Anrufung der Muse als Medien-Experiment. Kurt Schwitters’ Merzgedicht 1 An Anna Blume
„Denn die Worte haben sich vor die Dinge gestellt.
Das Hörensagen hat die Welt verschluckt.“[1]
„Car j’ai de chaque chose extrait la quintessence,
Tu m’as donné ta boue et j’en ai fait de l’or.“[2]
1.
Kurt Schwitters (1887-1948) schreibt 1927 rückblickend in der Nummer 20 seiner Zeitschrift MERZ: „Ich begann in der Dichtung im Jahre 1917, mit einer Gestaltung, ähnlich der äußeren Form August Stramms. Bald gewann ich eine eigene Form, in meiner dadaistischen Zeit. Sie kennen ja alle mein Gedicht an Anna Blume.“ [3] Zwischen 1919 und 1922 hatte Kurt Schwitters drei Anthologien mit experimentellen literarischen Arbeiten publiziert, die den Namen Anna Blume je schon im Titel ausstellten und durch vielfache Anspielungen in den Texten ein dichtes Verweisungsnetz um diesen Namen knüpften:
Der Sohn Ernst Schwitters fasst Anna Blumes „fast hypnotische Wirkung“ um 1920 im zeitlichen Abstand als Herausgeber der gesammelten Anna Blume-Texte zusammen: „Die groteske Persiflage des pathetischen, typisch gutbürgerlichen Liebesgedichtes hatte eine fast hypnotische Wirkung und war bald in aller Munde, ob sie es nun wollten oder nicht. ‚Anna Blume’ war über Nacht ein ‚Schlager ohne Melodie’ geworden!“[5] Das Gedicht An Anna Blume existiert in mehreren Versionen. Kurt Schwitters war es weniger um eine „originale“ Textgestalt für Philologen als vielmehr um eine massenmediale bzw. „gesamtkunstwerkliche“ Wirkung von Gedicht und Kunstfigur in der Öffentlichkeit zu tun. Eine Version des Gedichts plakatierte er 1920 sogar an die Litfaßsäulen seiner Heimatstadt Hannover, um die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen und für seinen neuen Gedichtband zu werben. Reinhard Döhl ist den Spuren der Kunstfigur Anna Blume im avantgardistischen Kunstbetrieb der Nachkriegszeit zwischen Hannover und Berlin nachgegangen: Die Entstehungsgeschichte von Kurt Merz Schwitters’ „Muse des Experiments“[6] erscheint vertrackt und wenig geradlinig; ihr Name begleitet jedoch Schwitters ganzes künstlerisches und literarisches Schaffen, wenn nicht lebenslang, so doch jahrelang bis weit über die Mitte der 1920er Jahre hinaus.
Als „Merzgedicht 1“ zeigte sich Anna Blume 1919 in folgender Textgestalt, die auch in der Literaturwissenschaft gewöhnlich als gültige akzeptiert wird:
„An Anna Blume
O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe
dir! - Du deiner dich dir, ich dir, du mir. - Wir? Das gehört (beiläufig) nicht hierher. Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist - -
bist du? - Die Leute sagen, du wärest, - laß sie sagen, sie
wissen nicht, wie der Kirchturm steht. Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf die Hände, auf den Händen wanderst du. Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot
liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir! - Du deiner dich
dir, ich dir, du mir. - Wir? Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut. Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute? Preisfrage:
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg. Weißt du es Anna, weißt du es schon? Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du Herrlichste
von allen, du bist von hinten wie von vorne: "a - n - n - a". Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken. Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!“[7]
Wer spricht in diesem Gedicht? Spricht der Autor Kurt Schwitters selbst durch das Gedicht, oder ist das Gedicht autonom zu betrachten, etwa ganz losgelöst von dem bekannten Merzkünstler, der es produziert hat? Welchen Status haben die Personen, von denen in dem Gedicht die Rede ist, wer – oder was? – ist „Anna Blume“ und wer sind „die Leute“? Schon der Titel „An Anna Blume“ verrät, dass eine gewisse Dame namens Anna Blume angeredet wird. Aber kann man dem Titel und seinem Informationsgehalt trauen? Kann man Schwitters’ Gedicht aus „meiner dadaistischen Zeit“, was seinen Informationsgehalt anbelangt, trauen? Wird allein nur Anna Blume angesprochen? Kann nicht Anderes, können nicht Andere zugleich auch angesprochen sein? Können nicht etwa auch die Leser des Gedichts gemeint sein, indem die Anrufung eben einer gewissen Anna Blume zugleich dadurch die Leser selber – als beiwohnende Dritte - adressiert? Und bringt die Anrufung im Gedicht nicht erst in actu, nämlich gerade in ihrem textuellen Vollzug, die Angerufene (Anna Blume) oder die Adressierten hervor, zugleich mit der lyrischen Selbstkonstitution des Anrufenden durch sein Anrufen?
2.
Da die Annäherung an Schwitters’ „Merzgedicht 1“ nicht voraussetzungslos beginnen kann, sind im Anschluss an solche und andere Fragen einige grundsätzliche Schwierigkeiten vorab zu bedenken. Was ist ein Gedicht? Zunächst einmal werden Gedichte meistens - auch noch in der gegenwärtigen Lyrik-Forschung - als gesprochene Sprachgebilde wahrgenommen. Dies oft in einer Weise, als hätten wir es beim Lesen von Gedichten mit einem lebendigen Gegenüber zu tun, dessen Stimme wir nachlauschen und dessen Atem wir nachspüren. Demgegenüber darf nicht vergessen werden, dass dieses Rufen, Sprechen und Reden metonymisch immer auch die schriftlich niedergelegte, verbreitete und rezipierte Sprache bzw. Rede bedeuten. Auch Gedichte sind Literatur im engeren Sinne, die seit der Erfindung und Durchsetzung des Buchdrucks eben gedruckte Literatur meint. Gedichte sind buchstäblich Geschriebenes und Gedrucktes, das als solches schwarz auf weiß für die Augen, die da sehen und lesen können und wollen, dasteht, dabei aber den Ohren stumm bleibt. Gleichwohl begegnen wir hier einer besonderen Stummheit, die an Ton und Klang auf eine spezifische, stimmliche Weise erinnert. Spätestens seit der sprachgeschichtlichen Revolution, die das griechische Alphabet in der Antike bedeutete, sind Schriftzeichen auch Lautzeichen. Das Alphabet ist vornehmlich eine Stimmenschrift, die unwillkürlich erlaubt, beim Schreiben mit Vokalen und Konsonanten distinkte Lautqualitäten aufzuzeichnen. Und beim Lesen können diese distinkten Lautqualitäten wiederum in bestimmte, stimmliche Ereignisse übersetzt werden. Mit der Entfaltung der bürgerlichen Lesekultur im 18. und 19.Jahrhundert hat das stumme Lesen nach Maßgabe von Roman und Abhandlung den lauten Vortrag und das laute Lesen als Leitform der Rezeption von Literatur verdrängt. Dennoch bleibt unbenommen, dass wir selbst dann, wenn wir einen Text nicht laut vortragen (oder wie im Falle von Gedichten auch heute noch gelegentlich üblich: laut nachsprechen), sondern nur stumm für uns lesen, die Rückübersetzung von Schrift in Stimme nicht vollbringen können, ohne das Geschriebene und Gedruckte auch – innerlich zu hören. Gerade Gedichte, die als Texte zweifellos zur Literatur im engeren Sinne gehören, können die Spannung zwischen Buchstabe und Laut, Schrift und Stimme produktiv werden lassen, indem sie dieses unverzichtbare Hören des Geschriebenen und Gedruckten als Ritual und Spiel inszenieren. Hörbarkeit als Voraussetzung der Übersetzbarkeit von Schrift und Stimme offen halten, dies heißt zugleich, das innere Ohr als Organ der Literatur zwischen tradiertem Ritual und experimentellem Spiel warten bzw. trainieren. Und Schwitters’ Dichtkunst, der Vorgriff mag erlaubt sein, stellt auf diesem Problemfeld nachgerade einen Schulfall bereit.
Derartig reflektierte Zugänge zu Gedichten werden aber durch weitere fundamentale Schwierigkeiten verstellt, die im Zusammenhang mit der üblichen Praxis der Gedichtinterpretation stehen. Gedichtinterpretationen werden noch vielfach von einem begrifflichen Instrumentarium dominiert, das im deutschen Sprachraum die Germanistik an der Lyrik Goethes und der Romantik gewonnen hat. Aufgabe und Herkunft des Gedichts, mithin seine lyrischen Redeweisen, werden seit dem 18.Jahrhundert gerne in Opposition zur „Prosa der Verhältnisse“ einer rational eingerichteten Welt aus der „Poesie des Herzens“(Hegel), d.h. aus irrationalen Seelenzuständen des Dichters, erklärt. Gerade Liebesgedichte bilden dabei diejenige Untergattung der Lyrik, auf welche die Kategorien der Subjektivität, der Stimmung und des Erlebnisses in besonderem Maße zutreffen sollen. Liebeslyrik als Gefühlspoesie und Ich-Aussage prägt seit der Goethezeit und der Romantik das vorherrschende Lyrikverständnis, das auch populäre Texte der heutigen Popmusik auf mehr oder weniger trivialem Niveau bedienen. An Gedichten, die uns aus Antike und Mittelalter, aus Renaissance, Barock und Rokoko, also aus Zeiten vor Klopstock und dem Sturm und Drang, überliefert sind einerseits, an Gedichten, die nach der klassisch-romantischen Kunstperiode (und ihrem trivialen Epigonentum) entstanden sind andererseits, können problematische Begriffe wie individuelles Erlebnis, subjektives Gefühl oder lyrisches Ich jedoch ihre Unangemessenheit kaum verbergen.[8] Bezogen auf Schwitters’ Dichtkunst greifen sie unübersehbar ins Leere.
Bekannt ist, dass die Lyrik der Moderne in der Überbietung von Klassik und Romantik gelegentlich als hermetische Dichtung der Einsamkeit verstanden worden ist. Gottfried Benn hat in seiner berühmten Rede über Probleme der Lyrik (1951) unter Berufung auf Nietzsches „posthumes“ Denken und Schreiben vom „monologischen Charakter“[9] der Dichtung gesprochen: Sie schiele nicht auf Gegenwart, Publikum, Vortrag, Verbreitung und Wirkung, sondern nehme den anachoretischen Dienst an der Schrift auf sich. Paul Celan modifiziert in seiner Büchner-Preis-Rede Der Meridian (1960) immerhin dieses strikte Einsamkeitsgebot des Gedichts, indem er seine Poetik neu auf „Gespräch“ hin orientiert: „Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.“[10] Im Anschluss an Formalismus, Linguistik und Strukturalismus ist die neuere Literaturwissenschaft mittlerweile nolens volens manchen, der industriellen Massenkultur und den neuen Medien des 20.Jahrhunderts näheren, Bestimmungen der modernen Lyrik gefolgt. So wird nun auch den Abweichungen der lyrischen Sprache von der Normalsprache besondere Beachtung geschenkt. Wo Erlebnis, Gefühl und Stimmung als Erklärungsgründe nicht hinreichen, soll die nüchterne Beschreibung der Form der lyrischen Kommunikation, welche die Bestimmung der sichtbaren und hörbaren Form des Gedichts zur Grundlage hat, methodisch gesichert weiterhelfen. Dabei kann die avantgardistische Provokation, die z.B. der literarische Expressionismus und Dadaismus, die „Wortkunst“ des „Sturm“-Kreises und Formen konkreter Poesie, für die Gedichtinterpretation darstellen, nunmehr auch ernst genommen werden: Parallel zur modernen Malerei und Musik, die sich vom Zwang zur gegenständlichen Darstellung (z.B. Kandinsky) und zur überkommenen Harmonie (z.B. Schönberg) befreit haben, wird auch dem lyrischen Sprechen im Gedicht eine vergleichbare Loslösung von konventioneller Semantik und sprachlich-poetischer Wohlgeformtheit (Phonologie, Syntax, Metaphorik) zugestanden. „Abstraktion“[11] gehört als stilbildendes Prinzip zur Lyrik wie zu allen Künsten des 20.Jahrhunderts.
Bekannt ist, dass Kurt Schwitters ab 1918 Kontakte zum Berliner Kreis um Herwarth Walden, Lothar Schreyer und Rudolf Blümner hatte, nachdem er schon in die posthume Schreibschule von August Stramm (1874 -1915) gegangen war. Trieb ist ein Wortkunst-Gedicht von Stramm betitelt, das einen Geschlechtsakt in 15 Versen konzentiert und konkretisiert. Mit sparsamster Interpunktion (dreimal ein Ausrufezeichen, jeweils nach „Du!“) werden substantivierte Verben ohne jedes subjektive oder objektive Komplement aneinandergefügt. Ihre rhythmische Sprachbewegung findet nur an der Ich-Du-Relation – „Du!“, dann „Ich und Du!“ – syntagmatischen Halt, um schließlich in drei Einwort-Zeilen – „Ich / Dich / Du!“ zum Abschluss zu kommen. Stramms Gedicht lautet:
„Trieb
Schrecken Sträuben
Wehren Ringen
Ächzen Schluchzen
Stürzen
Du!
Grellen Gehren
Winden Klammern
Hitzen Schwächen
Ich und Du!
Lösen Gleiten
Stöhnen Wellen
Schwinden Finden
Ich
Dich
Du!“[12]
Bei aller anfänglichen Anlehnung an August Stramms Gedichte, bei aller Nähe zur avantgardistischen Wortkunst der Zeit, darf eines vor allem nicht vergessen werden: Kurt Schwitters war nicht nur Dichter, sondern auch Maler und Bildhauer, Mal-Musiker und Wort-Maler, Rezitator und Sprech-Dichter. Im industriellen Zeitalter von Massenkultur und Massenmedien war er dabei stets publikumswirksam bemüht, die Grenzen zwischen den Gattungen und Kunstübungen performativ aufzuheben. Um 1920 leitete auf dem Wege der schon 1871 von Rimbaud geforderten Zuchtlosigkeit aller Sinne („le dérèglement de tous les sens“)[13] die propagierte Befreiung der Sinnlichkeit vom Diktat des Sinns seine künstlerischen MERZ-Performanzen in einer chaotisch gewordenen Welt. Sie führten zu vielfältigen Produkten zwischen Kunst und Kommerz, Sinn und Unsinn, zu Varieté-Aufführungen von konstruktivem Klamauk und musizierter Dekonstruktion, zu rhythmisierten Fragmenten, zu Collagen und Montagen in bildender Kunst, Musik und Literatur. Reinhart Meyer-Kalkus, der die neuen „Sprechkünste im 20.Jahrhundert“ untersucht hat, sieht die besondere Leistung Schwitters’ darin, dass er „die Lautdichtung vom Ernst ihres radikalästhetischen Anspruchs“ befreit und sie konstruktiv „wieder der gesprochenen Sprache und den vielfältigen Formen parasprachlichen Nonsens“ annähert, „die auch im alltäglichen Sprechen zu finden sind.“[14] Als Gegenprojekt zu den destruktiven Formen des Dadaismus kann MERZ als eher konstruktive Technik verstanden werden, die experimentell mit den Medien der Zeit verfährt. Kaum zu verkennen, so scheint es, ist hier die Parallele zu den durch DADA hindurchgegangenen frühen französischen Surrealisten der 1920er Jahre. Aragon, Breton, Desnos, Soupault und andere fanden in ihrer Heimatstadt Paris zu einer imaginativen wie konstruktiven Ethnologie des Fremden, welche ihre magischen Gegenstände („les objets trouvés) besonders in der Populärkultur der großstädtischen Massen und ihrer Medien aufsuchte. In Anlehnung an den internationalen Kubismus und Konstruktivismus geht es Schwitters seinerseits darum, aus Zeitungsausschnitten, Werbe-Kampagnen, Reklame-Überresten, Propaganda-Materialien und all dem sonstigen Abfall, den die Städte der Industriegesellschaft massenhaft produzieren, neue Kunstgebilde zu formen: Abfall-Collagen bzw. –Montagen.
Wie bei Künstlern der Avantgarde durchaus üblich verfasste auch Schwitters detaillierte Programmschriften, die in seinem relativ isolierten MERZ-Fall durchaus Werbe-, Reklame- und Propaganda-Zwecke in eigener Kunstsache verfolgten. Die erste trägt eben den Titel „MERZ“, ist Ende 1920 geschrieben worden und 1921 in einer Münchener Kunstzeitschrift der Avantgarde erschienen („Der Ararat“). Ernst Schwitters, der Sohn und Herausgeber, empfiehlt gerade „MERZ“ als „Gebrauchsanweisung“ für das künstlerische Schaffen des Vaters. Dieser bezeichnet dort das „Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit“, als „Ziel“ seiner Bemühungen. Mehr noch aber lenkt Kurt Schwitters den interessierten Blick freimütig in die eigene Kunstwerkstatt: „Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollten. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht.“[15] Schwitters hat das Wortbruchstück MERZ, entliehen dem Firmennamen COMMERZBANK, auf dem avantgardistischen Kunstmarkt nach dem Ersten Weltkrieg zum ironischen Markenzeichen stilisiert, um die eigenen Produkte des künstlerischen „Formens“ marktgängig und verkehrstüchtig zu machen. Man darf hier daran erinnern, dass der Erste Weltkrieg zugleich (und erstmalig in der Geschichte!) auch Propaganda-Krieg war: Das Chaos des technischen Krieges wurde zur Geburtsstunde von Propaganda, Public Relations und Marketing, die halfen, die neuen Massenmedien in den Dienst mächtiger Meinungsmacher und kapitalkräftiger Wirtschaftskonzerne zu nehmen.[16] MERZ wird seinerseits zum Kürzel eines medienavantgardistischen Unternehmens, mit der unverhohlenen Absicht, „Kurt Merz Schwitters“ auf dem neuen multimedialen Markt zu platzieren. Das „Formen“ des umgebenden Chaos wird in der Programmschrift „MERZ“ vor jeder besonderen inhaltlichen oder materialen Bestimmung zum Zentrum in Kunst- und Lebensfragen erklärt: „Das Material ist so unwesentlich wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen. Weil das Material unwesentlich ist, nehme ich jedes beliebige Material(...)“[17].
Wie im Medium der Dichtkunst dieses „Formen“ des Chaos in der Auseinandersetzung mit dem besonderen Material vor sich geht, erläutert Schwitters durch eine Beschreibung des eigenen experimentellen Verfahrens. Selbstredend kann er dabei nicht ohne Selbstironie auskommen: „Elemente der Dichtkunst sind Buchstaben, Silben, Worte, Sätze. Durch Werten der Elemente gegeneinander entsteht die Poesie. Der Sinn ist nur wesentlich, wenn er als Faktor gewertet wird. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich Unsinn.“[18] Aus der Erfahrung einer im Ersten Weltkrieg aus den Fugen geratenen Welt, welche die Beliebigkeit des Materials und die heterogene Opakheit der besonderen Elemente je bestätigen, gewinnt das „Formen“ und „Werten“ als Performanz seine neue Lizenz. Zwischen Sinn und Unsinn, mit deutlichen Vorteilen für den Unsinn, bestimmen „Formen“ und „Werten“ Schwitters’ avantgardistische Medien-Experimente. Ein Rückzug in subjektiven Ausdruck und symptomatischen Expressionismus kommt für Schwitters als Reaktion auf die Krise der Repräsentation und der konventionellen Symbolik von Sprache und Poesie nicht in Betracht. Wo Semantik und Symbolismus, die den Referenzrahmen sowie den Final- und Kausalnexus einer Welt stabil halten sollten, nach der gesamteuropäischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs ihre Brüchigkeit kaum mehr verbergen können, setzt er auf die Flucht nach vorn und auf ein spielerisches Immer-Wieder-Neu-Anfangen-Können, das die Performanz künstlerischer Komposition durch „Formen“ und „Werten“ ermöglicht. Was in der MERZ-Kunst Collage und Montage bewerkstelligen, nämlich die Komposition der verwendeten Materialien bzw. der Fundstücke und Bruchstücke aus einer chaotischen Welt ohne erkennbaren Sinn, das leistet in Schwitters’ Texten jenes „Werten der Elemente gegeneinander“, das Kontingenz und Nachbarschaft von „Sinn gegen Unsinn“ gegeneinander ausspielt. Hier wie dort wird Abfall unter der Hand in Kunst bzw. Literatur „verwandelt“, oder weniger mythologisch belastet gesagt: eben „vermerzt“, was auch mit „dekonstruktiv umgebaut“ übersetzen werden könnte.
3.
Schwitters’ einstrophiges „Merzgedicht 1“, dessen Titel „An Anna Blume“ zunächst ein Widmungsgedicht erwarten lässt, setzt unmittelbar mit Vers 1 als Anrufung der Geliebten im hohen Ton einer petrarkistisch erhaben gestimmten Liebeslyrik ein. Diese Anrufung wird sofort durch krude Übertreibung ad absurdum geführt: „O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne“. Der pathetisch einsetzende, dann sogleich hyperbolisch gewendete Auftakt hypostasiert durch die deutlich zu hoch gegriffene Zahl –„siebenundzwanzig“ – der „zuchtlosen“ Sinne schon eine befreite Sinnlichkeit, die in ironischer Absicht jeden petrarkistischen oder romantischen Liebesidealismus weit hinter sich lässt. In harter Fügung stürzt diese zu hoch gegriffene und überdrehte Anrufung in die Liebeserklärung im berlinerischen Dialekt ab, die Dativ und Akkusativ als grammatische Zuordnungen nicht differenzieren kann: „ich liebe / dir! -“. Nicht trotz, sondern umgekehrt gerade wegen der schiefen Grammatik wird diese populäre Liebeserklärung dann dreimal an signifikanten Stellen wiederholt werden, um mit ihrer letzten Wiederholung, ganz am Ende des Gedichts, sogar das letzte Wort zu haben. Die Verwirrung der Stilebenen geht von Vers 1 zu Vers 2 bereits mit der Verwirrung der grammatischen Zuordnungen einher, welche die Pronomina ich und du betreffen. Ihre mögliche Beziehung zueinander wird sprachspielerisch in einem Stakkato-Rhythmus durchdekliniert: „ Du deiner dich dir, ich dir, du mir. –“, worauf der Umschlag in die elliptische Frage „Wir?“ folgt (am Ende von Vers 2). Vers 3 präsentiert sich nach Art einer Apostrophe: Das sprechende „ich“ wendet sich von der Anrufung Anna Blumes ab, um reflektierend sich einem Dritten, d.h. hier dem Publikum bzw. dem Leser, zuzuwenden: „Das gehört (beiläufig) nicht hierher.“ Durch diese Apostrophe scheint Vers 3 die aufregende wie aufgeregte Verwirrung um die schiefen grammatischen und personalen Verhältnisse beschwichtigen zu wollen. Diese sollen, nicht ohne “(beiläufig)“ die Zustimmung des Lesers zu erheischen, bei der angefangenen Anrufung der Geliebten schlicht und einfach übergangen werden. Dass diese Irrungen und Wirrungen aber nicht durch bloß reflexive Wertung und bloß suggerierte Zustimmung im Publikum zu bewältigen sind, sondern in ihrer Wirkung gerade dadurch noch verstärkt werden, erschließt den parodistischen Sinn solcher Wertung. Gerade das schiefe Deklinations-Sprachspiel im Stakkato-Rhythmus („Du deiner dich dir, ich dir, du mir.- Wir?“), das nach Art eines Refrains mehrfach im Gedicht wiederkehrt, trägt zu dessen unverkennbarem Reiz als “Schlager ohne Melodie“ bei. „Unsinn“ erweist sich nicht nur gegenüber „Sinn“ als resistent - ersterer zwingt letzteren unablässig, seinem Rhythmus zu folgen.
Verständlich, dass die ins Stocken geratene Anrufung der Geliebten nun in Vers 4 die Form der Frage nach ihrer ganzen Person annimmt: „Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer?“ Auf diese erste rhetorische Wesensfrage gibt es keine rationale oder sonst stimmige Antwort, wie schon das schmückende Epitheton in der Qualifizierung als „ungezähltes Frauenzimmer“ ironisch verrät. Nicht nur bleibt jenes angesprochene „Du“ stumm und sprachlos, jenes „Du“ bleibt dem anrufenden „ich“, auch abgesehen davon, dass nichts und nirgends geantwortet wird, von Anfang an unfassbar: „Du bist -- / bist du? -“ (Vers 4 / 5) Wo gar die bloße Existenz der Geliebten im ungewissen Dual von Du und Ich in Frage steht, mag es ratsam erscheinen, nochmals Dritte als Zeugen zu bemühen. Diesmal jedoch nicht das Publikum bzw. den Leser als intendiertes Gegenüber, vielmehr „die Leute“, die nur narrativ bzw. deskriptiv in der 3.Person Plural herbeizitiert werden: „Die Leute sagen, du wärest, -“ (Vers 5). Damit wird zugleich schon deutlich gemacht, dass das, was die Leute auch sagen könnten (Konjunktiv II), von keiner Bedeutung und keinem Belang für den eigenen ungewissen Dual der Liebenden ist: „laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.“ (Vers 5 / 6) Aus Verwirrung und Verunsicherung bringt die Anrufung der stummen Geliebten in Vers 7 / 8 endlich ganz unilateral eine diese auszeichnende Charakterisierung hervor: „Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf / die Hände, auf den Händen wanderst du.“ Dieser Aufschwung der Charakterisierung im traditionellen Sinne des Bildschmucks der Geliebten wird durch eine erneute grammatische Fall-Verwirrung („auf / die Hände, auf den Händen“) bereits konterkariert, um vollends parodistisch auszuschlagen, wenn durch falsche Grammatik und umgangssprachliche Wendungen hindurch die Verwendung von Verssprache der biblischen Psalmen und des „Hohen Liedes“ (rhythmische Zweiteilung des Verses, Parallelismus oder Antithese des Gedankens bei gleichlaufender Syntax) in dem gezeichneten profanen Bewegungsbild der Geliebten durchscheint.
Obzwar Schwitters keine Gliederung in Strophen oder Abteilungen sichtbar vorgegeben hat, kann man nach der obigen Analyse der ersten acht Verse diese zusammen durchaus als den ersten Teil des „Merzgedichts 1“ verstehen. Blickt man von hier aus weiter auf das Ganze des Gedichts mit seinen 29 Zeilen bzw. Versen (30, nimmt man die Überschrift „An Anna Blume“ hinzu), so kommt man nicht umhin, Schwitters’ Konstruktion des Gedichts als musikalisch komponierte und zugleich ganz rational komputierte Ordnung des Heterogenen wahrzunehmen. Wir können drei Teile und einen kurzen Schlussteil, der nur aus zwei Versen besteht, unterscheiden: Teil 1 umfasst die Verse 1-8, Teil 2 als längerer Mittelteil mit dem Einschub der berühmten „Preisfrage“ die Verse 9- 19, Teil 3 die Verse 20-27, schließlich folgen die Schlußverse 28 und 29. Die drei Teile beginnen jeweils mit der Anrufung der Geliebten, die sich jeweils sprachspielerisch in grammatischen, semantischen und personalen Verwirrungen verheddert. Im Anschluss an die wiederholte dialektale Liebeserklärung mit schiefer Grammatik („ich liebe dir“) folgt jeweils als wiederkehrender Refrain das Deklinations-Sprachspiel im Stakkato-Rhythmus: „Du deiner dich dir, ich dir, du mir. – Wir?“ (Verse 2, 10 / 11 und 21). Auf die jeweils mit bestimmten Variationen dann ihrerseits wiederkehrende reflexive Invektive, die sich als Apostrophe kurz ans Publikum bzw. an den Leser wendet: „Das gehört (beiläufig) nicht hierher“ (Vers 3 ) bzw. „(...) in die kalte Glut“ (Vers 12) bzw. „(...) in die Glutenkiste“ (Vers 22), folgen in allen drei Teilen jeweils bestimmte Fragen, welche die unfassbare Geliebte umkreisen, aber allesamt ohne Antwort bleiben. Schließlich werden in allen drei Teilen jeweils auszeichnende Charakteristika der Geliebten ausgesprochen, welche die abwesende und unfassbare „Anna Blume“ vielmehr deskriptiv und äußerlich besprechen als sie selber ansprechen. Die semantischen Kreise dieser Qualitäts-Zusprechungen reichen von der besonderen Bewegungsart der Geliebten (Verse 7, 8) über die zu ihr gehörigen, doch an und für sich unvereinbaren Farben (besonders Verse 18, 19) bis zu den besonderen Eigentümlichkeiten ihres Namens bzw. Vornamens „a – n- n- a“ (besonders Verse 26, 27). Die beiden Schlußverse (28 und 29) weisen auf den mit Pathos und Hyperbel schon dissonant eingefallenen Auftakt zurück. Die schiefe Anrufung der stummen und abwesenden Geliebten wird mit einer enthemmten, tierische Sinnlichkeit behauptenden Liebeserklärung nochmals überboten und zu Ende gebracht. Der krude Berliner Dialekt hat das letzte Wort. Zum wiederholten, hier letzten Mal taugt falsche Grammatik bei falscher Semantik wieder dazu, die personalen Verwirrungen (Geliebte als Mensch / als Tier) zu skandieren: „Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken. / Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!“
Wie weit kommt man, wenn man die Analyse von Schwitters’ „Merzgedicht 1“ auf seine Bildlichkeit und Metaphorik., mithin auf die semantischen Felder ausrichtet, wie sie vor allem in den wiederholten deskriptiven Charakterisierungsversuchen der doch von Anfang an unfassbaren Geliebten evoziert werden? Also den Fokus der Aufmerksamkeit von der Invokation (lat. invocare = hineinrufen in die innere Aufmerksamkeit) auf die Evokation (hinausrufen in die äußere Aufmerksamkeit, wobei das Beschworene gleichsam vor aller Augen gerufen wird) im Gedicht verschiebt? Wer – oder was? - ist Anna Blume? Ihre qualitativen Besonderheiten werden, wie die strikte Dreiteilung des Gedichtes es verlangt, in drei Einkreisungen aufgerufen. Da ist zunächst jenes Bewegungsbild (in Vers 7 und 8), das die Geliebte in einer phantastischen Welt ortet, wo vieles, wenn nicht alles, und auch das Gegenteil davon, möglich scheint. Die zweite Einkreisung imaginiert Anna Blume in einer experimentellen Kunstwelt der Farben, die in der Welt der „Leute“ keinen Raum hat und mit ihren auf Eindeutigkeit geeichten Klassifikationen und Begriffen nicht zu erfassen ist: „Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir!“ (Verse 9 und 10) Komplementärfarben kommen sich näher (Gelb-Blau, Rot-Grün), assoziieren synästhetische Farbklänge („Rot ist das Girren deines grünen Vogels.“ = Vers 19), spielen mit symbolischen Verwandtschaften und metonymischen Nachbarschaften, mit Substitutionen und Kontingenzen, Kontrasten und Vereinigungen. Die Frage „Wie sagen die Leute?“ leitet nicht zufällig über zur „Preisfrage“ (Verse 14-17) nach der Farbe von Anna Blumes Vogel. Die große „Preisfrage“ zerklüftet schon auf den ersten Blick unübersehbar den Mittelteil von Schwitters’ „Merzgedicht 1“. Die besondere typographische Anordnung signalisiert, dass hier ein medialer Einbruch der Massenkultur in das Medium des Gedichts inszeniert ist. Das Medien-Experiment der „Preisfrage“ ist auffälliges Vehikel, um allen Spott auf syllogistisches und formallogisches Denken in einer chaotischen und sinnentleerten Welt zu lenken. Eine dritte Einkreisung fokussiert schließlich weniger die Geliebte selbst als vielmehr ihren Namen, vor allem die Buchstaben ihres Vornamens: „Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du Herrlichste / von allen, du bist von hinten wie von vorne: ‚a – n – n – a’.“ (Verse 26 und 27) Hält man sich also an die deskriptiven Charakterisierungen Anna Blumes, so kann man einen – zugegeben ziemlich abstrakten – Richtungssinn im Durchgang durch die evozierten semantischen Felder bemerken, der vom Bild über die Farbe zum Wort bzw. zum Namen der Geliebten führt – oder vielmehr zirkulär zurückführt, da dieser Name ja bereits ganz am Anfang im Titel des Gedichts ausgesprochen, genauer genommen, angesprochen wird: „An Anna Blume“.
„Blume“ ist im Kontext der Liebeslyrik zweifellos ein sprechender Ausdruck. Das metaphorische Paradigma, das die geliebte Frau als Blume imaginiert bzw. mit einer Blume vergleicht, gehört zur Liebesdichtung seit ihren frühen Anfängen, die man in Sumer, in der Bibel, im Kamasutra und vor allem in der Antike bei Sappho und später Ovid verorten kann. In der Troubadour-Dichtung, im mittelalterlichen Minnesang, in Volksliedern und vor allem im Petrarkismus bis zum Barock und ins 18.Jahrhundert hinein fand sich dieses Paradigma im topischen Bestand einer Rollenlyrik wieder, die erst die verschärften Realismuspostulate von Subjektivismus und Erlebnis im Verein mit dem neuen und intimen Volksliedton der deutschen Romantik zu weitgehendem Schweigen bringen sollten. In Schwitters’ „Merzgedicht 1“ kontrastiert der im Namen „Blume“ angespielte Anklang an die altehrwürdige Tradition der hohen Liebesdichtung jener neuen, so sinnlichen Buchstabierkunst, die am phonetischen Material des Vornamens „a – n – n – a“ durchgespielt wird. Der moderne, bürgerlich zweiteilige Name der Geliebten - „Anna Blume“ - wird so als Kürzel (schon im Titel!) entzifferbar, das die Heterogenität der Stilebenen zusammen mit den semantischen und personalen Verwirrungen in der prägnanten Fügung einer ironischen Miniatur zu Sichtbarkeit und Hörbarkeit bringt.
Auf der Ebene von Bildlichkeit, Metaphorik und Semantik, das hat die Analyse bislang gezeigt, ist der möglichen konstruktiven Einheit von Schwitters’ „Merzgedicht 1“ nicht beizukommen. Genau die „Verwechslung des Motivs mit der Gestaltung“ hat Schwitters seinen Kritikern exemplarisch in der Rede am Grabe Leo Reins vorgeworfen, die zuerst in der Berliner Börsenzeitung 547 vom 27.11.1921, dann in „Tran 21“ erschienen ist: „Kunst ist niemals Unsinn. Kunst ist Logik. Jawohl, da staunen Sie! Sie aber verwechseln die Begriffe und begreifen Ihre Verwechslung nicht.“[19] Die „Logik“ der Kunst, auf die Schwitters allein Wert legt, ist als konstruktive Einheit des Gedichts weder vom evozierten Inhalt her noch allein von der Form her zu fassen. Im Einklang mit Schwitters’ Diktum behaupten wir, dass sie im „Merzgedicht 1“ nur in der lyrischen Redeweise zu suchen und zu finden ist. Wer diese besondere Redeweise in ihrer ganzen Kunst-Logik erfassen will, sollte sich deshalb der kommunikativen Pragmatik zuwenden und seine Aufmerksamkeit in der Zerstreuung auf bestimmte Rollen-Intentionalitäten von Sprechhandlungen lenken, die im Gedicht nur je bestimmte Als-ob-Handlungen sein können. Gedichte werden so in ihrer konstruktiven Einheit und Kunst-Logik von ihrem Zweck her als Sprechmasken lesbar, d.h. sichtbar und hörbar, damit auch beschreibbar: Als lyrische Konter-Reden bieten sie gleichsam magische Worte zu überlieferten kommunikativen Ritualen und experimentellen Rollenspielen an. Die Analyse der Mittel hat sich dabei an den Vorgaben der jeweiligen Zwecke zu orientieren, d.h. an der besonderen lyrischen Sprechhandlung, wie sie die besondere Sprechmaske anzeigt.
Wir haben schon gesehen, dass Schwitters’ Gedicht mit einer Anrufung beginnt, dass diese Anrufung zu Beginn von Teil 2 und Teil 3, in jeweils variierter Form, wiederholt wird. Wie z.B. Bitten, Beten, Danken, Preisen, Klagen, Fragen auch kann die Anrufung unschwer als lyrische Sprechhandlung erfasst werden, auch wenn sie in pragmatischer Hinsicht „nur“ eine Als-ob-Handlung darstellt. Seit der antiken Literatur der Griechen und Römer, seit weit mehr als 2000 Jahren, ist die Anrufung als ein fundamentaler literarischer Topos, als „invocatio“, bekannt. In der klassischen Rhetorik (z.B. bei Quintillian) wird die „invocatio“ von der Apostrophe unterschieden, die aus der antiken Gerichtsrede kommend in einem die Abwendung des Sprechers vom eigentlichen Ansprechpartner und die Hinwendung an eine andere (imaginäre) Person oder eine personifizierte Sache meint.[20] Die „invocatio“ meint iherseits allgemeiner die magische Technik, die einem Sprecher erlaubt, ein höheres Geistwesen anzurufen, das „in“ ihm selbst bzw. in seiner nächsten Nähe die Gestalt eines Gottes, eines Geistes, einer Muse annehmen kann. Besonders prominent ist die „invocatio“ in der europäischen Literatur als Musenanruf des Dichters geworden, der wie einst Homer und Vergil zu Beginn des Werks mit einer Bescheidenheitsgeste Inspiration und Hilfe von höherer Macht erbittet.[21] In der Liebeslyrik hat sich die „invocatio“ zunehmend zur Anrufung der Geliebten, der abwesenden Angebeteten, säkularisiert, indem besonders seit Petrarca (1304-1374) und dem Petrarkismus Göttlichkeit auch als Attribut der Geliebten reklamiert wird. Die Anrufung der abwesenden Geliebten ist zu einem zentralen, wo nicht dem zentralen, Topos der Liebesdichtung geworden, die als Konter-Rede eigene Zwecke setzt und dazu eigene Mittel einsetzt. Die alltägliche Anrede ist auf die Präsenz der realen Person angewiesen, will sich sein Sprecher nicht als Autist oder Wahnsinniger aus der normalen Kommunikation ausgrenzen lassen. Als imaginative Sprechhandlung im Gedicht vermag die Anrufung aber die Person, die sie anruft, selber hervorzubringen, d.h. die abwesende Person zu präsentieren. Diese magische Kraft zur intimen Vergegenwärtigung und Präsentierung macht die Anrufung als formalen bzw. leeren Strukturmythos in pragmatischer Absicht für ein lyrisches Sprechen auch unter modernen Verhältnissen noch interessant, wenn nicht mehr an die mögliche Existenz von Göttern oder Engeln, Musen oder Geistwesen geglaubt wird. Es überrascht deshalb nicht, dass Heinz Schlaffers scharfsichtige Befragung von „Zweck und Mittel der Lyrik“ bei der Als-ob-Sprechhandlung der Anrufung einsetzt: „Die Anrufung ist im Gedicht kein einzelnes Element neben anderen. Sie durchdringt das Gedicht, prägt seine Gestalt, gibt ihm Einheit.“[22]
Unsere Analyse und Deutung konvergieren in der These, dass es in erster Linie die Anrufung ist, welche die konstruktive Einheit von Schwitters „Merzgedicht 1“ stiftet. Freilich kann es sich nur mehr um eine Anrufung im ironischen Zitat des formalen Strukturmythos handeln, da Schwitters zwar auf die magische Kraft der lyrischen Anrufung setzt, nicht aber mehr die Möglichkeit einer anachronistischen Existenz von Geistwesen und Musen in Anspruch nehmen kann. Verfolgen wir abschließend den lyrischen Vollzug der Anrufung in Schwitters’ „Merzgedicht 1“ selber, um seinen konstitutiven Beitrag zur konstruktiven Einheit des Gedichts einsichtiger zu machen. Die Anrufung taucht ganz am Anfang nicht erst in Vers 1 („O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne“) in der oben beschriebenen Weise auf, vielmehr bereits im Titel „An Anna Blume“, der eben keine Widmung, sondern bereits die Anrufung signalisiert. Wie schon gesagt, alle drei Teile des Gedichts beginnen mit einem expliziten Anruf an Anna Blume. Pathos und Emphase der „invocatio“, mit denen Vers 1 einsetzt, sind in Vers 9 („Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt.“) zu Beginn des zweiten Teils durch die einfache und neutrale Anrede „Hallo“ ersetzt. Sie mag auf die Massenmediennähe und Volkstümlichkeit der „Leute“ anspielen, doch werden deren Farbsymbolik, Semantik und Logik („wie sagen die Leute?“, Vers 13) aber im Handumdrehen wieder durch eine experimentelle Kunstwelt der Farben ad absurdum geführt. „Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes / Tier, ich liebe dir!“ (Vers 20 und 21) - die Anrede, die den dritten Teil eröffnet, scheint endlich eine glücklichere Hinwendung zur Geliebten auszusprechen. Nähe und Präsenz werden nun auf der Ebene einer schlichten, dabei enthemmten sinnlichen Gemeinsamkeit gesucht, um den Preis jedoch neuerlicher Verwirrungen der Begriffe von Tier und Mensch eben in einer chaotischen Welt.
Vergleicht man die drei Anrufe zu Beginn der drei Teile in ihrer für das ganze Gedicht konstitutiven Aufeinanderfolge, so kommt man nicht umhin, zwei gegenläufige Bewegungen festzustellen, auf die im kleineren Maßstab auch unsere Detailanalysen schon gestoßen sind. Während Emphase und Stil-Niveau der Anrufung von Teil zu Teil abnehmen, scheinen schlichte Nähe und sinnliche Intensität bis hin zum Tierischen umgekehrt jeweils zuzunehmen. Hohes und Niedriges kreuzen sich in gegenläufigen Bewegungen, Hohes wird erniedrigt, Niedriges erhöht. Die zuerst mit „O du, Geliebte“ angerufene Anna Blume wird über die mit „Du schlichtes Mädchen“ angesprochene Anna Blume im Schlussvers schließlich zu „Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!“. Erst als „tropfes Tier“ (im Doppelsinn, der sich einer sprachlichen Verschleifung verdankt: einmal „tropfend“, bezogen auf Tier und Farbe, dann aber auch „tropfig“, bezogen auf den „Tropf“, der arm und dumm ist) scheint sie für die erhobene Stelle und Funktion zu taugen, die Schwitters’ huldigendes Liebesgedicht als ironisches Medien-Experiment für Anna Blume auserkoren hat. Sie wird zwar als Muse im Zitat angerufen, doch als MERZ-Muse durch An(n)a-Morphosen hindurch zum „schlichten Mädchen“ und weiter zum „tropfen Tier“ herabgestimmt, d.h. eben selber „vermerzt“: Anna Blume, Schwitters’ Muse der konstruktiven Abfall-Kunst, die noch aus Abfall moderne Literatur und Kunst zu machen versteht.
Anmerkungen:
[1] Hugo von Hofmannsthal, Eine Monographie (1893), in: Reden und Aufsätze I, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt am Main 1979, S.479.
[2] Charles Baudelaire, Les Fleurs du mal. Projet d’un épiloque pour l’édition de 1861, in: Œuvres complètes I, hg. v. Claude Pichois, Paris 1975, S.192.
[3] MERZ 20 Katalog, zit. nach: Kurt Schwitters, Anna Blume und ich. Die gesammelten Anna Blume-Texte. Hg. v. Ernst Schwitters, Arche, Zürich 1965 (auch: Frankfurt am Main 1987), S.42.
[4] Vgl. Kurt Schwitters, Anna Blume und ich. Die gesammelten Anna Blume-Texte, S.41ff.
[5] Ernst Schwitters, ebd., S.42.- Vgl. auch: Hans Jürgen Hereth, Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Kurt Schwitters. Dargestellt anhand seines Gedichts „An Anna Blume“, Frankfurt am Main 1996.
[6] Vgl. Reinhard Döhl, Kurt Schwitters: An Anna Blume. Ein Exkurs, in: Die deutsche Literatur, Bd.32, Gesellschaft für Germanistik, Kansai Universität, Osaka 1988, S.1-40.
[7] Kurt Schwitters, Anna Blume und ich, S.46.
[8] Vgl. Gerhard Härle, Lyrik – Liebe – Leidenschaft. Streifzug durch die Liebeslyrik von Sappho bis Sarah Kirsch, Göttingen 2007.
[9] Gottfried Benn, Probleme der Lyrik, in: Das Hauptwerk II (Essays, Reden,Vorträge), hg. v. Marguerite Schlüter, Wiesbaden 1980, S.325.
[10] Paul Celan, Der Meridian, in: Gesammelte Werke III, hg. v. Beda Allemann u.a., Frankfurt am Main 1983, S.198.
[11] Vgl. Judith Winckelmann, Abstraktion als stilbildendes Prinzip in der Lyrik von Hans Arp und Kurt Schwitters, Frankfurt am Main 1995.
[12] August Stramm, Das Werk, hg. v. René Radrizzani, Wiesbaden 1963, S.34. – Philipp stellt Stramms Gedicht einem verwandten, dabei doch ganz eigenen Versuch Schwitters’ von 1918 gegenüber, der mit „Nächte“ überschrieben ist: Vgl. Eckhard Philipp, Dadaismus. Einführung in den literarischen Dadaismus und die Wortkunst des ‚Sturm’-Kreises, München 1980, S.267ff.- Schwitters’ Gedicht „Nächte“ findet sich in: Kurt Schwitters, Das literarische Werk, hg. v. Friedhelm Lach, Bd.I: Lyrik, Köln 1973, S.40.- Vgl. auch: Bernd Scheffer, Anfänge experimenteller Literatur. Das literarische Werk von Kurt Schwitters, Bonn 1978, bes. S.22f.
[13] Der junge Rimbaud hatte am 13.5.1871 in seinem berühmten Brief an Georges Izambard u.a. geschrieben: „Il s’agit d’arriver à l’inconnu par le dérèglement de tous les sens.“ (Arthur Rimbaud, Œuvres, hg. v. Suzanne Bernard, Paris 1966, S.343f.)
[14] Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20.Jahrhundert, Berlin 2001, S.280.
[15] Schwitters, Anna Blume und ich, S.16.
[16] Als theoretischer und praktischer Erfinder von Propaganda, Public Relations und Marketing gilt der noch in Wien geborene, aber schon jung nach Amerika gekommene Neffe von Sigmund Freud: Edward Bernays (1891-1995). Vgl. Edward Bernays, Propaganda (1928). With an Introduction by Mark Crispin Miller, New York 2005.
[17] Kurt Schwitters, Anna Blume und ich, S.14.
[18] Ebd., S.15.
[19] Zitiert nach: Kurt Schwitters, Anna Blume und ich, S.30.
[20] Vgl. hierzu: Bettina Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000.
[21] Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 8.Aufl., Bern/München 1973, Kap.14: Die Musen, S.235-252.
[22] Vgl. Heinz Schlaffer, Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, München 2012, S.13-28; Zitat S.22.