Benjamins Baudelaire: Erlebnis als Erfahrung
Benjamins lebenslange Beschäftigung mit Baudelaire hat zwischen der jugendbewegten Studentenzeit und dem Tod im französischen Exil vielfältige Spuren hinterlassen.(1) Ihr problemgeschichtlicher Ursprung ist indes im Strudel der lebensphilosophischen Aufwertungen des individuellen Erlebnisses von Dilthey und Bergson bis Klages und Jung zu fassen: Unter Berufung auf Dichtung, Kunst, Intuition, Natur und/oder ein mythisches Zeitalter wurde seit dem Ende des 19.Jahrhunderts versucht, „der wahren Erfahrung im Gegensatze zu einer Erfahrung sich zu bemächtigen, welche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Massen niederschlägt“ (I/2, S.608). "Erlebnis" ist keine Denkkategorie des deutschen Idealismus, sondern ein nachhegelscher Begriff, dem die ästhetische Opposition zu Naturwissenschaft, Industrie und Massenzeitalter eingeschrieben ist. Durch die lebensphilosophisch beschworene Pseudo-Aura des exklusiven, vermeintlich Zeit und Raum überwindenden Erlebens des ausgezeichneten Individuums hindurch spürt Benjamins geschichtsphilosophisches Problembewußtsein im "Erlebnis" gerade das dem Massenzeitalter gemäße, durch das technisierte Nachrichten- und Kommunikationswesen geschaffene Zersetzungsprodukt von Erfahrung auf: „Die Phantasmagorie ist das intentionale Korrelat des Erlebnisses.“ (V/2, S.966) Angesichts der fortschreitenden Industrialisierung von Raum und Zeit im 19.Jahrhundert zielt das Erlebnis als phantasmagorisches „Fernsehen“ in der nächsten Nähe des Privaten darauf ab, Nähe und Ferne, die der wissenschaftliche Fakten-Positivismus von Geschichte und Geographie kaum mehr zur Alltagserfahrung hin vermitteln kann, von Fall zu Fall in einem eigentümlichen, pseudo-auratischen Gespinst zu versöhnen. Durch die individuelle Fokussierung der kollektiven Wunschenergien, die sich seit dem 19.Jahrhundert gerade in Abenteuer- und Liebestraum verpuppten, stellt es dem einsamen Bürger eine innere Guckkastenbühne bereit: Versorgt mit geschönten Bildern von der Welt kann er der aus Angst geborenen Neigung frönen, sich im gemütlichen Interieur der privaten Wände gegen das feindliche und anonyme Außen der großstädtischen Massen abzuschließen. Das Erlebnis fungiert als kurzweilige Sensation des vom „ennui“ geplagten Müßiggängers, wird zur Obsession des auf psychische Entlastung hoffenden Einzelmenschen, der im Wiederholungszwang immer wieder neuer Erlebnisse je schon um authentische Erfahrung betrogen scheint. Am Nullpunkt der Erfahrung kritisiert Benjamin das Erlebnis als dessen modernen Usurpator, indem er bei Charles Baudelaire die Rettung seiner extremsten Form versucht: Es geht ihm um das „Chockerlebnis“, das der Kunstwerk-Aufsatz im Kontext der „physischen Chockwirkung“ (I/2, S.503) des Films medienästhetisch als „Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption“ (I/2, S.505) deutete.
Der Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire von 1939, den Benjamin als Neufassung des zweiten Teils Der Flaneur des ersten Baudelaire-Aufsatzes Das Paris des Second Empire bei Baudelaire vom Vorjahr konzipierte, stellt die entscheidende Frage, „wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert sein könnte, der das Chockerlebnis zur Norm geworden ist.“ (I/2, S.614) Das „Chockerlebnis“ zerschlägt die Gemütlichkeit des bürgerlichen Interieurs, zerreißt die geborgten Kleider des träumerischen Erlebens, indem es immer wieder neu als nacktes Erlebnis erschreckt. Es löst das vereinzelte Ereignis aus der Kontinuität des Zeitablaufs, verlangt deshalb vom Bewußtsein permanente Geistesgegenwart als erste und letzte Überlebenstugend des Großstadtbewohners. Sein Prototyp ist die Sensation des Coups beim Hasardspiel: Der Wiederholungszwang, der die psychischen Energien bei höchster innerer und äußerer Alarmbereitschaft hält, das Verpuffen und die Folgenlosigkeit des persönlichen Einsatzes, schließlich „das Immer-wieder-von-vorn-anfangen“ (I/2, S.636) bestimmen sein höllisches, weil schlecht unendliches Zeit-Erleben, dem alle bestimmten Inhalte und Qualitäten der Erfahrung gleichgültig geworden sind. „Die Mode ist die ewige Wiederkehr des Neuen.“ (I/2, S.677) Erlösung vom Bann des Immergleichen verspricht nur das Neue, welches als das immer wieder Neue im Spiel der wechselnden Moden doch gerade den Bann perpetuiert. „Spleen“ und Satanismus Baudelaires finden in dem auf diese aporetische Spitze getriebenen Zeitbewußtsein der Moderne ihre erfahrungstheoretische Begründung. Benjamin sieht die einzigartige Bedeutung Baudelaires darin, „als erster und am unbeirrbarsten die Produktivkraft des sich selbst entfremdeten Menschen im doppelten Sinne des Wortes dingfest gemacht - agnosziert und durch Verdinglichung gesteigert - zu haben“ (Br VI, S.66). Im leibhaften Kampf des Spielers gegen die Sekunde tritt das „Chockerlebnis“ mit seiner ganzen dämonischen Macht in Erscheinung: „Der dem spleen Verfallene, der von der Faszination durch den leeren Zeitverlauf nicht loskommt, ist ein Zwillingsbruder des Spielers.“ (I/3, S.1187) Benjamin begreift Baudelaires lyrisches Erlebnis der Großstadt Paris - seinen „spleen de Paris“ - als authentisch moderne, d.h. ganz bewußt fragmentarische und heillos defiziente Erfahrung:
„So ist das Erlebnis beschaffen, dem Baudelaire das Gewicht einer Erfahrung gegeben hat. Er hat den Preis bezeichnet, um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis. Das Einverständnis mit dieser Zertrümmerung ist ihn teuer zu stehen gekommen. Es ist aber das Gesetz seiner Poesie.“ (I/2, S.652 f.)
Unter dem Titel Perte d’auréole hat Baudelaire selbst einmal sein „Einverständnis“ mit der „Zertrümmerung der Aura“ im allegorischen Bild vom Dichter auf der Straße ausgedrückt: Nicht zufällig leitet Benjamin den Schluß seines Aufsatzes Über einige Motive bei Baudelaire mit dem vollständigen Zitat dieses „petit poème en prose“ aus der fragmentarischen Sammlung Le Spleen de Paris ein, die Baudelaire als Komplement zur Gedichtsammlung Les Fleurs du mal projektiert hatte. Der „Verlust einer Aureole“ (I/2, S.651) erscheint als Emblem des Verfalls der autonomen Kunst und Literatur, das die romantische Idee der Kunstreligion verabschiedet. Der Dichter, der die Aureole in der Gosse verloren hat, sagt dem schönen Schein und der sozialen Würde ab, um sich inkognito unter die großstädtische Masse zu mischen: „Et puis, me suis-je dit, à quelque chose malheur est bon. Je puis maintenant me promener incognito, faire des actions basses, et me livrer à la crapule, comme les simples mortels.“ (2) Als literarisches Muster kann Poes Titelfigur aus der Erzählung The Man of the Crowd gelten: Auch der moderne Dichter Baudelaire, der sich gleich den gewöhnlichen Sterblichen der Großstadt dem „Chockerlebnis“ auf der Straße aussetzt, ist, nolens volens mit dem Sekundenbewußtsein des Spielers ausgestattet, kein Flaneur mehr: „Ihm ist der Schein einer in sich bewegten, in sich beseelten Menge, in den der Flaneur vergafft war, ausgegangen.“ (I/2, S.652) Für Benjamin besteht bei diesem allegorisch ausgelegten Endspiel kein Zweifel, daß Baudelaire zuletzt mit dem „ohnmächtigen Zorne“ des Ausgestoßenen „gegen die Menge“ angeht. Weder Sozialromantik noch Pariser Bohème-Ästhetizismus taugen zur Ausstaffierung der authentischen Erfahrung, die der depossedierte Dichter nach dem Verlust der Aureole inkognito auf der Straße macht: „perdu dans ce vilain monde, coudoyé par les foules“ (I/2, S.652).
Gleichwohl ist die fundamentale Opposition von „Aura“ an und für sich und „Verfall“ bzw. „Zertrümmerung der Aura“ bei Baudelaire weniger an der semantischen Oberfläche als vielmehr in der poetologischen Tiefenstruktur seiner Lyrik aufzufinden. „Baudelaires spleen ist das Leiden am Verfall der Aura.“ (V/1, S.433) Schon die Zerrissenheit Baudelaires - einerseits „Leiden am Verfall der Aura“, andererseits „Einverständnis“ mit ihrer „Zertrümmerung“ - weist darauf hin, daß diese fundamentale Opposition in die Symptomatik anderer „Motive“ hineinwirkt, welche die Kompromißbildung des antithetischen Gegensatzpaares seriell reproduzieren. Solche Homologien und Strukturanalogien sind Benjamin als unbewußte Effekte des „urgeschichtlichen“ Wiederholungszwanges der Moderne nicht entgangen. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus (I/2, S.509) sollte der Untertitel des seit 1937 als „Miniaturmodell“ (Br VI, S.64) des Passagen-Werks geplanten Buches über Baudelaire lauten. Es sollte weniger ästhetische und historische Urteile beinhalten als vielmehr Baudelaire zeigen, „wie er ins neunzehnte Jahrhundert eingebettet liegt“ (Br VI, S.67). Diese Absicht sollte nicht selbst schon auf ein auratisches Werk hinauslaufen; wohl aber intendierte das geplante Buch, genau an der durch Baudelaire markierten Stelle im 19.Jahrhundert die Frage nach der „Aura“ und ihrer „Zertrümmerung“ wiederaufzunehmen: „Der Abdruck, den er darin hinterlassen hat, muß so klar und so unberührt hervortreten, wie der eines Steins, den man, nachdem er jahrzehntelang an seinem Platz geruht hat, eines Tages von der Stelle wälzt.“ (Br VI, S.67; V/1, S.405) Diesen „Abdruck“ will der Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire gezielt aus einer Reihe von symptomatischen „Motiven“ gewinnen, die in sich selbst die Spuren der einstigen Abwehrkonflikte tragen, aus denen sie als widerstandsfähige Kompromißbildungen zwischen verdrängten und verdrängenden Kräften hervorgegangen sind. Als heroische Aufgabe des Dichters im 19.Jahrhundert erscheint bei Baudelaire, „der Moderne Gestalt zu geben“ (Br VI, S.66). Deshalb kann Benjamins motivische Spurenlese unterstellen: „Sein Werk läßt sich nicht nur als ein geschichtliches bestimmen, wie jedes andere, sondern es wollte und es verstand sich so.“ (I/2, S.615) Mit Hilfe der „modernen“ Gegensatzpaare von „Chockerlebnis“ und „Erfahrung im strikten Sinn“ (I/2, S.611), von Bewußtsein und Gedächtnis, „spleen“ und „idéal“, „allégorie“ und „correspondances“, abstrakte Zeit und erfüllte Zeit vermißt Benjamin die archäologische Fundstelle, an der Baudelaire im 19.Jahrhundert seinen „Abdruck“ hinterlassen hat, um dort die Bruchstücke der „Aura“ nach ihrer „Zertrümmerung“ einzusammeln. (3)
Benjamins Archäologie der Erfahrung und der Aura zieht metapsychologische Überlegungen zur Antithese von zersetzendem Bewußtsein und konservierendem Gedächtnis heran, die Freud 1920 in Jenseits des Lustprinzips zum komplexen Verhältnis von „Ich“ und „Es“ anstellte. Diese bedeutende Schrift Freuds hat Benjamin zugleich als unfreiwilligen wie trefflichen Kommentar zu Marcel Prousts Erinnerungsästhetik und ihrer entscheidenden Differenzierung zwischen „mémoire involontaire“ und „mémoire volontaire“, zwischen „unwillkürlichem Eingedenken“ und bewußter Erinnerung gelesen. Wenn Benjamin die einmalige Qualität der unzeitgemäßen Bilder, die in Prousts Romanwerk der Recherche du temps perdu aus der „mémoire involontaire“ auftauchen, darin sieht, „daß sie eine Aura haben“ (I/2, S.646), so kann er mit Hilfe von Freuds Überlegungen doch den Grund des Rätsels angeben: Damit das unwillkürliche Eingedenken mit dem längst vergessenen, sinnlichen Eindruck die verlorene Zeit in einem Nu wiederfinden kann, ist unerläßliche Voraussetzung, daß diese Erinnerungsreste des Gedächtnisses vorher nie noch Gegenstand des Bewußtseins bzw. der Registratur der „mémoire volontaire“ gewesen sind. Mit Blick auf die extremen Leistungen von Baudelaire und Proust für eine Theorie der geschichtlichen Erfahrung erscheinen Benjamin Freuds Überlegungen geeignet, die Funktionsweise von Bewußtsein und Gedächtnis in der großstädtischen Lebenskultur der Moderne zu erhellen. Das erklärte Ziel von Freuds Schrift war ja, die für die Psychoanalyse fundamentale Annahme eines „Wiederholungszwanges“ zu rechtfertigen, in dem zugleich „Todestriebe“ (4) wirksam sind. Im offenen Widerspruch zur humanistischen und idealistischen Philosophie bestimmt Freud das Bewußtsein als bloßes Wahrnehmungsbewußtsein, das an der umhüllenden Oberfläche der Psyche sowohl die „Erregungen“ durch die Außenwelt als auch die von innen kommenden „Empfindungen von Lust und Unlust“ (5) zu überwachen hat. Komplementär im Kontrast zur „Reizaufnahme“ sieht Freud aber die primäre Funktion dieses „Systems W-Bw“ darin, daß es als „Reizschutz“ auftritt, um den empfindlichen Binnenhaushalt der psychischen Energien „vor dem gleichmachenden, also zerstörenden Einfluß der übergroßen, draußen arbeitenden Energien zu bewahren“ (6). Die psychoanalytische Theorie kann deshalb das traumatische Schockerlebnis „aus der Durchbrechung des Reizschutzes“ verstehen und den „Schrecken“ aus dem „Fehlen der Angstbereitschaft“ (7), die zum „Reizschutz“ des Bewußtseins gehört. In einem vergangenen Versäumnis von Angstentwicklung sucht Freud die Ursachen der traumatischen Neurose. So können ihm Träume und Erinnerungen, welche die durch den Ausfall der Schockabwehr des Bewußtseins verschuldeten, früheren Katastrophen reproduzieren, als vom „Wiederholungszwang“ gesteuerte Versuche einsichtig werden, durch „hohe Energiebesetzungen“ genau „in der Umgebung der Einbruchstelle“, durch eine punktuelle, die anderen psychischen Leistungen lähmende, „großartige Gegenbesetzung“ also, „die Reizbewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen“ (8). Die für das „System W-Bw“ fundamentale Annahme, „das Bewußtsein entstehe an der Stelle der Erinnerungsspur“, und die daraus abgeleitete Hypothese, „daß Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind“, lassen Freud die Besonderheit des Bewußtseins darin erkennen, daß der Erregungsvorgang in ihm anders als im unbewußten Gedächtnis „gleichsam im Phänomen des Bewußtwerdens verpufft“ (9).
Der Zwang zur Selbsterhaltung der Psyche hat ein gedächnisloses Bewußtsein als schützende Rinde über dem „Wunderblock“ des bewußtlosen Gedächtnisses aufgeworfen. Um die apperzeptive Doppelfunktion des „Reizschutzes“ und der kontrollierten „Reizaufnahme“ optimal zu erfüllen, muß es - wie Nietzsche gegen den Historismus schon forderte - gerade Vergangenes vergessen können. Das menschliche Bewußtsein hat sich nach Freud im Laufe der Phylogenese zum Wächter entwickelt, der an der Grenze zwischen Innen und Außen Zersetzungs- und Destruktionsarbeit leistet, um das energetische Gleichgewicht der letztlich mehr auf Entspannung, Ruhe und Tod denn auf Lustgewinn fixierten Psyche zu schützen. Was Freud im spekulativen Blick auf Phylogenese und Ontogenese als Bestimmung des „Systems W-Bw“ festhält, nimmt Benjamin zugespitzt für Baudelaires hypertrophes Sekundenbewußtsein des Großstadtlyrikers in Anspruch: „Der spleen ist das Gefühl, das der Katastrophe in Permanenz entspricht.“ (I/2, S.660) Die dem „spleen“ eigentümliche Leistung der „Chockabwehr“ sieht Benjamin darin: „dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewußtsein anzuweisen“ (I/2, S.615). Diese „Spitzenleistung der Reflexion“ (I/2, S.615) ist in der Reizüberflutung der Großstadt aber nur durch ständige „Angstbereitschaft“ im Verein mit der andauernden „Überbesetzung“ des „Systems W-Bw“ möglich. Zur Wahrnehmung dieser Abwehraufgaben bindet es ein Maximum an psychischer Energie, deren Konzentration wiederum die anderen psychischen Systeme und menschlichen Vermögen, z.B. das mimetische Vermögen und „den Spielraum der Phantasie“ (I/2, S.645), verkümmern läßt. Der im Laufe der Gattungsgeschichte zur Regierung gelangte „destruktive Charakter“ des Bewußtseins wirft sich im „spleen“ und seinen „Chockerlebnissen“ zum despotischen Alleinherrscher auf: „l’appareil sanglant de la Destruction“ (10), dem in Baudelaires Sonett La Destruction der Fleurs du mal auch das letzte, die Gedichtform selbst sprengende Wort bzw. die letzte Zeile zukommt.
Gegen die pseudo-auratische Erwartung des Publikums, das beim großen Dichter nach Maßgabe von Lamartine, Hugo oder Musset auf ganzheitliche und lebendige Erfahrung hofft, setzt Baudelaires Lyrik „die Emanzipation von Erlebnissen“ (I/2, S.615). Benjamin hat gesehen, daß diese „Emanzipation“ sich der Negativität und bewußten Destruktionsarbeit des „spleen de Paris“ verdankt. Sein Werk der Zerstückelung und Zerstreuung der lyrischen Innerlichkeit reinigt die romantische Atmosphäre und gibt den Blick auf die nächste Nähe frei, wo er das Gegebene je auf seine Zerstörungswürdigkeit prüft. Bedrohung und Faszination, Angst und Lust begleiten die Diffusion des lyrischen Ich, das seine Individuationsgrenzen sprengt, indem es sich in den labyrinthischen Kollektivraum der Großstadt Paris hinausprojiziert. Die erstrebte „Emanzipation von Erlebnissen“ scheint nur möglich, wo auch den Erlebnissen der Anschluß an Restbestände von Tradition und kollektiver Vergangenheit gelingt: „Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion.“ (I/2, S.611) Die antithetische Tiefenstruktur von Baudelaires Lyrik veranlaßt Benjamin, nicht nur Freuds metapsychologischer Differenzierung zwischen gedächtnislosem Bewußtsein und bewußtlosem Gedächtnis, sondern auch Prousts Trennung von willkürlicher Erinnerung und unwillkürlichem Eingedenken gegenseitige Ausschließlichkeit abzusprechen. Die Erlebnisse, denen Baudelaire „das Gewicht einer Erfahrung“ geben kann, sind aus der antithetischen Konstellation von „spleen“ und „idéal“ hervorgegangen: „Das idéal spendet die Kraft des Eingedenkens; der spleen bietet den Schwarm der Sekunden dagegen auf.“ (I/2, S.641) Aus dem Spannungsverhältnis, in dem dabei „eine aufs höchste gesteigerte Sensitivität zu einer aufs höchste konzentrierten Kontemplation steht“ (I/2, S.674), sieht Benjamin mitten im 19.Jahrhundert die einzigartige Lyrik Baudelaires hervortreten. Sie hat „im Verfall der Aura eins ihrer Hauptmotive“ (I/3, S.1187), wie Benjamins Resümee von Über einige Motive bei Baudelaire bündig befindet. Les Fleurs du mal erscheinen als der aus großstädtischer Einsamkeit geborene Kompensationsversuch für den Verlust von kollektiv gesicherter Erfahrung und Tradition, der zugleich den lyrischen Kompromiß zwischen Antike und Moderne, zwischen Vergangenheit und Gegenwart sucht. „Paris change! Mais rien dans ma mélancolie n’a bougé!“ (11) Das Gedicht Le Cygne bezeichnet mit dem „Schwanengesang“ den melancholischen Grundton, der die Ambiguität der lyrischen Kompromißbildungen Aug’ in Aug’ mit dem zerstörenden Fortschritt verrät. Das „Chockerlebnis“ und seine „Sensation der Moderne“ macht im „spleen“ die bewußte „Zertrümmerung der Aura“ einerseits zum Probierstein authentischer Erfahrung, als deren „idéal“ andererseits aber die vom zivilisatorischen Fortschritt zerstörten, gemeinschaftlichen „Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen“ (I/2, S.611) erscheinen.
Die Bestimmung der Aura im Zeitalter ihres „Verfalls“ und ihrer „Zertrümmerung“ ist Benjamin bei Baudelaire wohl am prägnantesten anhand der antithetischen Symptomatik der „Motive“ von „spleen“ und „idéal“ gelungen. Auf der Ebene formtheoretischer Reflexion entspricht dieser antithetischen Symptomatik der Erfahrungstheorie das prekäre Zusammenspiel der „Lehre von den correspondances“ und der „Lehre von der Allegorie“ (I/2, S.674). Deren Darstellung ist jedoch nur in den Zentralpark betitelten theoretischen Fragmenten zu finden, die Benjamin als aphoristisches Ideenparadies zu den ungeschriebenen Teilen seines geplanten Baudelaire-Buches hinterließ: zum ersten Teil Baudelaire als Allegoriker und zum dritten Teil Die Ware als poetischer Gegenstand (I/3, S.1216-1218). Benjamins „Urgeschichte“ der Moderne wählt gerade die Allegorie zum ästhetischen Formmodell, weil sie als „Andenken“ an der Schwelle zur industriellen Massenkultur noch vermag, an „Erfahrung im strikten Sinn“ zu erinnern. Gewiß kann Baudelaires allegorisches „Andenken“ im Zeitalter der Weltausstellungen, die den Tauschwert der Waren verklären, nur durch die Annäherung an fortgeschrittene Warenästhetik und Ausstellungskunst statthaben: „Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware.“ (V/1, S.50). Diese Annäherung an die moderne Warenwelt ist aber entsprechend der allegorischen Zweideutigkeit zugleich eine Entfernung von ihr: Die Allegorie sagt etwas direkt, um damit zugleich etwas anderes indirekt zu bedeuten. Die „Lehre von der Allegorie“ erlaubt so der lyrischen Ausstellungskunst Baudelaires, die gegenseitige Ausschließlichkeit von „allégorie“ und „correspondances“ durch zweideutige Allegorien zu überwinden. Das allegorische „Andenken“ erinnert indirekt an „Erfahrung im strikten Sinn“, auch wenn sie Benjamin, wie die Symptomatik des „idéal“ in der Zuordnung zum Gedächtnis und in der gleichzeitigen Antithese zum Bewußtsein im Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire zeigt, zuerst im Bereich der auratischen „correspondances“ ansiedelt:
„Die Schlüsselfigur der späten Allegorie ist das Andenken. Das Andenken ist das Schema der Verwandlung der Ware ins Objekt des Sammlers. Die Correspondances sind der Sache nach die unendlich vielfachen Anklänge jeden Andenkens an die andern.“ (I/2, S.689)
Trotz aller Wertschätzung für die Recherche du temps perdu und ihre „Penelopearbeit des Eingedenkens“ (II/1, S.311) kritisiert Benjamin, daß „der restaurative Wille Prousts“ (I/2, S.640) in den Erinnerungsbildern der „mémoire involontaire“ nur noch auf dem autobiographischen Wege einer obsessiven Selbstklausur der auratischen Erfahrung ein Refugium einrichten konnte. Demgegenüber entdeckt er auch beim Allegoriker Baudelaire in den „correspondances“ ein Zusammenspiel von Anklängen, Gerüchen und Farben, wodurch in besonderen Augenblicken einer unvordenklichen Erfahrung gedacht wird, die nicht im Bereich der „vielfältig isolierten Privatperson“ (I/2, S.611), sondern im Kollektivbereich von Kult und Aura beheimatet ist: „Die correspondances sind Data des Eingedenkens. Sie sind keine historischen, sondern Data der Vorgeschichte. Was die festlichen Tage groß und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren Leben.“ (I/2, S.639) Wie das von Synästhesien durchzogene Sonett Correspondances zeigt, hat Baudelaire diese „correspondances“ zunächst im Refugium einer als Tempel idealisierten Natur untergebracht, wo in der paradiesisch glücklichen Atmosphäre allseitiger Reziprozität auch der „von Ferne beschwerte Blick als regard familier“ (I/2, S.649) seine Erwiderung erfährt: „Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.“ (12) Eine krisensichere Heimstatt hat ihnen Baudelaire aber vor allem in der Schattenregion der kollektiven „Vorgeschichte“ eingerichtet. Daß mehr als jedes Bild von Natur „das Bild der Vorwelt“ Baudelaires „Lust am Schönen unstillbar“ (I/2, S.645) machte, dafür liefert Benjamin das Sonett La Vie antérieure Anschauung und Beweis: „vastes portiques“, „grands piliers“, „grottes basaltiques“ (13), die geisterhaft „aus dem warmen Dunst der Tränen, welche Tränen des Heimwehs sind“ (I/2, S.640), auftauchen. Wie im Traum begegnet im Eingedenken die Wahrnehmung vertrautesten Blicken an den Dingen, die sie in räumliche und zeitliche Fernen geleiten. Benjamin kann deshalb zu den auratischen „regards familiers“ notieren: „es sind vor allem die souvenirs, die als familiers auftreten.“ (I/3, S.1140) Kein schärferer Gegensatz scheint denkbar als derjenige, den Benjamin durch den Vergleich der auratischen Bilder des Eingedenkens mit den hier - durchaus anders als in der Kleinen Geschichte der Photographie - als „unmenschlich“ qualifizierten Reproduktionen der frühen Fotografie konstruiert, „da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben“ (I/2, S.646). Das Drastische des Vergleichs und die Pointe des Blick-Motivs stehen deutlich im Dienst der strategischen Absicht, im melancholischen Eingedenken an vergangene Versagungen und in der Beschwörung verschwindender Glücksmomente Baudelaires „Erfahrung der Aura“ gerade im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks und des „Verfalls der Aura“ indirekt als revolutionäres Modell aufzuwerten: Baudelaires authentische „Erfahrung der Aura“ reproduziert als Augenblicks-Erfahrung des „Anderen“ bzw. des „anderen“ Blicks an sich selbst die moderne Form des „Chockerlebnisses“, das gerade für die „Zertrümmerung der Aura“ einsteht. Komplementär im Kontrast zur zwingenden Symptomatik des „Verfalls der Aura“ lassen sich so erfahrungstheoretische Bestimmungen für ihren residualen Fortbestand gewinnen, die ihr Zeitmaß am „Chockerlebnis“ nehmen. Indem Benjamin auf dem glücklichen „anderen“ Augenblick der dialogischen Blickerwiderung insistiert, spricht er dem Ausnahmezustand der „Erfahrung der Aura“ insgesamt bzw. pars pro toto utopische Qualität zu:
„Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl, im Denken, an einen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlichten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. [...] Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“ (I/2, S.646 f.)
In der antithetischen Tiefenstruktur von Baudelaires Lyrik weiß Benjamin den Bogen zwischen der rückwärts gewandten Utopie der „Erfahrung der Aura“ und der modernen Erfahrung ihres „Verfalls“ bzw. ihrer „Zertrümmerung“ bis aufs äußerste gespannt. Die multiplen Momente von Bruch und Verwerfung, Inkohärenz und Aufsplitterung, welche im Gegensatz zur streng konzeptuellen Innenarchitektur (für die auch der Einsatz der Sonettform steht) an der sprachlichen Oberfläche die kaleidoskopische Schauseite von Baudelaires Lyrik bilden, können als Spuren von produktiven, seismischen Schocks entziffert werden, die sich aufgrund der chtonischen Spannung der beiden Erfahrungsextreme entladen haben. Die glücklichen „anderen“ Augenblicke der dialogischen Blickerwiderung, deren Unverfügbarkeit noch ihre begierige Erwartung steigert, bestimmen das „Bild der Vorwelt“, welches bei Baudelaire das der wahren, guten, schönen Natur verdunkelt hat. Benjamin zeigt diese konzeptuelle Verschränkung von Abwesenheit und Anwesenheit anhand der Thematisierung des Blicks in den Fleurs du mal. Durch das Oxymoron der „blicklosen Augen“ (I/2, S.649) trifft Benjamin die spezifische Verkehrung, die Baudelaire der alten Metapher vom Auge als glücklichem Spiegel der Schöpfung hat angedeihen lassen. „Blicklose Augen“ geben weder ein Bild der schönen Natur noch einen offenen Blick des Mitmenschen zurück. Gerade deshalb können sie als Strukturmetapher von Baudelaires Lyrik funktionieren: Augen als Spiegel des „ennui“, in denen sich durch graues Elend hindurch künstliche Seelenlandschaften reflektieren, deren Aufbau dem „Heimweh“ nach der Schattenregion der „Vorwelt“ folgt. Blickerwiderung, soll sie nicht auf die Deskriptionen der Verhaltensforschung reduziert werden, ist mehr als eine „in der menschlichen Gesellschaft geläufige Reaktionsform“. Seit Mystik und Romantik beschreibt sie den sprachlosen Dialog des unmittelbaren, wechselseitigen Einvernehmens zweier Liebender und das Versprechen ihrer kommenden Vereinigung: Sie ist glücklicher Vorschein der erwiderten „Liebe“ und ihrer „unio mystica“, welche eben „mit der Erfahrung der Aura gesättigt ist“ (I/2, S.648). Demgegenüber sieht Benjamin in Baudelaire den Ausgestoßenen, dessen „Auge des Großstadtmenschen mit Sicherungsfunktionen überlastet“ und in der Menge „blicklosen Augen verfallen“ (I/2, S.649) ist:
„Es handelt sich darum, daß die Erwartung, die dem Blick des Menschen entgegendrängt, leer ausgeht. Baudelaire beschreibt Augen, von denen man sagen könnte, daß ihnen das Vermögen zu blicken verloren gegangen ist. [...] Im Banne dieser Augen hat sich der Sexus in Baudelaire vom Eros losgesagt.“ (I/2, S.648)
Symmetrisch zur Introvertiertheit dieser Augen als Spiegel des „ennui“ taugt zum extrovertierten Modell nur die im anonymen wie seelenlosen Tauschgeschäft mit der Hure statthabende Blickerwiderung „des Raubtiers, das nach Beute Ausschau haltend zugleich sich sichert“ (I/2, S.649). Gleichwohl gilt auch für Baudelaire: „Belehnung ist ein Quellpunkt der Poesie“ (I/2, S.647). Entscheidender Unterschied aber bleibt, daß seine Lyrik auf klare Distanz zur romantischen personificatio hält, „wo der Mensch, das Tier oder ein Unbeseeltes, vom Dichter belehnt, seinen Blick aufschlägt“ (I/2, S.647) und das Auge dieses träumenden Dichters in die Ferne zieht. Baudelaire erweckt das „Unbeseelte“ nicht zum Leben, sondern mortifiziert vielmehr zusammen mit dem träumenden Blick des Dichters noch den lebendigen Leib der Kreatur. Die glücklichen Momente der personificatio und der unio mystica in der romantischen Liebesmystik werden durch den „ennui“ und sein graues Großstadtelend verdüstert. Sein tödliches Gift wird der Geliebten bzw. der Hure selbst einverleibt. Die unfruchtbare Frau - Lesbierin oder Hure - muß im Tausch ihren lebendigen Leib leihen, damit der Dichter Baudelaire das moderne Werk der Verdinglichung und Zerstückelung vorantreiben und zum Aufbau seiner künstlichen Paradiese übergehen kann. „Belehnung“ darf deshalb als „Quellpunkt“ seiner Poesie nur unter dem negativen Vorzeichen „einer Art Mimesis des Todes“ (I/2, S.587) gelten. Solche Mimesis erscheint Benjamin dem Zeitalter des warenproduzierenden Kapitalismus angemessen, weil sie nicht mehr an der Natur, sondern an der Künstlichkeit der Ware ihren „poetischen Gegenstand“ par excellence findet. Die „Aureole der Ware“ (Br VI, S.66) besteht ja darin, das Neue am Immergleichen und das Immergleiche am Neuen zur Erscheinung zu bringen, indem das Lebendige je an das anorganische Tote verkuppelt wird: „Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will.“ (V/1, S.51) Anders als die verklärende Ausstellungskunst der zeitgenössischen Weltausstellungen, welche „die Ware auf sentimentale Art zu vermenschlichen“ suchte, zielt Baudelaires Ausstellungskunst einer „Mimesis des Todes“ jedoch darauf ab, „die Ware auf heroische Art zu humanisieren“ (I/2, S.671).
Nur die „anderen“ Augenblicke des Eingedenkens halten Baudelaires Sekundenbewußtsein des „spleen“ im „Bild der Vorwelt“ die Möglichkeit des „idéal“ offen, das imaginierte Glück von Aura und Gemeinschaft als den Ausnahmezustand der Erfüllung eines lange gehegten Wunsches zu erfahren. „Nur was uns anschaut sehen wir. Wir können nur -, wofür wir nichts können.“ (III, S.198) Noch vor Franz Hessel oder Louis Aragon ist Baudelaire der „große Schwellenkundige“ (III, S.197) und deshalb Benjamins Gewährsmann, um Adornos brieflicher Einrede vom 29.2.1940 zum „unausgedachten“ Begriff der Aura zu begegnen. Benjamins Antwort begnügt sich am 7.5.1940 ostentativ mit dem Verdacht, daß es sich (über den Marxschen Fetisch-Begriff hinaus) in der Aura tatsächlich um „ein vergessenes Menschliches“ handeln dürfte, das „nicht notwendig“ - wie sich an Dingen wie „Baum und Strauch, die belehnt werden“, zeigen läßt - „durch die Arbeit gestiftet wird“ (Br VI, S.446). Nicht „Arbeit“, die es auf Naturbeherrschung abgesehen hat, sondern ein experimentelles „Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit“ (VII/1, S.359) erscheint Benjamins geschichtlichem Katastrophenbewußtsein als letzter Ausweg für die Zukunft. „Belehnung“, die nicht nur als „Quellpunkt der Poesie“ (I/2, S.647) sondern auch als Vorschein dieses experimentellen „Zusammenspiels“ gelten kann, liegt insofern der messianischen Erinnerung an die Zukunft zugrunde, als sie zugleich den Rückverweis auf die vergessene integrale Solidarität des Menschen mit Tier und Ding im urgeschichtlichen „Bild der Vorwelt“ enthält. Die „Erfahrung der Aura“, die sich im Augenblick des Eingedenkens an ein in der „Vorgeschichte“ immer schon „vergessenes Menschliches“ einstellt, drängt allerdings teleologisch bzw. unwillkürlich auf das Erwachen und ihre eigene „Zertrümmerung“ hin. Im „Chock“ hat Benjamin das „poetische Prinzip“ (I/2, S.671) bei Baudelaire gesehen. An den „Einbruchsstellen des Erwachens“ (Br V, S.145) kann die „Erfahrung der Aura“ nur als „Chockerlebnis“ auftauchen. Baudelaires „melancholisches Ingenium“ (I/3, S.1151) gibt sich durch die „Zertrümmerung“ des schönen Scheins der abgestorbenen Erfahrung als „ein allegorisches“ (V/1, S.54) zu erkennen. Das Vergessene und Verdrängte, das Vergangene und Verfallene wird ins betrauerte Bruchstück der „Vorwelt“ entstellt: „J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans“ (14). Alles verdient Blick und Aufmerksamkeit, was im Lauf des unaufhaltsamen Fortschrittes, der die Moderne ist, an Ding und Tier und Mensch in die unbewußte Schattenregion des kollektiven Gedächtnisses verdrängt worden ist. Les Fleurs du mal setzen an die Stelle von menschlicher Blickerwiderung und Liebesversprechen den einsamen und bösen Blick des Großstadtdichters, der nicht nur die Monumente der Moderne als Mahnmale der Vergänglichkeit entblößt , sondern am lebendigen Leib „die Rechte der Leiche“ (V/1, S.51) einklagt. Vergänglichkeitsbewußtsein und „Heimweh“ nach der „Vorwelt“ deutet Benjamin als heroische Motivationen Baudelaires, die sich zum ästhetischen Totenkult zusammenfinden. Als letzte Kompromißbildung von „spleen“ und „idéal“ übernimmt der profane Totenkult die in der Moderne von Gott und der kollektiven Tradition verlassene Aufgabe, nicht nur der toten, entrechteten und vergessenen Kreaturen solidarisch zu gedenken, sondern auch die durch die Warenform entwertete und entfremdete Dingwelt bis hinab zu dem aus der Mode gefallenen Abfall ins menschliche „Andenken“ zu retten:
„Car j’ai de chaque chose extrait la quintessence,
Tu m’as donné ta boue et j’en ai fait de l’or.“ (15)
Wie im barocken Trauerspiel sieht Benjamin die facies hippocratica der Geschichte in Baudelaires Lyrik insgeheim auf Rettung ausgerichtet. Während dort aber einer mystischen „ponderación misteriosa“ (I/1, S.408) die theologische Erlösung überlassen bleibt, werden hier dem „destruktiven Charakter“ revolutionärer Umsturz und messianische Verjüngung überantwortet: „Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktualität.“ (I/3, S.1238) Der vergleichende Blick auf Barock und 19.Jahrhundert hat Benjamin die geschichtsphilosophische Vermutung nahe gelegt, „daß Zeitalter, die zu allegorischem Ausdruck neigen, eine Krisis der Aura erfahren haben“ (V/1, S.462). Nicht zufällig sprengt Baudelaires Sonett La Destruction die eigene, strenge Gedichtform, indem es dem „appareil sanglant de la Destruction“ das letzte Wort bzw. die letzte Zeile überläßt. Benjamin hat darin „die rücksichtsloseste Vergegenwärtigung der allegorischen Intention“ (V/1, S.441), an anderer Stelle gar Baudelaires „gewaltigste Beschwörung des allegorischen Ingeniums“ (I/3, S.1147) pro domo et mundo gesehen. Das selber allegorische Bild verweist auf das vom Dämon „ennui“, von Melancholie und Manie heimgesuchte Bewußtsein der „modernité“, dem die Hure als die „Verkörperung der Ware“ und als die „menschgewordene Allegorie“ (I/3, S.1151) zugleich erscheint. Zwischen Bedrohung und Faszination opfert es „zu Füßen der Hure“ das organische Leben für den anorganischen „Hausrat“ (I/2, S.676) bzw. die zerstörenden Werkzeuge der Allegorie auf, weil es durch sein kontemplatives Grübeln im Warten und Erwarten von Heil und Heiligem zum Wissen gelangt ist, daß das authentische Werk der modernen Poesie durch die „Zertrümmerung der Aura“ vollbracht werden will.
Anmerkungen:
1 Benjamins Schriften und Briefe werden im Text zitiert, und zwar nach: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor.W.Adorno u. Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. Frankfurt a. Main 1972-1989; Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hrsg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. 6 Bde. Frankfurt a. Main 1995-2000.
2 Charles Baudelaire: Œuvres complètes I. Hrsg. v. Claude Pichois. Paris 1975, S.352.- Benjamin übersetzt: „Und schließlich, habe ich mir gesagt, zu irgend etwas ist Unglück immer gut. Ich kann mich jetzt inkognito bewegen, schlechte Handlungen begehen und mich gemein machen wie ein gewöhnlicher Sterblicher.“ (I/2, S.651)
3 Vgl. u.a. folgende Gedichte der Fleurs du mal in: Baudelaire: Œuvres complètes I, S.11: Correspondances; S.17 f.: La Vie antérieure; S.21: La Beauté; S.22: L’Idéal; S.72-76: Spleen = 4 Gedichte, Obsession, Le Goût du néant; S.81: L’Horloge; S.83: Le Soleil; S.85-88: Le Cygne, Les Sept Vieillards; S.92 f.: A une passante; S.95 f.: Le Jeu; S.106 f.: Le Vin des chiffonniers; S.111: La Destruction; S.116: Allégorie; S.129-134: Le Voyage I-VII; S.155 f.: Le Léthé; S.158 f.: Les Bijoux.- Vgl. zu Benjamins Baudelaire-Interpretationen vor allem das Kapitel Ein Leser in der Stadt: Der Lyriker Charles Baudelaire in: Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München/Wien 1993, S.697-902.
4 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Das Ich und das Es und andere metapsychologische Schriften. Frankfurt am Main 1978, S.121-169.
5 Ebenda, S.135.
6 Ebenda, S.138.
7 Ebenda, S.141 f.
8 Ebenda, S.140 ff.
9 Ebenda, S.136.
10 Baudelaire: Œuvres complètes I, S.111.
11 Ebenda, S.86.- Vgl. hierzu: Wolfgang Fietkau: Schwanengesang auf 1848. Ein Rendezvous am Louvre: Baudelaire, Marx, Proudhon und Victor Hugo. Reinbek bei Hamburg 1978.
12 Baudelaire: Œuvres complètes I, S.11.
13 Ebenda, S.17 f.
14 Ebenda, S.73: Spleen, 2.Gedicht.
15 Ebenda, S.192: Projet d’un épilogue pour l’édition de 1861 des Fleurs du mal.