Ernst Jüngers „Arbeiter“ - eine „organische Konstruktion“
„Die ‚Organmängel’ und Organbesonderheiten des Menschen sind alsounter der Leitidee des ‚Unspezialisierten’ zu betrachten und sind,positiv ausgedrückt, Primitivismen.“[1] „Dem Autor, der Kunde bringt, und zwar dem Arbeiter über den Arbeiter,kann es ergehen wie einst dem Boten, der dem König die böse Nachrichtbrachte und dafür geköpft wurde.“[2]
1.
Das Buch Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt[3], das Ernst Jünger (1895-1998) zuerst 1932 in Hamburg erscheinen ließ, ist für den heutigen Leser ohne Zweifel „eine vielschichtige Schrift, die weder einer bestimmten Textsorte noch einer bestimmten Disziplin“[4] zugeordnet werden kann. Die noch von Jünger selbst autorisierte Ausgabe der Sämtlichen Werke (bei Klett-Cotta, Stuttgart 1978ff.) reiht den Arbeiter in die Abteilung „Essays“ ein. Unter der Frage „Deskription oder Präskription?“ stellt z.B. Steffen Martus das Buch als Jüngers „anspruchsvollsten theoretischen Entwurf“[5] neben die kosmologischen Spekulationen An der Zeitmauer von 1959, während Manfred Schneider „die Jüngersche Prophetie ein einzigartiges Zeugnis von Theorie-Poesie“[6] nennt. Benjamin Bühlers Untersuchung von biologischem und anthropologischem Wissen bei Rilke, Döblin und Ernst Jünger entdeckt „funktionalistische Phantasmen“ im Arbeiter und kommt im Hinblick auf Jüngers Begriffsrealismus der Rede von der „Gestalt des Arbeiters“ zum Schluss: „Die am Modell des lebenden Körpers, der nur noch im Sinne einer ‚organischen Konstruktion’ eine Einheit bildet, entwickelte Konzeption von Steuerung läßt sich beliebig auf rhetorisch erzeugte Einheitsfiguren übertragen und zugleich verleiht ihre formale Struktur der Darstellung eine semantische Offenheit, die sich beliebig inhaltlich konkretisieren läßt.“[7] Klaus Gauger reiht die „Gestalt des Arbeiters“ in eine Folge von heroischen Leitfiguren in Jüngers Gesamtwerk ein: Der „Arbeiter“ ist Nachfolger des die Typenreihe begründenden, ursprünglichen „Kriegers“ und zugleich Vorgänger der späteren Widerstandstypen von „Waldgänger“ und „Anarch“[8]. Peter Trawny wiederum erkennt im Arbeiter ein politisches Werk mit der „Autorität des Zeugen“ im Mittelpunkt. Dieser Befund ist ihm zugleich Veranlassung, „Jüngers problematischen Umgang mit dem problematischen ‚Arbeiter’“[9] vom Entstehen des Werkes bis zum Autoritätsverlust des Autors im historischen Bruch nach 1945 nachzuzeichnen.
Angesichts der offensichtlichen Hermetik und Unübersichtlichkeit des Buches hat Thomas Pekar[10] den heuristisch sinnvollen Vorschlag gemacht, wichtig erscheinende Aspekte einmal herauszugreifen und nebeneinander zu stellen. Zur besseren Orientierung lassen sich cum grano salis bestimmte Schichten des Buches voneinander unterscheiden. Dieses analytische Verfahren scheint auch hilfreich, die Lesererwartungen auf das spezifisch Neue des Arbeiters zu lenken, welches verschiedene Disziplinen betrifft: Anthropologie, Politik, Technik, Ästhetik, Metaphysik, nicht zuletzt auch Literatur. Auf Anthropologie bezieht sich Jüngers prophetische Vision, die ein neues Bild von Mensch und Welt entwirft; auf Politik seine Propaganda-Schrift, die einen autoritären und imperialen Arbeiterstaat verspricht; auf Technik seine Deskription der kommenden Tendenzen und Folgen, welche der planetarische Prozess der totalen Technisierung zeitigt; auf Ästhetik seine aisthetische Reflexion, die Wahrnehmung und Kunstübung auf eine heraufziehende, schrecklich-schöne Welt vorbereitet; auf Metaphysik sein „organischer“ Konstruktivismus, der den neuen kybernetischen Funktionalismus von Maschinentechnik, Mensch und Welt zu programmieren sucht. Auf Literatur bezogen ist schließlich der Arbeiter-Autor Ernst Jünger als „Textarbeiter“[11] selber, worauf 2010 auch eindrucksvoll die Marbacher Ausstellung und der zugehörige Katalog hingewiesen haben.
Der Arbeiter nimmt auch im Gesamtwerk Ernst Jüngers eine Sonderstellung ein. Das Buch von 1932 hebt sich in Gestalt und Gehalt sowohl von den früheren Veröffentlichungen in der Weimarer Republik als auch von den nachfolgenden Werken unter dem Nationalsozialismus nach 1933 deutlich ab. Die vielgelesenen, tagebuchförmigen Schriften zum Ersten Weltkrieg und die nationalistische Publizistik der späteren 1920er Jahre hatten bereits einen bestimmten Ruhm und Ruf des Autors in Deutschland begründet.[12] Der Arbeiter mag im Frühwerk als Solitär erscheinen - nicht zu übersehen ist im biographischen und historischen Kontext der Rückbezug auf Das Abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und bei Nacht. Jüngers essayistisches Skizzenbuch zur Weimarer Republik von 1929 kann durch die darin erprobte „Stereoskopie“[13] der Wahrnehmung und die „Insistenz der Reflexion“[14] schon als prinzipielle Vorbereitung der dann im Arbeiter eingenommenen Autor-Perspektive verstanden werden. Der Autor als „kalte persona“[15] und sein Pathos der Distanz vertragen sich im politromantischen Sinne durchaus mit der geheimen „Chiffre einer leidenschaftlichen antidemokratischen Widerstandshaltung“[16]. Im Zwielicht der modernen „Paradoxie von archaischer Rückwendung und schärfster Bewußtheit des epochalen Augenblicks“[17], die Bohrer im Kontext einer pessimistischen Romantik als Voraussetzung von Jüngers früher „Ästhetik des Schreckens“ ausgemacht hat, können neben dem Skizzenbuch von 1929 vor allem auch der Sizilische Brief an den Mann im Mond und der Essay Die Totale Mobilmachung (beide zuerst 1930 erschienen) als Schriften gelesen werden, die schon besonders auf den Arbeiter hinweisen.
Die kaum zu bestreitende Sonderstellung des Arbeiters bedeutet noch weniger, dass Bezüge, Verwandtschaften und Intertextualitäten zu Jüngers späteren Schriften während des Dritten Reiches fehlten. So kann der Essay Über den Schmerz, der zuerst in dem bedeutenden Jüngerschen Sammelband Blätter und Steine 1934 u.a. zusammen mit den jeweiligen Zweitdrucken des Sizilischen Briefs und der Totalen Mobilmachung erschienen ist, als ethischer Nachtrag zum Arbeiter gelesen werden. „Wo kein Wert standhält“, oder wie Jünger auch schreibt: „in einer letzten, und zwar sehr merkwürdigen, Phase des Nihilismus“, wenn „die Technik und das Ethos auf eine so wunderliche Weise gleichbedeutend geworden sind“, dann und dort ist dem Menschen „der Schmerz der einzige Maßstab, der sichere Aufschlüsse verspricht“, verbirgt sich doch gerade dort im je intimsten Bereich „der eigentliche Prüfstein der Wirklichkeit“[18]. Wer Ernst Jüngers Lebens- und Schreibversuche in den 1930er Jahren aufmerksam verfolgt, kann auch in der autobiographischen Erzählung Afrikanische Spiele (1936), in der zweiten Fassung von Das Abenteuerliche Herz. Figuren und Capriccios (1938) sowie in der parabolischen Erzählung Auf den Marmor-Klippen (1939), den wichtigen Werken vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, mehr oder weniger deutliche Spuren einer verschwiegenen wie rechtfertigenden Nachbereitung des Arbeiters entdecken.[19]
Bekannt ist, dass sich Jünger auch nach 1945 lange gegen eine Neuauflage des Arbeiters gesträubt hat, dass Vorarbeiten und Materialien zu einem 2.Band, der eine explizite Revision darstellen sollte, nie publiziert worden sind. Stattdessen ist nach der unveränderten Neuauflage des Buches, die 1963 endlich erfolgte, schon ein Jahr später, nämlich 1964, nur ein schmaler Band Adnoten zum Arbeiter unter dem Titel Maxima – Minima erschienen. Der Arbeiter ist auf diese Weise eine von Ernst Jüngers wenigen Arbeiten geblieben, die seine allzeit und allerorten betriebsame Schreib-Werkstatt – von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis zum sanften Tod 1998 - ohne nennenswerte Überarbeitungen im Original von 1932 überstanden hat.
2.
Was am Anfang des Arbeiters stand, was Jüngers Arbeit am Text zunächst beflügelt hat, war wohl die Überzeugung des Autors von der eigenen historischen Schreib-Mission. Wie der Erste Weltkrieg nach Jüngers Erfahrungen als Frontsoldat erstmalig „den breiten, roten Schlußstrich“(A 59) unter das lange 19.Jahrhundert gezogen hatte, so wollte er selbst durch das Schreiben des Arbeiters die historische Aufgabe weiterführen und mit der „Autorität des Zeugen“ bzw. des Autors einen analogen „Schlußstrich“ unter die bürgerliche Welt des vergangenen Jahrhunderts setzen. Jüngers Schreib-Rituale passten sich der offensichtlich doppelt verstandenen Aufgabe des Abschiednehmens und Linienziehens an. Das Manuskript des Arbeiters zeigt eine schwer lesbare Schrift auf billigem, kleinkariertem Papier, „in fünf lila Schulhefte eingetragen. Die Mappen partizipieren an den Erscheinungsformen der bürgerlichen Bildungswelt, der Jünger im ‚Arbeiter’ unaufhörlich den Totenschein ausstellt.“[20] Die Arbeit am Manuskript umfasst die Krisenphase der späten Weimarer Republik, die Stephan Schlak „die Jahre am Rande des Abgrunds“ nennt: „Beschirmt von einem Hölderlin-Zitat – ‚Bestehendes wohl zu deuten’ – ist die erste Seite des Manuskripts datiert auf den ‚18.10.30’“[21] Bekanntlich war die National-Sozialistische Arbeiterpartei bei der Reichtagswahl am 14.September 1930, also ungefähr einen Monat zuvor, mit großen Stimmengewinnen in den Reichstag eingezogen. Den Abschluss des Manuskripts beschreibt Schlak : „Zwei Jahre später setzt er hinter der ‚Übersicht’ in der fünften Mappe den Schlusspunkt: ‚Definitiv abgeschlossen: Donnerstag, 11.August 1932 2 Uhr Nachmittags. Quod Deus bene vertat! EJ.“[22]
Die zeitgenössischen Reaktionen auf Jüngers Arbeiter zeigten sich nach der Publikation in der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg im Herbst 1932, d.h. nur wenige Monate vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, vor allem durch Parteipositionen bestimmt. Carl von Ossietzky (unter dem Pseudonym Thomas Murner) sieht z.B. in der Weltbühne nur „durchschnittlichste Untergangsprophetie und Chaosmalerei“, nur „Verfall der bürgerlichen Freiheit und die wachsende Ausdehnung der Barbarei in dieser Zeit“. Seine Verurteilung gilt entschieden dem politischen Gegner: "Das Buch Jüngers (...) bietet nichts als eine monotone Folge bleichsüchtiger Philosopheme, um die nicht mehr völlig frische These zu stützen, daß es mit dem Bürgertum bergab geht. Dafür ist jetzt das neue Weltalter des Arbeiters gekommen...“[23] Siegfried Kracauer seinerseits fragt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 16.10.1932, „Gestaltschau oder Politik?“ und wirft Jünger sodann vor, dass er „die Gestalt des Arbeiters vergötzt“, indem er den kontemplativen Gestaltbegriff von Oswald Spenglers Kulturmorphologie „metaphysiziert“ und zum falschen Zweck politischer Aktivierung gebraucht: „Hier, genau hier steckt der eigentliche Konstruktionsfehler des Buchs. (...) Sein Buch erhebt den Anspruch, ein Ziel zu weisen und politisch aktiv zu sein; es betrachtet faktisch das Werdende aus der Scheinperspektive des Gewordenen und verhält sich ästhetisch-kontemplativ.“[24] Mit anderen Argumenten und aus anderen Gründen fiel aber auch die Reaktion auf das Buch im nationalistischen Lager eher negativ aus. Thilo von Trothas Rezension im Parteiblatt der NSDAP zweifelt unter dem Titel Das endlose dialektische Gespräch an der Fähigkeit des berühmten Mannes, „die deutsche Jugend zu repräsentieren“[25], da Jüngers Arbeiter ein zu literarisches und intellektuelles Buch sei und nichts mit dem wirklichen Arbeiter in Deutschland zu tun habe.
Ernst Jünger selbst hat im Vorwort zur ersten Auflage des Arbeiters zumindest versucht, eine deutliche Absichtserklärung zu Sinn und Zweck des Buches abzugeben: "Der Plan dieses Buches besteht darin, die Gestalt des Arbeiters sichtbar zu machen jenseits der Theorien, jenseits der Parteiungen, jenseits der Vorurteile als eine wirkende Größe, die bereits mächtig in die Geschichte eingegriffen hat und die Formen einer veränderten Welt gebieterisch bestimmt. Da es sich hier weniger um neue Gedanken oder ein neues System handelt als um eine neue Wirklichkeit, kommt alles auf die Schärfe der Beschreibung an, die Augen voraussetzt, denen die volle und unbefangene Sehkraft gegeben ist.“ (A,13) Die eigene doppelsinnige Beschäftigung mit dem Arbeiter, d.h. mit der in der Geschichte „wirkenden Größe“ und mit dem eigenen Arbeiter-Text, gibt der Autor Jünger als Suche nach der „Gestalt des Arbeiters“ zu erkennen. Was Jünger als „die Gestalt“[26] sieht oder „metaphysiziert“ (Kracauer), mag an die Platonische Idee oder Goethes Urphänomen oder auch an den zeitgenössischen Gestaltbegriff z.B. in Spenglers Kulturmorphologie erinnern. Wichtig scheint, dass Jünger „die Gestalt“ als die wahre Form sucht, die sich nur einer gesteigerten Wahrnehmung erschließt, die über die konventionellen „Vorurteile“ einer kurzsichtigen Optik des bloß Sichtbaren hinausgeht. „Wo sich der Nahperspektive nur Unordnung darbietet, erkennt die Fernsicht Muster.“[27] Im Abenteuerlichen Herzen von 1929 und im Sizilischen Brief an den Mann im Mond von 1930 hatte Jünger das exzentrische eigene Ideal dieser gesteigerten wie distanzierten Wahrnehmung und Darstellung bereits als „Stereoskopie“[28] benannt.
Jüngers historische Schreib-Mission, „die Gestalt des Arbeiters sichtbar zu machen“, schickt sich an, die ideologischen Fronten der sozialwissenschaftlich oder parteipolitisch formierten Lager zu durchkreuzen. Im Gegensatz zum früheren national-revolutionären Publizisten sieht der Gestaltsucher Jünger weitgehend ab von den zeitgenössischen Ismen mit ihrer propagandistischen Bürgerkriegs-Semantik, auch eine Auseinandersetzung mit politischen Theorien von Kapitalismus, Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus oder Faschismus sucht man vergebens. Den Arbeiter sieht er weder als Vierten Stand noch als historischen Nachfolger des Bürgers, der dessen Geschichtsmächtigkeit ablöste, sei es innerhalb der bestehenden Ordnung, sei es durch revolutionären Umsturz; für Jünger ist der Arbeiter keine soziale „Klasse“, will er doch keinen Primat der ökonomischen Existenz des Menschen anerkennen. Auch der Nationalismus der Konservativen Revolution, der das westliche Erbe der Französischen Revolution und der bürgerlichen Gesellschaft durch deutsche Ordnungsbegriffe ersetzt haben will, kann seine Gestaltsuche nicht befriedigen. Im Gegensatz zu „liberté“, „égalité“ und „fraternité“, die als Losungen der Französischen Revolution den „citoyen“, das Individuum als Bürger adressieren, richten sich schon seit 1841 ihre abweichenden deutschen Äquivalente, nämlich „Einigkeit und Recht und Freiheit“, gerade nicht an den individuellen deutschen Bürger, sondern an das imaginierte Ganze des deutschen Volkes, das als übergeordnete Einheit zu verstehen ist. Gleichwohl überbietet Jünger nochmals jede nur deutsche Ordnung und spricht der „Gestalt des Arbeiters“ nicht nationale, sondern transnationale, nämlich „planetarische Bedeutung“(A,248) zu. Jüngers Arbeiter geht es erklärtermaßen darum, „nach den Regeln des soldatischen Exerzitiums“(A,13) „die Möglichkeit der organischen Konstruktion“ (A,159) des Arbeiters aufzuzeigen. So will er „die Prägung des Raumes, der Zeit und des Menschen auf eine einzige Gestalt, nämlich auf die des Arbeiters“ (A,37), zurückführen. Deskription und Präskription, Diagnose und Therapie-Vision wirken dabei zusammen: Transitiv und zielbestimmt verbindet Jüngers „organische Konstruktion“ das Sichtbarmachen einer „neuen Wirklichkeit“ mit einer stark typisierenden Beschreibung der „Gestalt des Arbeiters“.
Man hat im Arbeiter eine originelle „Theorie der Moderne“[29] erkennen wollen. Entscheidend für Jüngers „organische Konstruktion“ des Arbeiter-Typus und damit in einem, des eigenen Arbeiter-Textes, ist jedenfalls, dass sie „die Gestalt des Arbeiters“ in der „neuen Wirklichkeit“ der zeitgenössischen Konjunktion von „Maschinentechnik“ und arbeitenden Menschen aufsucht. „Die Maschinentechnik ist zu begreifen als Symbol einer besonderen Gestalt, nämlich der des Arbeiters – indem man sich ihrer Formen bedient, tut man dasselbe, als wenn man das Ritual eines fremden Kultes übernimmt.“(A,80) Jüngers gleichzeitige Ablehnung jeder historischen Anthropologie des arbeitenden Menschen findet umgekehrt wohl ihre Begründung darin, dass dort Fragen der Technik und „Maschinentechnik“ kaum eine Rolle spielen. In der Antike und in ihrer abendländischen Überlieferung war „Arbeiten“[30] eine gemeine Tätigkeit: „ponos“ meinte im Gegensatz zu „poiesis“, dem handwerklich-künstlerischen Herstellen, und zu „praxis“, dem politisch-öffentlichen Handeln, nur die sklavische Notdurft des Sich-Abarbeitens an den Naturdingen und den biologischen Stoffwechsel des Menschenkörpers. Auch die dem christlichen Mittelalter eigentümliche Ständeordnung, von späten Romantikern als „ewige“ Trias von „bellatores“, „oratores“ und „laboratores“ verklärt, teilte den arbeitenden Menschen im Schatten von Kriegern und Priestern nur ein niederes Dasein zu. Zwar ist es der Neuzeit gelungen, im 17. und 18.Jahrhundert das Arbeiten durch eine frühkapitalistische Arbeitsethik theoretisch zu verherrlichen, im 19.Jahrhundert sogar fernerhin, den Umbau ganzer Nationen in Arbeitsgesellschaften anzustoßen. Komplementär im Kontrast zur schlechten Wirklichkeit erscheint die schöne Idee einer Selbstverwirklichung des Menschen durch Arbeit, in der Aufklärung, Neuhumanismus und Sozialismus schließlich zusammenfinden. Sie gesteht Technik und Maschinentechnik nur einen instrumentellen Mittel-Status zu vernünftigen Menschenzwecken zu, so als hätten Industrielle Revolution und Elektrifizierung das mechanische Weltbild der Frühen Neuzeit und des „Homo faber“[31] nie erschüttert. Es sind wohl die Erfahrungen des Frontkämpfers im Ersten Weltkrieg, die es Jünger ermöglichen, die anthropologischen Schleier zu durchschauen, die den bürgerlichen Blick, durch seine romantischen, liberalistischen oder sozialdemokratischen Augengläser hindurch, trüben: „In den modernen, mit den letzten technischen Mitteln gerüsteten Heeren ficht nicht mehr ein ständisches Kriegertum, das sich dieser technischen Mittel bedient, sondern diese Heere sind der kriegerische Ausdruck, den die Gestalt des Arbeiters sich verleiht.“(A,80)
Die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs künden Jünger von der imminenten Erscheinung eines neuen Verhältnisses zur Technik überhaupt. Diese Erscheinung geht mit der Ablösung des Individuums durch den „Typus des Arbeiters“(A,125) einher. Sie bedeutet das Ende der bürgerlichen Welt und den unaufhaltsamen Übergang in eine so nie dagewesene „planetarische Herrschaft“(A,310), die eine neue Ordnung darstellt, die nach Jünger einen „totalen Arbeitscharakter“(A,181), einen kollektiven „Arbeitsplan“(A,286ff.) und einen imperialen „Arbeitsstaat“(A,250ff.) zeitigen wird. Gleichzeitig kühlt Jünger apokalyptische Motive von Décadence, Fin de Siècle und Expressionismus auf Temperaturen der Neuen Sachlichkeit herunter, um den „Einbruch elementarer Mächte“(A,52) in den Raum bürgerlicher Sicherheiten zu beschreiben: Die Zerstörung von demokratischem Liberalismus und gesellschaftlicher Vertragsfreiheit geht mit dem Untergang romantischer Innerlichkeit in Schmerz und Schrecken einher. „Der scheint am meisten gewonnen zu haben, der am meisten verloren hat.“ Schon Jüngers Abenteuerliches Herz hat sich durch diese „geheime Mathematik des letzten Krieges“ belehren lassen, um auf verlorenem Posten Untergang und Zerstörung der eigenen Bürgerwelt des 19.Jahrhunderts im heroischen Tagebuch zu protokollieren: „Alle Menschen und Dinge dieser Zeit drängen einem magischen Nullpunkt zu. Ihn passieren, heißt der Flamme eines neuen Lebens ausgeliefert zu sein; ihn passiert zu haben, ein Teil der Flamme zu sein.“[32]
Dieser „Dekompositionsprozeß“, der die „Grenzen des Nihilismus“ erreicht, „läuft mit dem Tod des Individuums und der Ausschaltung der Masse als eines politischen Mittels parallel“(A, 132). Die Revolution, die Jünger meint, ist keine politische Revolution mehr, die auf revolutionäre Massen und besondere Individuen als Führer zählen könnte. Die Revolutionen des langen 19.Jahrhunderts, von der Französischen Revolution 1789 bis zur Russischen Revolution von 1917, schlägt Jünger der untergehenden bürgerlichen Welt zu. Die eigentliche, die neue Revolution ist die Ablösung des Individuums durch den „Typus des Arbeiters“, der durch „organische Konstruktion“ die amorphe Masse ersetzt, indem er die mannschaftlichen und kameradschaftlichen Organisationsformen von Bund, Kreis, Kader und Orden erneuert. Jenseits von Individuum und Masse bieten die Organisationsstrukturen des Heeres schon kollektive Muster an, die dem Soldaten des Ersten Weltkriegs in guter Erinnerung geblieben sind. Das neue Verhältnis zur Maschinentechnik und ihre „Steigerung in der Präzision der Mittel“(A,133) erscheinen im „Typus des Arbeiters“ als eine progressiv sich optimierende Art von Homöostase. Diese stellt Jünger dergestalt vor, dass darin Mechanik und Organik, Material und Wille zum Leben, Maschine und Mensch ihr immer besseres Gleichgewicht finden. Und diese epochale „Revolution sans phrase“ galt es „nicht nur zu begreifen, sondern, obwohl gefährlich, auch zu begrüßen“(A,11), wie Jünger aus der Retrospektive im Vorwort zur unveränderten Neuausgabe des Arbeiters 1963 schreibt.
Diese epochale „Revolution sans phrase“ sucht der Arbeiter nicht nach einem physikalischen oder sozialwissenschaftlichen Modell von Ursachen und Wirkungen zu erklären. Jünger rechnet nicht mehr mit einer Natur des Menschen, die eine anthropologisch oder psychologisch begründete Kausalität innerhalb einer human verstandenen Wirklichkeit garantieren könnte. Aber auch ökonomische Gesetze und soziale Regelmäßigkeiten haben jeden Erklärungswert verloren, setzt Jünger doch gleichzeitig voraus, dass jene „Revolution sans phrase“, um die es ja geht, gerade diesen Modellen den sicheren Garaus macht. Jüngers Methode besteht vielmehr darin, die „Gleichzeitigkeit“ der Veränderungen am mechanischen und organischen Bestande in einem Raum der Beobachtung zusammen zu erfassen, wodurch den zerstreuten Einzelvorgängen erst eine bestimmte systemische „Kausalität“ zukommt: „So gibt es keinen Maschinenmenschen; es gibt Maschinen und Menschen – wohl aber besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen der Gleichzeitigkeit neuer Mittel und eines neuen Menschentums. Um diesen Zusammenhang zu erfassen, muß man sich allerdings bemühen, durch die stählernen und menschlichen Masken der Zeit hindurchzusehen, um die Gestalt, die Metaphysik, zu erraten, die sie bewegt.“(A,134)
Jünger konkretisiert die mit der „Gestalt des Arbeiters“ im „Ersten Teil“ des Buches in Anspruch genommene „Metaphysik“ im „Zweiten Teil“ zu einer modernistischen Phänomenologie der kommenden Arbeiter-Welt. Diese geht den Indizien der „Totalen Mobilmachung“[33] und den Spuren von Technisierung und Typisierung in der Lebenswelt des 20.Jahrhunderts nach: Großstadt-Verkehr, Massenveranstaltungen, Militär, Sport, Kino zeigen nach dem Ersten Weltkrieg eine wachsende Gleichförmigkeit, die durch Statistik, Hygiene, Reklame und Propaganda technische Wiederholbarkeit mit rascher Eindeutigkeit verbindet. „Es erhebt sich nun die Frage, ob hinter den Masken der Zeit nicht mehr zu suchen ist als der Tod des Individuums, der die Physiognomie erstarrt und im Grunde mehr und Schmerzlicheres bedeutet als nur den Einschnitt, der zwei Jahrhunderte trennt.“ (A,142) Sie tun es, aber sie wissen es nicht - am Bewusstsein der lebensweltlichen Akteure vorbei werden Gestik, Mimik, Motorik, Rhythmik, Haltung und Kleidung des Typus durch Automatisierung und Normalisierung für den Arbeitsanspruch der neuen, „schrecklich-schönen“ Welt immer besser zugerüstet. Wissen und Bewusstsein von diesen systemischen Prozessen und von ihrer funktionalistischen Metaphysik ist der Gestaltschau des phänomenologischen Beobachters vorbehalten, dessen „zweites, feineres und unpersönliches Bewusstsein“[34] gleich einem „Mann im Mond“[35] mit stereoskopischer Fernsicht den „Typus des Arbeiters“ fokussiert. Was ist mit Herz und Seele, was mit Körper und Geist, was mit dem alten Menschenbild, wenn der Mensch und seine Umwelt nach technischen, mathematischen und wissenschaftlichen Parametern definiert, rationalisiert und normiert werden können? Lassen sich seine Sinnlichkeit und Kreativität, seine Produktivität und Lebensenergie vielleicht durch Apparaturen steigern? Ist der Arbeiter-Typus, als neuer Mensch, geglückte Verbesserung des Menschen?
Jüngers Gestaltschau der „Gleichzeitigkeit“ im systemischen Ineinandergreifen von Mensch und Maschine und mobilisierter Welt hat sich von allem romantischen Protest verabschiedet und den Blick von aller ethischen und moralischen Technikfolgenabschätzung abgewandt: “Die Technik ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert. Das Maß, in dem der Mensch entscheidend zu ihr in Beziehung steht, das Maß, in dem er durch sie nicht zerstört, sondern gefördert wird, hängt von dem Grade ab, in dem er die Gestalt des Arbeiters repräsentiert. Technik in diesem Sinne ist die Beherrschung der Sprache, die im Arbeitsraume gültig ist. Diese Sprache ist nicht weniger bedeutend, nicht weniger tief als jede andere, da sie nicht nur Grammatik, sondern auch Metaphysik besitzt. In diesem Zusammenhange spielt die Maschine eine ebenso sekundäre Rolle wie der Mensch, sie ist nur eines der Organe, durch die diese Sprache gesprochen wird.“(A,160) Mensch und Maschine können als „Organe“ des kollektiven wie übersinnlichen, d.h. metaphysischen Sprachleibes gleichermaßen gleichgeschaltet werden. Vom „Werkstättencharakter des technischen Raumes“(A,190) in der explosiv-dynamischen Anarchie des zeitgenössischen revolutionären Übergangs bis hin zur „Planlandschaft“ einer kommenden „Perfektion der Technik“ sieht Jünger die steigende „Beherrschung der Sprache“ am Werk, „die im Arbeitsraume gültig ist“. Diese „Sprache“ ist eine konstruktivistische „Metaphysik“, deren Code Symbolik und Repräsentation mit Performanz und Präsenz vereint. Systemisches Wirken und selbstregulativer Funktionalismus zeichnen ihre symbolische und zugleich performative Ordnung aus.
Der Code dieser „Sprache“, die den „Typus des Arbeiters“ bestimmt, ist eindeutig in Richtung auf kollektiven „Arbeitsplan“, „totalen Arbeitscharakter“ und planetarischen „Arbeitsstaat“ programmiert. „Technik und Natur sind keine Gegensätze – werden sie so empfunden, so ist dies ein Zeichen dafür, daß das Leben nicht in Ordnung ist.“(A,207) Die „organische Konstruktion“ des Lebens scheint erst möglich, wenn das Leben „in Ordnung ist“, wenn es nämlich de facto als „in Ordnung“ empfunden wird. Dieser Glücksfall ist für Jünger aber in jedem Fall gegeben, wenn das Leben einmal „totalen Arbeitscharakter“ angenommen hat und die „Sprache, die im Arbeitsraum gültig ist“, allüberall beherrscht wird. Diese „Sprache“ programmiert an Mensch und Maschine und Materie gleichermaßen die systemischen Prozesse von Technisierung, Typisierung und Totalisierung, Mobilisierung und Medialisierung, Imperialisierung und Planetarisierung, Normalisierung, Faktifizierung und Automatisierung. Für ihre konstruktivistische „Metaphysik“ scheint jede substantielle Beschaffenheit – ob mechanisch oder organisch - zweitrangig, es kommt nur darauf an, wie die dynamisch-energetischen Prozesse durch Selbstregulation „in der Totalität des technischen Raumes“(A,181), d.h. im System, funktionieren. Sie fragt nicht mehr nach einem Wesen des Lebens, sondern nach dem automatischen Funktionieren des kollektiven Lebensprozesses in der kommenden Arbeiter-Welt. Dabei können Mittel und Zweck, Ursache und Wirkung ohne weitere kausale oder finale Bestimmung in formaler „Gleichzeitigkeit“ gesehen und übersehen werden. Menschen, Tiere, Pflanzen, Maschinen, Gesellschaften, auch ihr automatisches Zusammenwirken, werden als jeweilige Ganzheiten auf der Ebene vitaler Selbst-Steuerungsprozesse formal beschreibbar – entsprechend jener „Sprache, die im Arbeitsraum gültig ist“. Jüngers „organische Konstruktion“ des Arbeiter-Typus verweist durch ihren Formalismus der rekursiven Selbstreferenz im Verein mit einem funktionalistischen Holismus implizit auf kybernetische Modelle. Ganzheit, Steuerung, (Selbst-)Regulation sind zentrale Konzepte, die im 20.Jahrhundert über die Physiologie als Experimentalwissenschaft hinaus mancherlei Spielarten der Systemtheorie und der „kybernetischen Anthropologie“[36] verbinden.
Für Jüngers futuristischen Optimismus selbstregulativer Prozesse scheint klar, dass die Technik genügend Dynamik und Energie hat, dass sie auch für die künftige „Mobilmachung“ ihrer letzten Potenz reicht. Technisierung geht durch Automatisierung „aufs Ganze“: Was möglich ist, das wird auch wirklich werden, wie wenig prädizierbar es in der Gemengelage der aktuellen Anarchie auch scheinen mag. "Die Mobilmachung der Materie durch die Gestalt des Arbeiters, wie sie als Technik erscheint, ist also in ihrer letzten und höchsten Stufe noch ebensowenig sichtbar geworden wie bei der ihr parallel laufenden Mobilmachung des Menschen durch dieselbe Gestalt. Diese letzte Stufe besteht in der Verwirklichung des totalen Arbeitscharakters, der hier als Totalität des technischen Raumes, dort als Totalität des Typus erscheint. Diese beiden Phasen sind in ihrem Eintritt aufeinander angewiesen (...) Die Annäherung an diese Einheit drückt sich aus in der Verschmelzung des Unterschiedes zwischen organischer und mechanischer Welt; ihr Symbol ist die organische Konstruktion.“(A,181) Die „Gestalt des Arbeiters“ soll sich die technischen Mittel nicht mehr nur wie handwerkliche Werkzeuge oder mechanische Maschinen äußerlich aneignen; ihr Programm besteht auch nicht lediglich darin, anthropologische Mangelhaftigkeiten nach dem „Topos von der Erweiterung des Menschen durch Medien und durch Technik“[37], etwa im Sinne der „Extensions of Man“ (McLuhan), zu kompensieren. In der „Totalität des technischen Raumes“, d.h. in der „totalen Mobilmachung“ von Mensch und Materie, soll Jüngers Arbeiter-Typus vielmehr mit den technischen Mitteln ganz und gar zu einem homöostatischen Komplex werden, der „jenseits der alten Zweifel“(A,159) alle Dualismen der doppelten abendländischen Logos- und Pistis-Codierung einschließlich der neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Spaltung vergessen macht: „Alt und Neu, Macht und Recht, Blut und Geist, Krieg und Politik, Natur- und Geisteswissenschaft, Technik und Kunst, Wissen und Religion, organische und mechanische Welt“(A,159).
Gleichzeitig soll Jüngers „totale Mobilmachung“ automatisch auch die polit-ökonomischen Widersprüche der aus dem 19.Jahrhundert herkommenden bürgerlichen Arbeitsgesellschaften kassieren: die abstrakten Tauschverhältnisse von Arbeit, Geld und Waren, die Trennung von Arbeit und Freizeit, den Gegensatz von Arbeit und Konsum, die dem liberalen Bürgertum so wichtige Unterscheidung von Privatem und Öffentlichem. Diese „Revolution sans phrase“ kündigt sich der Beobachtung Jüngers schlagend im Unterschied zwischen bürgerlicher Kleidung und „Arbeitsuniform“ bereits an, welch letztere besonders „neue Mannschaften“ hervortreten lässt: "Während sich die bürgerliche Kleidung unter Anlehnung an alte Standestrachten entwickelt hat, weist die Arbeitstracht oder die Arbeitsuniform einen in sich selbständigen und durchaus andersartigen Charakter auf; sie gehört zu den äußerlichen Merkmalen einer Revolution sans phrase. Ihre Aufgabe ist nicht, die Individualität hervorzuheben, sondern den Typus zu betonen – weshalb sie auch überall dort in Erscheinung tritt, wo neue Mannschaften sich bilden, sei es auf dem Gebiete des Kampfes, des Sports, der Kameradschaft oder der Politik.“(A,130) „Totalität des Typus“ und „totaler Arbeitscharakter“ bedeuten übereinstimmend, dass für den „Typus des Arbeiters“ Arbeiten und Leben zur Deckung kommen, dass alles Tun und Lassen im Leben „Arbeitscharakter“ annimmt – weil ansonsten das Leben eben „nicht in Ordnung ist“. Funktionale Ganzheiten und absolute Kontrolle bzw. Selbstkontrolle wirken zusammen. Nach dem von Jünger postulierten Eintritt in das Zeitalter des „Arbeiters“ kann im Extrem nichts und niemand, weder Materie noch Mensch, außerhalb dieser totalen Programmierung verbleiben, alles kann, darf, soll, muss, wird in die systemischen Prozesse eingezogen, die fernerhin ohne jede Modalitätsdifferenzierung nur noch den simplen Indikativ von Funktion und Vollzug kennen: Technisierung, Typisierung und Totalisierung, Mobilisierung und Medialisierung, Imperialisierung und Planetarisierung, Normalisierung, Faktifizierung und Automatisierung. „Eine Technik, die uns nur noch dem Zwang der funktionstüchtigen Anpassung und der aufmerksamen Beachtung ihrer Signale unterwerfen würde“, heißt es in einem kühnen Gedankenexperiment zur Geistesgeschichte der Technik bei Hans Blumenberg, „müßte in der Chronik ihrer Fortschritte ganz und gar aufgehen.“ Und das in einem Maße, dass es sich dann kaum „noch lohnte, der Frage forschend nachzugehen, wie es zu diesem Zustand gekommen ist“[38].
Die Funktionstüchtigkeit „organischer Konstruktion“ kassiert bei Ernst Jünger zuletzt auch die Fragen von Geltung und Genesis. „Organische Konstruktion“ soll die Abgründe zwischen Natur und Geschichte, Physis und Zivilisation überbrücken, soll die Verwerfungen zwischen organischer und mechanischer Welt glätten, die „die reine Konstruktion“ und ihre abstrakt-planerischen Gestaltungen in der Moderne hinterlassen haben. Technik darf nicht länger mehr im Gegensatz zum Menschen als äußerliches Objekt nach den Sachständen physikalischer Mechanik aufgefasst werden. Deshalb zielt „organische Konstruktion“ nachgerade auf „die Einheit von organischer und mechanischer Welt; die Technik wird Organ und tritt als selbständige Macht zurück in demselben Maße, in dem sie an Perfektion und damit an Selbstverständlichkeit gewinnt.“(A,190) Kann „organische Konstruktion“ im eigentlichen Sinne erst statthaben, „wenn der Mensch in hoher Einheit mit seinen Mitteln erscheint“(A,231), so taugt sie Jünger nachgerade zur Probe aufs Exempel, um die stereoskopische Fernsicht auf den „Typus des Arbeiters“ durch scharf gestellte Nahbilder zu konkretisieren. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“[39] – wie zum Bild des Ritters im Mittelalter Rüstung, Schild, Lanze, Schwert und Pferd gehören, so wird die moderne Erscheinung des technisch hochgerüsteten Arbeiter-Typus durch „Arbeitsuniform“ und motorisiertes Fahrzeug geprägt. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Jünger „den vielen Gelegenheiten, wo von einer Besatzung gesprochen werden kann, also dort, wo der Mensch im engen – kentaurischen – Zusammenhang mit seinen technischen Mitteln zu erblicken ist.“ (A,130) Die Überlieferung der antiken Mythologie kennt die „kentauroi“ als chimärische Mischwesen, die noch in mittelalterlichen Bestiarien ihr lüsternes wie streitsüchtiges Unwesen trieben.[40] Ulrich Raulff hat vom langen „Pferdezeitalter“[41] gesprochen, dem erst Verbrennungsmotoren und motorisierte Fahrzeuge im technologischen Fortgang des 20.Jahrhunderts ein langsames Ende bereiteten. „Der „kentaurische Pakt“ von Roß und Reiter hatte von den Reiterhaufen des Altertums und den mittelalterlichen Rittern über die Cowboys des Wilden Westens bis zu den Kavallerien der Weltkriege „den Menschen die Macht“ verliehen, nicht nur „Herrschaft zu erlangen und zu sichern“, sondern auch „gleichzeitig die adäquate Darstellung der Herrschaft“ als „politische Metapher“[42] geliefert. Den alten „kentaurischen Pakt“ des „Pferdezeitalters“ hat Jünger nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs aufgekündigt, um ihn durch den modernen „kentaurischen“ Zusammenhang des Arbeiter-Typus „mit seinen technischen Mitteln“ zu ersetzen. Es ist diese aus metaphysischem Funktionalismus geborene „organische Konstruktion“, die er gerade im metaphorisch und mythologisch aufgeladenen Bild bzw. Photo-Bild der „Besatzung“ von motorisierten Fahrzeugen feiert.
Hans Blumenberg hat im Arbeiter mehr als die „Konvergenz aller Antibürgerlichkeiten des Jahrhunderts von der Jugendbewegung bis zur Totalen Mobilmachung“[43] gesehen. Als sehr aufmerksamer Jünger-Leser geht er über die übliche Kritik am Frühwerk weit hinaus, auf die sich bundesdeutsche Feinde und Freunde Ernst Jüngers trotz allem sonstigen Meinungsstreit doch verständigen konnten. Aus der Reflexion über die Beobachter-Fiktion vom „Mann im Mond“ und seiner Fernsicht, der „alles als Ornament“[44] erscheint, schließt er auf Jüngers Flucht nach vorn in die Technik, in der er zugleich den paradoxen Ausdruck seines Abschiedes vom schmerzlichen Expressionismus der Kriegsbücher entdeckt: „Der Ausdruck schwindet zur Begleiterscheinung der Funktion. Die Maschine, die nichts produziert und keine Anzeige liefert, nur die Exaktheit ihres Ablaufs als absolute Monotonie zur Anschauung bringt.“[45] Blumenberg erfasst Jüngers „organische Konstruktion“ der „Gestalt des Arbeiters“ in diesem Kontext als „Phänotypus“, nämlich als nun kaltblütige Antwort auf eine „eher behavioristische als hermeneutische Aufgabe“. Sein Urteil lautet bündig: „Der Kentaur der ‚organischen Konstruktion’ hat kein ‚inneres Erlebnis’ mehr, wie es noch der Kämpfer des Weltkriegs gehabt haben sollte; alles ist ihm ‚äußere Erscheinung’ geworden und in dieser nun auch für einen Beobachter faßbar, in dem sich der Autor mit dem ‚Mann vom Mond’ endgültig und letztmalig konfrontiert sehen kann“[46].
In der Erzählung Gläserne Bienen[47] ist Ernst Jünger 1957 auf das Verschwinden der „herrlichen“ Pferde und ihre Ersetzung durch Panzer im Krieg und „Automaten“ in der modernen Lebenswelt zurückgekommen. Seine Erzähl-Fiktion führt den „Hungerleider und abgedankten Reiter“, den alten Rittmeister Richard, mit dem Großindustriellen Giacomo Zapparoni zusammen, der zugleich als „ein Zauberer und Herr der Automaten“[48] apostrophiert wird. Deutlich erscheint Jüngers Versuch, durch diese Konfrontation nochmals eine wechselseitige Relativierung von alter und neuer Welt zu leisten. „Es ist am Technischen viel Illusion.“[49] In der gläsernen Automatenwelt von Zapparonis Liliput-Robotern kann man unschwer eine phantastische Karikatur des eigenen, 1932 fabrizierten und gepanzerten Arbeiter-Typus erkennen, zumal Jünger zu dieser Zeit schon an eine Art von kosmologischer Revision des Arbeiters dachte, die dann 1959 unter dem Titel An der Zeitmauer[50] tatsächlich erschien. Anstatt das Original von 1932 durch Jüngers spätere, selbstrechtfertigende Revision zu kontaminieren, scheint es jedoch sinnvoller, hier den ambivalenten Status der einmal konstruierten „Gestalt des Arbeiters“ selber zu pointieren: Der „Typus des Arbeiters“ rückt als modernes Arbeits-Lebewesen, programmiert durch „totalen Arbeitscharakter“, einerseits in die Nähe jenes „animal laborans“, das nach Hannah Arendts Kritik der Arbeits- und Konsumgesellschaften des 20.Jahrhunderts „mehr und mehr eine Art gesellschaftlich-animalisches Lebewesen ist“[51]. Andererseits aber soll er als Typus gegen Schmerz und Leiden der Kreatur gerüstet und gepanzert sein, ja das Kreatursein wohl schon hinter sich gebracht haben, wachsen ihm doch durch „organische Konstruktion“, über einfache Werkzeuge und handbediente Maschinen hinaus, auch die Potenzen perfekter technischer Apparatur und Automation zu. Die Gestalt des Typus stählt den lebendigen Körper zur rein funktionalen Einheit, die sich durch die „Perfektion der Technik“ zugleich als symbolischer Körper (re-) präsentiert: ein Roboter und Automat am Ende eher als ein Arbeitstier? Ein Maschinen-Kentaur?
3.
Max Bense hat 1951 nach der Rolle einer „Metatechnik“ im Rahmen einer philosophischen Anthropologie gefragt, die er bei Max Scheler metaphysische, bei Martin Heidegger ontologische und bei Arnold Gehlen empirische Zusammenhänge verfolgen sah. Für das kaum bestrittene und über Nietzsche, Herder, Pascal u.a. weit zurückreichende anthropologische Missverhältnis von Natur und Mensch bzw. Natur und Kultur wollte er in der „kybernetischen Erweiterung“ von Technik und Wissenschaft eine mögliche Lösung erkennen: „Die kybernetische Erweiterung der neuzeitlichen Technik bedeutet also ihre Erweiterung unter die Haut der Welt; Technik kann in keiner Weise mehr isoliert (objektiviert) betrachtet werden vom Weltprozeß und seinen soziologischen, ideologischen und vitalen Phasen. Sie bezieht alles ein, sie hat einen verstärkten konsumierenden Charakter angenommen. Literatur, Kunst, Musik nehmen ihre Züge an, genau wie seit Galilei Wissenschaft, Medizin, Architektur und mindestens seit der Aufklärung die gesellschaftlichen und politischen Vorgänge sich ihren Strukturen anpaßten.“[52]
Wie Max Bense, freilich ohne dessen Perspektive auf ihre „kybernetische Erweiterung“, hat sich auch Martin Heidegger nach 1945 entschieden gegen eine instrumentelle Sicht der Technik nach Maßgabe einer wie immer gearteten Zweck-Mittel-Relation gewendet: „So ist denn auch das Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches.“[53] Heidegger verkoppelt das Wesen der Technik mit dem altgriechischen Wahrheitsbegriff („alétheia“ als Ereignis von „Unverborgenheit“) und heißt „Ge-stell“ zunächst „die Weise des Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist.“[54] Andererseits nennt er dies moderne „herausfordernde Ge-stell“ in der fundamentalontologischen Perspektive seiner Seinsgeschichte der „Seinsvergessenheit“ aber auch „Geschick“ und „Gefahr“, denn es verbirgt „nicht nur eine vormalige Weise des Entbergens, das Her-vor-bringen, sondern es verbirgt das Entbergen als solches und mit ihm Jenes, worin sich Unverborgenheit, d.h. Wahrheit ereignet.“[55] Der Band 90 von Heideggers Gesamtausgabe Zu Ernst Jünger dokumentiert nicht nur Aufzeichnungen der 1930er Jahre, dazu Randnotizen in zwei Handexemplaren von Der Arbeiter und eine „Aussprache“ über Jünger, die 1940 im Kollegenkreis Heideggers in Freiburg stattfand.[56] Der Band lässt auch erkennen, in welchem Maße Der Arbeiter Heideggers spätere Erörterungen zum Wesen der modernen Technik und des „Gestells“ motiviert hat. Heidegger greift im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche Jüngers „aktiven Nihilismus“ der „totalen Mobilmachung“ im Arbeiter auf; das Buch hilft ihm dabei, das „Gemächte des Menschen“[57] im modernen technischen Zeitalter zu erkennen, das alles auf Bestand reduziert und auf seine Verwertbarkeit hin „stellt“.
Über ‚die Linie’, 1955 als Heideggers Beitrag in der Festschrift zu Ernst Jüngers 60.Geburtstag zuerst erschienen, ist unter dem veränderten Titel Zur Seinsfrage prominent geworden. Dort hebt Heidegger unumwunden die Bedeutung des Arbeiters hervor: "Ihr Werk ‚Der Arbeiter’ (1932) hat die Beschreibung des europäischen Nihilismus nach dem ersten Weltkrieg geleistet.“[58] Er wendet „die Beschreibung“ des frühen Werks von 1932 gegen den Revisionismus seines nun 60-jährigen Autors, indem er vom Arbeiter ausgehend befindet: „Demgemäß muß eine Erörterung der Linie fragen: worin besteht die Vollendung des Nihilismus? (...) Ist der menschliche Bestand schon im Übergang trans lineam oder betritt er erst das weite Vorfeld vor der Linie?“ (...) Allein der Versuch, im Briefgespräch mit Ihnen einiges de linea zu sagen, trifft auf eine eigentümliche Schwierigkeit. Deren Grund liegt darin, dass Sie im ‚Hinüber’ über die Linie, d.h. im Raum diesseits und jenseits der Linie, die gleiche Sprache sprechen.“[59] Heideggers ursprünglicher Titel Über ‚die Linie’ macht bereits deutlich, dass sich der Philosoph „im Briefgespräch“ sehr kritisch auf Jüngers Aufsatz Über die Linie bezieht, der 1950 als Beitrag in Heideggers eigener Festschrift zum 60.Geburtstag erschienen war. „Ausbeutung ist der Grundzug der Maschinen- und Automatenwelt. Sie steigert sich zur Unersättlichkeit, wo der Leviathan erscheint. Darüber darf man sich auch dort nicht täuschen, wo großer Reichtum die Schuppen zu vergolden scheint. Er ist noch fürchterlicher im Komfort.“[60] Zu leichtfertig erscheint Heidegger Ernst Jüngers Entfernung vom eigenen Arbeiter, zu unbedacht die dramatisierende Rede vom dezisionistischen Überschreiten der „Linie“ des Nihilismus: Jüngers Über die Linie nimmt die antizipierende Vorstellung des „Hinüber über die Linie“ im unterstellten Paroxysmus der Krise des Nihilismus schon für die reale Möglichkeit ihres Überschreitens selbst. Dagegen fragt Heidegger allererst nach dem „Ort“, nach dem Wo der vorgestellten „Linie“. „Aus dem Ort der Linie ergibt sich die Herkunft des Wesens des Nihilismus und seiner Vollendung.“[61] Die genauere Bestimmung der „Linie“ durch die Erweiterung ihres Soseins zum Grenzgebiet führt bei Heidegger zur weiten „Zone der Linie“, wo „der Nihilismus seiner Vollendung“[62] sich erst nähert. Ernst Jüngers „Lagebeurteilung unter dem Namen trans lineam“[63], die seine erste nennenswerte Revision des Arbeiters nach 1945 darstellt, weist Heidegger als in ärztlichen „Vorstellungen“ von „Prognose, Diagnose, Therapie“ des Nihilismus befangen zurück. Heideggers replizierende „Erörterung unter dem Namen de linea“[64] bekundet in ihrer philosophischen Vertiefung „zur Seinsfrage“ erhebliche Zweifel, ob Jüngers „Nichtmehrteilnehmen“ am Nihilismus schon „außerhalb des Nihilismus stehen“[65] heißen kann. Heidegger sieht in Ernst Jünger den Seher und Späher, der die umgebende moderne Wirklichkeit, mitsamt ihren Schmerz- und Todesdrohungen für den heutigen Menschen, zwar beschreiben, nicht aber das „Wesen“ dieser technologisch hochgerüsteten Wirklichkeit als Denker befragen kann. Der Philosoph weist den Literaten darauf hin, dass sich „über das Wesen (verbal) des Wesens (nominal) keine Auskunft erteilen läßt, die in der Form von Aussagesätzen griffbereit vorliegen kann.“[66]
Im Ausblick seiner Philosophiegeschichte des 19.Jahrhunderts Von Hegel zu Nietzsche sieht der ehemalige Heidegger-Schüler Karl Löwith 1940 die zweifelhafte Originalität von Jüngers Buch Der Arbeiter darin, dass es im Sinne von Nietzsches „Willen zur Macht“ den „preußischen Gesinnungsmilitarismus“ mit der Idee des russischen Arbeiterstaates“ verbindet. Nach Löwiths Urteil hat Jünger „Nietzsches Ideen über die Zukunft Europas vereinfacht und aus der Erfahrung des technischen Krieges weitergedacht – er versucht in der Tat, ‚mit dem Hammer’ zu philosophieren.“[67] Löwith zitiert Jüngers Selbstbekenntnis aus dem Nachwort zur autobiographischen Erzählung Afrikanische Spiele (1936), worin dieser sich als „der Urenkel eines idealistischen, der Enkel eines romantischen und der Sohn eines materialistischen Bürgertums“ vorstellt, um den paradoxen Dezisionismus des Autors von Der Arbeiter herauszustellen: Vergebens wolle Jünger am „Zweifel zu zweifeln und an den Glauben zu glauben“ beginnen, der entsprechend der Nietzsche-Rezeption nach 1900 nur noch die Einheit von Kult und Leben, nämlich „das elementare und immer wiederkehrende Leben“[68] meinen könne. Die zeitgeschichtliche Kritik des Emigranten Löwith, der von 1936 bis 1941 im japanischen Sendai Philosophie lehrte, am Autor des Arbeiters und an seinem „nihilistischen Wollen“ fällt dann auch deutlich aus. Sie zielt besonders auf Jüngers „Begriff der Arbeit“: „Die Arbeit ist des Arbeiters Lebensform, denn sein ganzes Dasein ist eine einzige heroische Aktion. (...) Sie richtet sich weder nach dem Wesen des Geistes noch nach dem Wesen des Menschen, vielmehr wird sie als eine Funktion der totalen Mobilmachung zu einem anonymen Prozeß, der den Menschen entmenscht.“[69]
Mit den Werken der „inneren Emigration“[70], mit den Afrikanischen Spielen, mit den Figuren und Capriccios der 2.Fassung des Abenteuerlichen Herzen und besonders mit der parabolischen Erzählung Auf den Marmor-Klippen, hatte Ernst Jünger selbst in den 1930er Jahren bereits einen gewissen Abstand von der eigenen Arbeiter-Typus-Vision und ihrem systemischen Funktionalismus der „organischen Konstruktion“ genommen. Jüngers Revision ist vornehmlich eine indirekte, die einem willentlichen Absehen davon gleichkommt. In Maxima-Minima. Adnoten zum ‚Arbeiter’ kommentiert er 1964 lakonisch diesen Einstellungswechsel seiner Optik: „Im kosmischen Haushalt geht nichts verloren; nur Perspektiven werden unwichtig.“[71] Anders gesagt, Jünger hat die planetarische Perspektive auf den „Typus des Arbeiters“ mitsamt seiner „Revolution sans phrase“ gegen eine kosmologische Perspektive vertauscht, deren größere Fernsicht noch die erstere Perspektive zu überbieten vermag. Diesen Einstellungswechsel seiner Optik, das soll zuletzt nochmals betont werden, kann man bereits in den 1930er Jahren ansetzen: Er verstellt den Fokus der seit der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens eingeübten Fernsicht von der stereoskopischen Gestaltschau des Arbeiters auf die „Bedeutsamkeit“[72] des eigenen Erlebens und Erfahrens in der „inneren Emigration“. Schon im Herbst 1933 hat Ernst Jünger mit Frau und Sohn die Hauptstadt Berlin verlassen. Wollte er den eigenen Abstand zum Funktionalismus der Mobilisierung und der Arbeitswelt, seit der Machtergreifung unter nationalsozialistischen Parteizeichen, bewusst nochmals vergrößern? Dachte er, dem nihilistischen Sog der Zwischenkriegszeit durch klare Distanznahme heroischer begegnen zu können? Die Jahre 1939-1944 als Hauptmann im Zweiten Weltkrieg, vornehmlich in Paris, sind auszunehmen, ebenso wohl die planetarischen Reiseaktivitäten, vor allem in den späteren Jahren. Ansonsten aber ist Ernst Jünger seit 1933 konsequent auf provinzielle Rückzugsposten in der geistigen Etappe ausgewichen: zuerst Goslar, dann Überlingen, Kirchhorst, Ravensburg, schließlich Wilflingen. Dem „Nichtmehrteilnehmen“ (Heidegger) entspricht eine progressive Selbststilisierung zum solitär-asketischen Geisteshelden, der die Fernsicht eines anderen „Mann vom Mond“ kosmologisch erweitert hat. Konsequent wird diese Fernsicht nun auf sich selbst und die eigene Arbeit als Autor „im kosmischen Haushalt“ zurückgebogen - auf sich selber als Autor oder vielmehr auf die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen, Erforschungen und Erinnerungen, auf ihre eigentümlichen Gegenstände, aus denen Literatur werden will.
„Ein Jahrhundert hat Jünger Tagebuch und Kalender geführt, bis in die frühen neunziger Jahre. Ein ganzes Leben war er produktiv. Ein unermüdlicher literarischer Arbeiter.“[73]
1932 hatte Ernst Jünger die „planetarische Herrschaft“ des Arbeiter-Typus als Ende der bürgerlichen Welt und Geschichte ausgerufen. Seine „organische Konstruktion“ im „kentaurischen“ Bund von Mensch und Maschinentechnik findet ihren Meister in jenem „unermüdlichen literarischen Arbeiter“, auf den ja schon die –literarische – Existenz dieses Arbeiter-Typus zurückgeht. Der Autor ist der letzte Souverän, dessen handschriftliche (nicht maschinenschriftliche!) Text-Arbeit „am Abgrund“ Leben und Literatur nach dem Modell fortlaufender Tagebuch-Überarbeitungen „verschlingt“, d.h. sowohl in vielfältiger Weise miteinander verbindet als auch sich selber mit großem Appetit einverleibt. Das stereoskopische Sehen jenes „zweiten, feineren und unpersönlichen Bewusstseins“, von dessen Fernsicht schon das Abenteuerliche Herz 1929 zu berichten wusste, konkretisiert sich als spezifische Methode in der ausdauernden Suche nach „Bedeutsamkeit“: Durch anarchisches Sammeln, Präparieren und Ordnen von Gegenständen und Andenken, Erlebnissen und Gedanken hat Jünger sein Archiv des „schönen Schreckens“ schließlich ins 21.Jahrhundert hinübergerettet. Blumenberg kann hier ein letztes Mal als Zeuge der „Arbeit am Mythos“ gehört werden: „Bedeutsamkeit als Abwehr von Indifferenz, zumal der in Raum und Zeit, wird Widerstand gegen die Inklination auf Zustände höherer Wahrscheinlichkeit, der Diffusion, der Erosion, der Entropie.“[74]
Anmerkungen:
[1] Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 1997 (zuerst 1940), S.86.
[2] Ernst Jünger: Maxima – Minima. Adnoten zum „Arbeiter“, in: Sämtliche Werke, Bd.8, Essays II, Stuttgart 1981, S.322.
[3] Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, in: SW 8, S.9-317 (= A, Seitenzahl im Text) .
[4] Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2009, S.385.
[5] Steffen Martus: Ernst Jünger, Stuttgart, Weimar 2001, S.88.
[6] Manfred Schneider: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München, Wien 1997, S.216.
[7] Benjamin Bühler: Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg 2004, S.290.
[8] Vgl. Klaus Gauger: Krieger, Arbeiter, Waldgänger, Anarch. Das kriegerische Frühwerk Ernst Jüngers, Frankfurt am Main, Berlin, Bern 1997.
[9] Peter Trawny: Die Autorität des Zeugen. Ernst Jüngers politisches Werk, Berlin 2009, S.142.
[10] Vgl. Thomas Pekar: „Organische Konstruktion“ – Ernst Jüngers Idee einer Symbiose von Mensch und Maschine, in: Titan Technik. Ernst und Georg Friedrich Jünger über das
technische Zeitalter, hg.v. Friedrich Strack, Würzburg 2000, S.99-117.
[11] Vgl. Heike Gfereis u.a.: Die Ausstellung, in: Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund. Marbacher Katalog 64, Marbach am Neckar 2010, S.103-219, dort S.105.
[12] Vgl. Sven Olaf Berggötz: Ernst Jünger und die Politik, in: Ernst Jünger: Politische Publizistik 1919-1933, hg.v. S.O.Berggötz, Stuttgart 2001, S.834-869.
[13] Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und bei Nacht, in: SW 9, S.86ff. –Vgl. ebenso: Ernst Jünger: Sizilischer Brief an den Mann im Mond, in: SW 9, S. 9-22.
[14] Josef Fürnkäs: Ernst Jüngers „Abenteuerliches Herz. Erste Fassung“(1929) im Kontext des europäischen Surrealismus, in: Ernst Jünger im 20.Jahrhundert, hg. v. Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg, München 1995, S.59-76, dort S.59.
[15] Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994, S.187-202.
[16] Trawny, Die Autorität des Zeugen, S.12.
[17] Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1983 (zuerst: München, Wien 1978), S.77.
[18] Jünger: Über den Schmerz, in: SW 7, S.189ff.
[19] Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S.401-481.
[20] Stephan Schlak: Ernst Jünger im Archiv gelesen. Sechs Stereoskopien, in: Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund, S.45.
[21] Ebd., S.49.
[22] Ebd.
[23] Carl von Ossietzky, Der Jünger, in: Die Weltbühne, 28.Jahrgang, 18.10.1932, S.577.
[24] Siegfried Kracauer, Gestaltschau oder Politik? In: Schriften, Bd. 5,3: Aufsätze 1932-1965, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt am Main 1990, S.122.
[25] Thilo von Trotha: Das endlose dialektische Gespräch, in: Völkischer Beobachter, 22.10.1932. Der Titel der Rezension parodiert im Zitat Jünger selbst, der geschrieben hatte: „...das endlose dialektische Gespräch, das im Nihilismus endet, indem alles zur Ausflucht wird.“ (A, 242). Vgl. das Kapitel „Die nationalsozialistische Arbeiter-Lektüre“ in: Trawny, Die Autorität des Zeugen, S.120-128. Bei Trawny finden sich auch Angaben zu weiteren Rezensionen des Arbeiters zwischen 1932 bis 1934, aus der Feder von so unterschiedlichen Autoren wie Hans Bogner, Richard Bie, Friedrich Muckermann, Ernst Niekisch, Wilhelm von Schramm, Richard Behrendt, Max Hildebert Boehm, Albert Erich Günther, Kurt Heuser, Alfred Kantorowicz, Georg Schulz, Friedrich Franz von Unruh oder Golo Mann. (Ebd., S.205f.)
[26] Zweifellos haben diverse Gestalttheorien, wohl auch die sogenannte Berliner Schule (Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Max Wertheimer) auf Jünger eingewirkt. Vgl. zur Geschichte des Gestaltbegriffs und seiner ästhetischen und kulturtheoretischen Bedeutung: Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln u.a. 2001; ebenso: Mitchell G. Ash: Gestalt Psychology in German Culture 1890-1967, Cambridge Mass. 1995.
[27] Martus, Ernst Jünger, S.84.
[28] Vgl. SW 9, S.9-22, S.33-36, S.82-93, S.196-199.
[29] Vgl. Martus, Ernst Jünger, S.90-94. Dieser eher positiven Einschätzung geht als negative etwa voraus: Uwe Ketelsen: Ernst Jüngers Der Arbeiter – Ein faschistisches Modernitätskonzept, in: Kultur. Bestimmungen im 20.Jahrhundert, hg.v. Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer, Frankfurt am Main 1990, S.219-254.
[30] Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 2002, S.16ff., S.98ff. (Originalausgabe: The Human Condition, Chicago 1958, erste deutsche Ausgabe: München 1967)
[31] Vgl. ebd., S.375-399.
[32] Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, in: SW 9, S.116f.
[33] Jünger, Die Totale Mobilmachung, in: SW 7, S.119-142.
[34] Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, in: SW 9, S.33.
[35] Ebd., S.90. Vgl. ebenso: Ernst Jünger: Sizilischer Brief an den Mann im Mond, in: SW 9, S.9-22.
[36] Vgl. Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt am Main 2003.
[37] Stefan Rieger: Organische Konstruktionen. Von der Künstlichkeit des Körpers zur Natürlichkeit der Medien, in: McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21.Jahrhundert, hg.v. Derrick de Kerckhove, Martina Leeker, Kerstin Schmidt, Bielefeld 2008, S.252-269, dort S.256.
[38] Hans Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik. Aus dem Nachlaß hg.v. Alexander Schmitz u. Bernd Stiegler, Frankfurt am Main 2009, S.84f.
[39] So lautet der Titel eines Zeitschriftenartikels von Kurt Tucholsky (unter dem Pseudonym „Peter Panter“, in: Uhu, Nr.2, November 1926, S.75). Es handelt sich dabei um die Übersetzung eines damals bekannten englischen bzw. amerikanischen Werbespruchs: „One Look is Worth a Thousand Words“.
[40] Vgl. Michel Pastoureau: Bestiaires du Moyen Âge, Paris 2011, S.46f.
[41] Ulrich Raulff: Das Ende des kentaurischen Pakts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.100, 28.April 2012, Z 1f.
[42] Ebd.
[43] Hans Blumenberg: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, hg. v. Alexander .Schmitz und Marcel Lepper, Frankfurt am Main 2007, S.31.
[44] Ebd., S.32f.
[45] Ebd., S.33.
[46] Ebd., S.32
[47] Ernst Jünger: Gläserne Bienen, in: SW 15, S.421-559.
[48] Ebd., S.454 u. 456.
[49] Ebd., S.555. Vgl. Harro Segeberg: Ernst Jüngers „Gläserne Bienen“ als „Frage nach der Technik“, in: Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, S.211-224.
[50] Ernst Jünger: An der Zeitmauer, in: SW 8, S.397-645.
[51] Arendt, Vita activa, S.412.
[52] Max Bense: Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine, in: Ausgewählte Schriften in vier Bänden, Bd.2: Philosophie der Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, hg.v. Elisabeth Walther, Stuttgart, Weimar 1998, S.436.
[53] Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, S.7.
[54] Ebd., S.24.
[55] Ebd., S.31.
[56] Vgl. Martin Heidegger: Zu Ernst Jünger. Gesamtausgabe Bd.90, hg.v. Peter Trawny, Frankfurt am Main 2004.
[57] Heidegger, Die Frage der Technik, S.22.
[58] Martin Heidegger: Zur Seinsfrage, in: Ernst Jünger – Martin Heidegger, Briefe 1949-1975, hg. v. Günter Figal, Stuttgart 2008, S.155.- Auch in: Martin Heidegger: Wegmarken (1919-1961), 3.Aufl., Frankfurt am Main 2004, S.385-426.
[59] Ebd., S.159f.
[60] Ernst Jünger: Über die Linie, in: SW 7, S.269.
[61] Heidegger, Zur Seinsfrage, S.151.
[62] Ebd., S.159.
[63] Ebd., S.151.
[64] Ebd., S.151f.
[65] Ebd., S.157.
[66] Ebd., S.178.
[67] Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, in: Sämtliche Schriften, Bd.4, Stuttgart 1988, S.547 (Anhang).- In den Ausgaben nach 1945 hat Löwith seine Ausführungen über Ernst Jünger ersatzlos gestrichen, die in der Erstausgabe von 1940 noch als zehntes Unterkapitel nach dem Teil über Nietzsche (S.331ff) gestanden hatten.
[68] Ebd., S.549.
[69] Ebd., S.553f.
[70] Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S.423ff.- Der Frage nach Jüngers Verhältnis zum Nationalsozialismus und zu seinen Machthabern kann hier nicht weiter nachgegangen werden.
[71] SW 8, S.334.
[72] Vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, S.68-126.
[73] Schlak: Ernst Jünger im Archiv gelesen, S.30f.
[74] Blumenberg: Arbeit am Mythos, S.124.