners Götter-Dämmerung (Bayreuth, 1874-1876) und Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit (Wien, 1915-1922) zeigen.
Das nach dem Wiedersehen mit dem Marburger Lehrer Heidegger verfasste anthropologische Hauptwerk von Hannah Arendt Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960, zuerst Chicago 1958 unter dem Titel The Human Condition) unterscheidet drei menschliche Grundtätigkeiten: „Arbeiten, Herstellen und Handeln“, die wiederum Grundbedingungen entsprechen, unter denen uns „das Leben auf der Erde gegeben“ ist.[14] Schon das erste Kapitel des Buches verwirft die Frage nach einem „Wesen des Menschen“ und ersetzt sie unter dem Titel „Die menschliche Bedingtheit“ durch die Frag-Würdigkeit der „Condition humaine“. Neben der Gabe des Erden-Lebens nennt Arendt vier weitere Bedingungen der menschlichen Existenz: „Mortalität“, „Natalität“, „Pluralität“ und „Weltlichkeit“.[15] Wie schon die vielen Diskurse über das Ende anzeigen, stellt das Nachdenken über Tod und Endlichkeit des Menschen, sei der Titel nun „Unsterblichkeit“, „Erlösung“, „Selbsterhaltung“, „Gedächtnis“, „Tradition“ oder „Geschichte“, allenthalben „Mortalität“ als conditio sine qua non eben „der Sterblichen“ heraus. „Natalität“ als Zur-Welt-Kommen hat hingegen erst bei Arendt eine deutliche Aufwertung im Sinne politischer Philosophie erfahren: „ein initium setzen“, „selbst einen neuen Anfang machen“[16] reflektiert Freiheit und Menschenrecht des Individuums zum eigenen Handeln in einer vorgegebenen Welt. Dabei ermöglicht „Pluralität“ als conditio per quam überhaupt erst Kultur und politisches Handeln. Im Widerspruch zur biblischen Genesis, die Gott den Menschen Adam erschaffen lässt, kommen Menschen seit Urzeiten immer nur im Plural vor. Pluralität ist ursprünglich, Vielheit kann keineswegs nur als Vervielfältigung eines Ersten gedacht werden. Umgekehrt dürfte „der Mensch“ im Singular eigentlich nur als Pluraletantum und späte Abstraktion verstanden werden. Weder ein einziger Mensch, noch viele Menschen im Plural sind aber schließlich ohne die Wirklichkeit einer „Welt“ möglich. Durch die Bedingung der „Weltlichkeit“ drückt Arendts Anthropologie aus, dass die durch die Menschen selbst geschaffene Welt der Kultur als zweite Natur gleich bedingende Kraft besitzt wie die natürliche Gabe des Erdenlebens mitsamt der umgebenden Natur.
4.
Im Vorwort zur ersten Auflage seiner deutschen Philosophiegeschichte des 19.Jahrhunderts Von Hegel zu Nietzsche hatte Karl Löwith 1939 in der Emigration im japanischen Sendai geschrieben: „Weil aber die Gleichsetzung der Philosophie mit dem ‚Geist der Zeit’ ihre revolutionierende Kraft durch Hegels Schüler gewann, wird zumal eine Studie über die Zeit von Hegel bis Nietzsche am Ende die Frage aufwerfen müssen: bestimmt sich das Sein und der ‚Sinn’ der Geschichte überhaupt aus ihr selbst, und wenn nicht, woraus dann?“[17] Diese Frage nach dem „Sinn der Geschichte überhaupt“ bestimmt den 1949 in Chicago unter dem Titel Meaning in History zuerst veröffentlichten Versuch, einen theologischen Sinn des europäischen geschichtsphilosophischen Denkens über alles bloß geschichtliche Denken hinaus nachzuweisen. Die deutsche Ausgabe Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie erschien 1953, nachdem Löwith den Leitgedanken unter demselben Titel in der Festschrift zu Heideggers 60.Geburtstag (1950) schon kritisch gegen den früheren Lehrer gewendet hatte: Heideggers Existenzialontologie sei trotz der gewagten Annäherung an die vorsokratische Überlieferung in dem christlichen Horizont heilsgeschichtlicher Endzeiterwartung befangen geblieben. „Dasein“ gründe, indem es seine Endlichkeit und sein Ende vorweg übernimmt, „in einem Sich-entwerfen auf die Zukunft hin“, von der her es im Augenblick der Entscheidung „auf seine geworfene Faktizität“[18] erst selbstbestimmend zurückkomme. Heideggers ontologische Bestimmung der „Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins“, das in Sein und Zeit (1927) im Anschluss an die „Sorge“ als verstehendes Dasein durch „Vorhabe“, „Vorsicht“ und „Vorgriff“[19] charakterisiert ist, kann einen Rest von christlicher Theologie wohl kaum verbergen. Heideggers Hören auf die sprachliche Überlieferung in Metaphysik und Metaphorik eröffnet gerade die Konfrontation von christlichen Linearitätsvorstellungen und vorsokratischem Kosmos-Denken. Löwith scheint demgegenüber fixiert auf geistes- und weltgeschichtlich sich durchhaltende Substanzen und Konstanten, die sprachphilosophische Überlegungen zur Begriffs- und Metapherngeschichte kaum zulassen.
Löwiths Ansatz zielt gewiss kritisch darauf, die eschatologischen Zeitstrukturen jüdisch-christlicher Heilserwartung im neuzeitlichen Geschichtsdenken als deren Nachgeschichte zwischen Prophetie und Telos aufzuspüren. Seine Absicht, moderne Fortschrittserwartungen als theologische Restbestände zu entmythologisieren, ist gleichwohl zur marktgängigen These von der „Säkularisierung“ jüdisch-christlicher Eschatologie durch Geschichtsphilosophie, Existenzialismus und Marxismus verflacht worden. Diese konnte im Amerika der Nachkriegszeit bzw. im „Kalten Krieg“ der freien Welt gegen den sogenannten Totalitarismus ihre propagandistische Wirkung nicht verfehlen. Löwiths redlicher Skeptizismus fand bei Jacob Burckhardt Zuflucht: Mit einer historischen Rückbesinnung auf die griechische Historiographie (Herodot, Thukydides, Polybios) suchte er die Frage nach dem „Sinn der Geschichte“ durch konkurrierende Überlieferungen von „eschaton“, „telos“, „tyche“, „fortuna“, „providentia“, „fatum“, „finis“ zu neutralisieren. Das europäische Geschichtsdenken, das zwischen dem 16. und 18.Jahrhundert ausgebildet worden ist, zeigt sich genauer als zwiespältige Verschränkung einer zyklisch-periodischen Geschichtsauffassung der Antike mit einem jüdisch-christlichen Glauben an einen linearen, zielgerichteten Geschichtsverlauf. Diese doppelte Kodierung durch griechische „theoria“ bzw. griechischen „logos“ und christliche „pistis“ erscheint Löwith mit ihren gegensätzlichen Sinnbildern, „Kreis“ und “Kreuz“, im Gegensatz zu seinem Lehrer Heidegger kaum vermittelbar: „Denn wie könnte die antike Theorie von der Ewigkeit der Welt mit dem christlichen Glauben an die Schöpfung, der Kreislauf mit einem ‚eschaton’ und die heidnische Anerkennung des Fatums mit der christlichen Pflicht zur Hoffnung je in Einklang gebracht werden?“[20] Löwiths Fokus ist auf den einen weltgeschichtlichen Vorgang eingestellt, wie nämlich im Zerfall der antiken Welt aus dem ewigen Kosmos der Hellenen das vergängliche „saeculum“ der Christen wurde, eine nur noch irdische Aufeinanderfolge jeweils lebender und sterbender Generationen, deren Hoffnung die göttliche Erlösung eben vom „saeculum“ d.h. von der Welt ist.
Diese zuerst in Amerika ausgebildete Säkularisierungs-These ist in Deutschland nicht unwidersprochen geblieben. Besonders Hans Blumenberg hat Löwith vorgehalten, dass er im Anschluss an Hegels Theorie von der Aufhebung der christlichen Reformation in der rechtlich-staatlichen Konstitution der modernen Welt das Heilsgeschehen auf die Ebene der Weltgeschichte projiziert und die Weltgeschichte auf die Ebene der Heilsgeschichte erhoben habe. Hegels homogene Vernunft in der Geschichte, eingeschlossen die „List der Geschichte“, konnte Löwiths (selbst)kritische Skepsis allerdings nur unter einem formalen wie partiellen Aspekt übernehmen, nämlich als Faktor und Resultat der Säkularisierung. „Theologischer Absolutismus“ und/oder „humane Selbstbehauptung“ - Blumenberg kritisiert in seinem vierteiligen Werk Die Legitimität der Neuzeit Löwiths Spezialfall von historischem Substantialismus und hält dagegen, dass die Kontinuität der Geschichte über Epochenschwellen hinweg nicht im Fortbestand ideeller Substanzen, sondern in der tradierten Hypothek der Fragen und Probleme liege, die signifikante Umbesetzungen im je verfügbaren Wissen oder auch neue Antworten verlangen. Im zuerst 1966 erschienenen ersten Teil „Säkularisierung – Kritik einer Kategorie des geschichtlichen Unrechts“ differenziert Blumenberg zwischen Säkularisierung als „Verweltlichung“ einerseits – der juristische Begriff bezogen auf kirchlich-weltliche Eigentumsverhältnisse mitsamt seiner Übertragung auf die Ideengeschichte - und „Weltlichkeit“ als neuzeitlicher Signatur andererseits, die sich „humaner Selbstbehauptung“ verdankt: „Die Neuzeit greift aber nicht so sehr zurück auf das ihr Vorgegebene, sondern sie widersetzt sich und stellt sich seiner Herausforderung. Diese Differenz (...) macht Weltlichkeit zum Kennzeichen der Neuzeit, ohne daß diese aus Verweltlichungen entstanden sein müßte.“[21] Löwiths dualistische Sicht der Weltgeschichte hat unter dem Aspekt der Säkularisierung – so Blumenberg - vor allem den Bruch und Neubeginn zwischen Mittelalter und Neuzeit zur bloßen Episode in der Kontinuität der eschatologischen Verdrängung der Kosmosbindung „depotenziert“. Weil Löwith den Akzent von dem Beginn der Neuzeit auf das traurige Ende der Antike verlagere, entstehe für alles, was danach kam, „so etwas wie eine geschichtliche Gesamtverantwortung mit dem Fazit des Fortschritts als Verhängnis.“[22]
Die Abwendung vom „paganen Kosmos der Antike“ mit seiner zyklisch-periodischen Struktur hat als Hinwendung zu jüdisch-christlicher Eschatologie und monotheistischer Providenz dem Abendland die dominante Vorstellung einer linearen Verlaufsform von (Heils-)Geschichte beschert. Als Wiederkehr jenes weltgeschichtlichen Epochenbruchs, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen (d.h. als Chiasmus), begreift Karl Löwith nun den revolutionären Bruch zwischen Hegel und Nietzsche in der Philosophie des 19.Jahrhunderts. Anders als Heidegger bleibt Löwith in Anlehnung an Jacob Burckhardts „Mäßigkeit“ deshalb skeptisch gegenüber Nietzsches antichristlichem Extremismus der mythischen Rückgewinnung jenes „paganen Kosmos der Antike“ im Zeichen von „Dionysos gegen den Gekreuzigten“[23]. „Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit“ – unter diesem Titel hatte Friedrich Nietzsche bereits 1881 im 49.Stück seiner Morgenröthe mit den „moralischen Vorurtheilen“ des christlich-humanistischen Anthropozentrismus abgerechnet. Vergebens erscheinen alle eitlen Versuche, gleichsam ad maiorem hominum gloriam (zur höheren Ehre der Menschen) Woher und Wohin, Anfang und Ende, „Schöpfung“ und „Erlösung“ der Menschheit zu verherrlichen:
„ – Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des letzten Menschen und Todtengräbers (mit der Aufschrift ‚nihil humani a me alienum puto’). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer als am Anfang stehen! – es gibt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer ‚Erdenbahn’ zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgendein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!“[24]
In den August des Jahres 1881 gehört nach Nietzsches Selbstbekenntnis in Ecce homo auch die Grundkonzeption von Also sprach Zarathustra und damit „der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“[25]. Der Glaube an einen linearen Fortschrittsgang von Leben und Geschichte ist für Nietzsche eine doppelte nihilistische Verkennung, weil man sich damit erstens zu versichern meint, irgendwo, irgendwann in der Ferne der Vergangenheit sei der irreversible Sprung der „Schöpfung“ gemacht worden, auf den fortan nur noch Fortschritte getan werden könnten. Und zweitens, irgendwo, irgendwann in der Ferne der Zukunft trete plötzlich der Umschlag ein, der aus dem Nichts von Ende und Tod die „Erlösung“ zaubert. Bejahung des Lebens und des Leidens kann weder ins Nichts des Ursprungs als der einmaligen Schöpfung noch ins Nichts des Endes als der Erlösung projiziert werden, wie auch Schopenhauers Pessimismus gezeigt hatte. Nietzsche kehrt nicht einfach zur antiken Kosmologie des ewigen Kreislaufs zurück, er kann auch nicht in der schlichten Umkehrung Schopenhauers (vgl. das Nietzsche-Buch von Lou Andreas-Salomé[26]) auf eine Bejahung des buddhistischen Samsara, des ewigen Kreislaufs des Leidens, reduziert werden. Der Gedanke der „Ewigen Wiederkunft des Gleichen“, im Stück Der Genesende (im „Dritten Theil“ des Zarathustra) als „grosses Jahr des Werdens“[27] beschworen, meint ewiges „Werden“ und „Schöpfung“ in jedem Hier und Jetzt, ein „unschuldiges“ Immer-wieder-Anfangen und Immer-wieder-Aufhören, das als – übermenschlicher - „Sinn der Erde“[28] gerade dem „neuen Gefühl“ von „unserer endgültigen Vergänglichkeit“ entsprechen soll. „Incipit tragoedia“[29] - „unersättlich da capo rufend“ will Zarathustras „abgründigster Gedanke“ Leben und Leiden, Großes und Kleines, immer wieder haben, und das alles „so wie es war und ist“. Durch Wort und Gesang und den eigenen Werdegang (der zugleich „Untergang“ und „Übergang“ und „Aufgang“ ist) zeigt der Lehrer Zarathustra als Nietzsches poetische Sprechmaske, dass kein moralisches, d.h. „hinterweltliches“ Sollen, nicht Rache noch Ressentiment, nicht Schuld noch Reue solchen Mut und Übermut des Wollens zwingen können.
5.
Es ist zweifellos ein vorgängiges Verdienst der mit Charles Darwin verbundenen Evolutionstheorien des 19.Jahrhunderts, dass die von Nietzsche zuerst aufgedeckten Aporien des anthropozentrischen Geschichtsdenkens im 20.Jahrhundert an Konzepten wie Herkunft, Linearität und Teleologie zu kritischer Sichtbarkeit gelangen konnten. Sie erscheinen von Verwerfungen zerfurcht, die nach 1900 alle Gebiete der Wissenschaften und Künste heimsuchten: Die „ethnologische“ Entdeckung des Archaischen hat als Schrecken und Versprechen die Antikenrezeption (z.B. bei Warburg und seiner Schule) grundlegend verändert, die Verbreitung von neureligiösen Konzepten einer innerweltlichen Erlösung durch „Magie“ oder „Charisma“ die Wertschätzung der Wissenschaften (z.B. bei George und seinem Kreis, oder im Weimarer Nietzsche-Archiv mit seiner ideologischen Nietzsche-Popularisierung). Die Gewaltsamkeit der Technisierung hat die Unfähigkeit des überlieferten Humanismus enthüllt, es mit den zivilisatorischen Empirizitäten der Lebenswelt aufzunehmen; und Sprachzerfall (z.B. im Fokus von Freuds Psychoanalyse), Sprachskepsis (z.B. bei Hofmannsthal) und Sprachkritik (z.B. bei Karl Kraus und Wittgenstein) haben die Konvention und Symbolik idealistischer Semantik untergraben.
Gründungsmythen (einer Spezies, eines Volks, einer Sprache, eines Codes, einer „Welt“) sind seit Nietzsche als „Fabeln“[30], d.h. als Erfindungen, Inventionen, Konventionen oder Konstruktionen von „Tradition“, lesbar geworden. Am Janus-Kopf des anthropozentrischen Geschichtsdenkens entdeckt Walter Benjamins Kritik der Moderne komplementär im Kontrast zwei Gesichtshälften: Ursprungsromantik und ihre Tradition stiftenden Gründungsmythen (einer Spezies, eines Volkes, einer Kultur, einer Sprache, eines Codes, einer „Welt“) einerseits, Fortschrittsteleologie und ihre monumentalen Projekte und Utopien andererseits. Vergangenes „Einst“ oder/und künftiges „Einst“ – jeweils geht es „im Dickicht des Einst“ um Inventionen, Konventionen, Konstruktionen von einem aktuellen Heute aus. Dass diese ihrerseits ein Konzept der Linearität und der „homogenen und leeren Zeit“[31] voraussetzen, das einem durch Mathematisierung und Alphabetisierung codierten Geschichtsdenken entspricht, darin sieht Benjamin die Chancen revolutionärer Unterbrechung und rettender Philologie-Kritik zugleich. Sie sind nicht ohne das Zitat und die de(kon)struktive Aktualisierung theologischer Semantik zu haben. Benjamins Destruktiver Charakter[32] hofft nicht mehr auf den Jüngsten Tag des Weltgerichts, nicht mehr auf den heiligst versprochenen Sankt-Nimmerleinstag; vielmehr ist jeder profane Tag des Lebens eben jener Jüngste Tag, kann er doch unbestritten als der jeweils im Jetzt jüngste Tag gelten, vorläufig jeweils in jedem Fall.
Doch sollte der Verfasser hier schlussendlich anfangen aufzuhören. Auf der letzten Seite der Stuttgarter Habilitationsschrift Surrealismus als Erkenntnis hat er – fast 30 Jahre sind seither vergangen - aus Walter Benjamins Schrift von 1938 Das Paris des Second Empire bei Baudelaire einen schönen Satz zitiert, den Benjamin auf die Pariser Straßen-Bilder in Charles Baudelaires Tableaux parisiens der Fleurs du Mal von 1861 gemünzt hatte. Es sei erlaubt, diesen Essay mit dem wiederholten Zitat eben jenes schönen Satzes von Walter Benjamin hier weniger zu beschließen als einfach aufzuhören: „Das, wovon man weiß, daß man es bald nicht mehr vor sich haben wird, das wird Bild.“[33]
Anmerkungen:
[1] Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in: ders., Wissenssoziologie. Soziologische Texte Bd. 28, Berlin und Neuwied, Luchterhand 1964, S.509-565.
[2] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Vorrede (1807), in: ders., Theorie Werkausgabe Bd. 3, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970, S.35 (Hervorhebungen im Text).
[3] Karl Heinz Bohrer, Der Abschied. Theorie der Trauer, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996.
[4] Bohrer, S.109 ff.
[5] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd.IV: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972, S.41.
[6] Gerhart Schröder, Die Kunst, anzufangen. Philosophie und Literatur in der Frühen Neuzeit, Fink, München 2013, S.13ff.
[7] Bohrer, S.386ff.
[8] Samuel Beckett, Worstward Ho, Calder, London 1983.
[9] Joseph Vogl, Über das Zaudern, diaphanes, Zürich und Berlin 2008, S.24.
[10] Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997.
[11] Martin Heidegger, Zur Seinsfrage (1955), in: ders., Wegmarken, 2.Aufl., Klostermann, Frankfurt am Main 1978, S.379-419, dort S.409.
[12] Peter Matussek, Endzeiten und Zeitenenden. Figuren der Finalität, in: Kan Omiya u.a. (Hg.), Figuren des Transgressiven: das Ende und der Gast, iudicium, München 2009, S.17-40.
[13] G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: ders., Theorie Werkausgabe Bd.13, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970, S.25.
[14] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960), Piper, München und Zürich 2002, S.8ff.
[15] Arendt, Vita activa, S.17-21.
[16] Arendt, Vita activa, S.18.
[17] Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche: der revolutionäre Bruch im Denken des 19.Jahrhunderts, Meiner, Hamburg 1995, S.8.
[18] Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd.2, Metzler, Stuttgart 1983, S.7-239, dort S.258f.
[19] Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 12.Aufl., Niemeyer, Tübingen 1972, S.231ff. („Zweiter Abschnitt: Dasein und Zeitlichkeit“).
[20] Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S.179f.
[21] Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, S.86.
[22] Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S.36.
[23] Friedrich Nietzsche, Ecce homo. Wie man wird, was man ist, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd.6, dtv / Walter de Gruyter, München, Berlin, New York 1980, S.374 (Hervorhebung im Text).
[24] F. Nietzsche, Morgenröthe, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd.3, S.53f. (Hervorhebungen im Text).
[25] Nietzsche, Ecce homo, S.335 (Hervorhebung im Text).
[26] Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894). Neu hg. mit Anmerkungen v. Thomas Pfeiffer, Insel, Frankfurt am Main / Leipzig 2000.
[27] F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd.4, S.276.
[28] Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S.14.
[29] F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Viertes Buch, 342. Stück), in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd.3, S.571.
[30] Vgl. besonders das Stück Wie die ‚wahre Welt’ endlich zur Fabel wurde (F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd.6, S.80f.).
[31] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S.701.
[32] Vgl. Gérard Raulet, Le caractère destructeur. Esthétique, théologie et politique chez Walter Benjamin, Aubier, Paris 1997.
[33] Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S.590. Vgl. Josef Fürnkäs, Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen, Metzler, Stuttgart 1988, S.287.